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„Deine mentale Barriere ist wie ein Schutz. Ein Schutz vor ungebetenen Gästen wie zum Beispiel mir. Das heißt, du musst versuchen, dein Inneres vor mir zu verbergen, verstehst du? Deine Gedanken, deine Gefühle, einfach alles, was in dir ist. Alles, was du nicht mit anderen teilen möchtest."
Ich nickte und betrachtete Laykins konzentrierten Gesichtsausdruck. Er sah so ernst aus, so, als würde es hier um Leben und Tod gehen. Und um ehrlich zu sein, verstand ich nicht, warum er so angespannt zu sein schien, er sollte mir doch einfach nur etwas beibringen. Hatte dieses Barrieren-Ding eine solch große Bedeutung? Oder hatte sein Zustand vielleicht überhaupt nichts damit zu tun und ich interpretierte viel zu viel in das Ganze hinein?
„Hey!", keifte er und ich schreckte zusammen. Mit aufgerissenen Augen sah ich zu ihm. „Konzentrier dich, Allyra! Das ist wichtig. Sehr wichtig." Tief durchatmend fuhr er sich durch die Haare und lehnte sich in seinem Stuhl, direkt gegenüber von mir, zurück.
Gleich nach dem Frühstück waren wir in mein Zimmer gegangen und hatten uns dann mitten im Raum zwei Stühle platziert. Laut Laykin war es besser, diese Übung an einem Ort zu machen, an dem man sich sicher und wohl fühlte.
„Schließ die Augen und versuch dir vorzustellen, wie du dein Innenleben zusammenknüllst wie ein Stück Papier und dann in einer kleinen Kiste verborgen in die hinterste Ecke deines Bewusstseins packst."
Ich tat, was er sagte und schloss die Augen. Doch dann wurde es auch schon um einiges komplizierter. Wie genau sollte ich das denn anstellen? 'Mein Innenleben zusammenknüllen' ?
Da ich Laykin jedoch auf gar keinen Fall enttäuschen wollte, räusperte ich mich und setzte mich aufrechter hin. Die Augen zusammenkneifend versuchte ich jeden Fetzen an Fantasie heraufzubeschwören, um Laykins Anweisungen folgen zu können. Dann stellte ich mir einen leuchtenden, unförmigen Ball vor, der mein Gefühlsleben darstellen sollte. Meine Angst, mein Misstrauen, meine Hoffnung, mein Glück, meine Scham. Alles befand sich in diesem zusammengeknüllten Etwas. Ich nahm diesen Ball, verstaute ihn in einer alten, staubigen Kiste, die ich mir ausmalte, und stellte sie dann im hintersten Part meines Kopfes ab.
„Ja, gut so. Ich kann sie noch erfassen, deine Gefühle, aber es wird schwerer. Also was auch immer du tust, mach weiter", motivierte mich Laykin und entlockte mir so ein kleines, zufriedenes Lächeln. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell funktionieren würde.
„Oh, wow, es ehrt mich natürlich, dass ein Lob von mir dir so viel Glück bereitet, doch lass dich nicht ablenken. Sobald du die Kontrolle verlierst, kommen deine Gefühle Stück für Stück wieder hervor."
Schlagartig verschwand mein Lächeln. Erneut führte ich den gleichen Vorgang durch. Der Haufen an Gefühlen, die Kiste, das hinterste Eck. Als nächstes tat ich das Gleiche mit meinen Gedanken. Tatsächlich kam es mir dann für einen kurzen Moment so vor, als würde ich an absolut gar nichts denken. Als wäre mein Kopf frei von jeglichen Gedanken, Überlegungen und Sorgen.
Nachdem Laykin mir aufgetragen hatte, das Ganze noch weitere zwanzig Mal durchzuführen, nickte er irgendwann – es musste etwa eine Stunde vergangen sein - und ich glaubte, einen Hauch von Stolz in seinem Blick erkennen zu können.
„Sehr schön, du wirst immer besser. Du solltest in jeder freien Minute üben, hörst du? Bis du nicht mehr darüber nachdenken musst, bis es nichts weiter ist als eine kurze Reaktion, eine Art Reflex. Und bis es dann irgendwann ein Dauerzustand wird, der nur dann gestört wird, wenn du es wirklich willst. Irgendwann wirst du soweit sein, dass weder ich noch sonst jemand in deinem Inneren herumwühlen kann. Es braucht Zeit, aber du wirst es schaffen."
Obwohl es sich so anhörte, als würde er unsere kleine Sitzung beenden wollen, blieb er weiterhin sitzen und rührte sich nicht vom Fleck.
„Morgen Früh üben wir wieder. Auch wenn du weißt, wie du deine Barriere nun Schritt für Schritt verbessern kannst, möchte ich dir helfen, so lange, bis wir beide das Gefühl haben, dass du meine Hilfe nicht mehr brauchst", fügte er schließlich nach einigen Sekunden der Stille noch hinzu. Mir wurde warm ums Herz bei seinen Worten. Es fühlte sich so gut an, zu wissen, dass es jemanden gab, der mich unterstützen wollte. Der mich nicht allein lassen würde.
„Sag mal..." Ich räusperte mich und sah etwas unbeholfen auf den Boden vor mir. „Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten und im Grunde geht es mich auch eigentlich überhaupt nichts an...aber...hat es einen bestimmten Grund, dass du das hier" - ich deutete zwischen mir und ihm hin und her - „nicht machen wolltest? Versteh mich nicht falsch, ich bin dir unfassbar dankbar, dass du es tust, aber ich möchte nicht verantwortlich dafür sein, dass du etwas machen musst, das du nicht machen willst."
Er sah mich an. Und gleichzeitig auch nicht. Es kam mir vor, als würde er in diesem Moment einfach durch mich hindurch schauen. Als wäre er gar nicht da, nicht in diesem Zimmer, nicht neben mir. Sondern ganz woanders.
Und was mich wahrscheinlich am meisten erschütterte, war der Schmerz in seinen Augen. Ein tiefer Schmerz, der sich offensichtlich schon seit einer ganzen Weile eingenistet hatte. Vielleicht erkannte ich ihn so gut, weil ich ihn selber eine lange, lange Zeit verspürt hatte. Und es hin und wieder immer noch tat.
Sofort bereute ich es, dieses Thema angesprochen zu haben.
„Tut mir leid, ich sollte mich nicht-"
„Wenn sie gelacht hat, dachte ich jedes Mal, mein Herz würde jeden Moment zerbersten vor Glück."
Ich stockte. Ich hatte keine Ahnung, von wem er da sprach, doch ich wagte es auch nicht, noch etwas zu sagen. Stattdessen blieb ich still und wartete, bis er sich dazu entschied, fortzufahren.
„Ihr Name war Caira. Sie war so schön, das schönste Wesen, das ich je zu Gesicht bekommen habe." Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. Ich merkte, wie er sich entspannte und sich langsam, aber doch ein friedlicher Ausdruck über sein Gesicht legte. Er sah fast schon verträumt aus.
„Sie war ein Mensch. Und bei Recáhs Güte, sie war so wütend auf mich, als ich erzählte, dass ich in der Lage bin, Gefühle zu beeinflussen. Es hat unheimlich viel Überzeugungskraft gekostet, um sie dazu zu bringen, mir zu glauben, dass ich ihre Gefühlswelt nicht ein einziges Mal auch nur angerührt hatte. Als sie mich angeschrien und mich mit Tränen in den Augen gefragt hat, ob ich sie dazu gebracht hätte, sich in mich zu verlieben – das war der glücklichste Moment meines Lebens, so paradox das auch klingen mag. Denn da wusste ich es, ich wusste, dass ich sie endlich für mich gewonnen hatte." Ich schmunzelte. Ich konnte mir diese Situation überraschend gut vorstellen. Irgendwie passte so etwas einfach zu Laykin.
„Damit sie endgültig ihr Misstrauen verlor, habe ich ihr das Gleiche beigebracht wie dir." Plötzlich wurde seine Stimme tiefer, leiser. Und der verträumte Ausdruck in seinen Augen war schlagartig verschwunden.
„Und ich habe versagt. Denn als es darauf ankam, als sie hätte ihre Barriere aufrecht erhalten müssen, hat sie es nicht geschafft. Und es ist meine Schuld, nicht ihre. Ich hätte mehr mit ihr üben müssen, hätte ihr erklären müssen, dass diese Barriere mehr war, als nur der Beweis dafür, dass ihre Gefühle für mich echt waren."
Ich runzelte die Stirn. „Was ist passiert?"
„Wie auch bei den Menschen gibt es Glyth, die sich nicht an das Gesetz halten, die tun, was sie wollen. Sie sind Abtrünnige, die ausbeuten, morden und ihre Fähigkeiten auf unvorstellbare Weise missbrauchen. Manchmal, heutzutage ist die Zahl der Vorfälle immerhin etwas zurückgegangen, überfallen sie Menschendörfer und gehen dabei ziemlich brutal vor."
Je mehr Laykin erzählte, desto stärker wurde die Vorahnung, die sich in mir gebildet hatte. Und es war eine furchtbare Vorahnung, eine, die ich am liebsten mit einer wegwerfenden Handgeste abgetan hätte.
„Auch Caira wohnte in einem dieser Dörfer. Ich vermute, der Schock und die Angst, die sie überkommen haben, haben sie die Kontrolle über ihre Barriere verlieren lassen. Zudem war Letztere auch mit Sicherheit nicht die Stärkste. Ich habe es ihr zwar nie gesagt, aber wenn ich wirklich gewollt hätte, hätte sogar ich sie durchbrechen können."
„Ist sie- ich meine...ist sie-"
„Ja. Sie ist tot. Ein paar der Überlebenden haben mir später berichtet, sie sei ohne zu zögern an den Rand der Klippe, neben der ihr Dorf lag, gegangen und sei nicht stehengeblieben. Der Abgrund war zu tief, sie hätte den Sturz unmöglich überleben können. Und dem Glyth, der sie mittels Gedankenkontrolle dazu getrieben hatte, war das zu jeder Sekunde, in der er daneben gestanden und sich über ihren hilflosen Anblick erfreut hatte, klar gewesen."
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Nachdem Laykin gegangen und mich wieder allein gelassen hatte, kam ich einfach nicht drum herum an Caira und ihr schreckliches Schicksal zu denken. An Laykins Verlust. Und ich hätte nicht in Worte fassen können, wie gut ich ihn verstand. Wie gut ich die Schuld, die er empfand, nachvollziehen konnte. Und der Versuch, sich einzureden, dass man ja nicht selber das Messer geführt und auch nicht selber den entscheidenden Stoß über die Klippe gegeben hatte, brachte absolut gar nichts. Und würde auch nie etwas bringen. Selbst wenn - was passiert war, war nun mal passiert. Und nichts auf dieser Welt würde das ändern können.
„Allyra." Thoans Stimme ließ mich zusammenzucken und holte mich ohne Umschweife aus meinen dunklen Gedanken. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören.
Ich drehte mich zu dem Glyth um.
„Ja? Ist etwas?", fragte ich und beobachtete, wie er seinen Blick durch mein Zimmer schweifen ließ, als hätte er diesen kleinen Teil seines Hauses noch nie gesehen.
„Ich muss für die nächsten drei Tage weg und wollte dir Bescheid geben, falls es noch etwas gibt, das du von mir benötigst."
Außer dreitausend Antworten und die Auflösung dieser komischen Verbindung, die mich quasi an ihn kettete? Ne, eigentlich nichts.
„Verstehe." Ich stellte die beiden Stühle, die immer noch mitten im Raum standen, wieder an den Schreibtisch neben dem großen Fenster. „Und nein, ich habe alles, was ich brauche. Falls was ist, wende ich mich an Elyse oder an einen der anderen."
„Wie war es mit Laykin? Konntest du Fortschritte machen?", fragte er unerwartet und ich musste zugeben, durchaus überrascht zu sein, dass er so offensichtliches Interesse zeigte. Nicht, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre ihm egal – sonst hätte er mich niemals zu sich nach Hause gebracht. Doch die letzten Tage hatte ich wenig Kontakt zu ihm gehabt und ich war mir nicht sicher, woran das lag. Ob er mir aus dem Weg ging? Oder nervte ihn meine Anwesenheit? Vielleicht war es aber auch einfach nur Zufall und ich bildete mir etwas ein.
„Es war...aufschlussreich", antwortete ich wahrheitsgemäß und verschränkte die Arme vor der Brust, weil ich sonst nichts mit ihnen anzufangen wusste, während ich vor Thoan stand und versuchte, das leichte Unbehagen, das ich empfand, zu überspielen.
„Das freut mich." Die Stille, die sich daraufhin ausbreitete, lag so schwer in der Luft, dass ich in diesem Moment an jedem anderen Ort lieber gewesen wäre. Der Glyth schien über irgendetwas nachzudenken, auch wenn man das seinem ausdruckslosen Gesicht nicht ansehen konnte.
„Hör zu", fing er schließlich an. „Ich vertraue darauf, dass du keine Dummheiten anstellst, während ich weg bin. Denn die Entfernung, die zwischen uns liegen wird, wird zu groß für mich sein, um wahrnehmen zu können, ob du dich bedeutsam vom Anwesen entfernst oder nicht. Die anderen werden zwar ein Auge auf dich haben, aber manchmal ist das nun mal nicht ausreichend."
Sofort versteifte ich mich und verengte die Augen, bis ich Thoan grimmig ansah. „Also gibst du zu, dass du mich hier eigentlich gefangen hältst?"
Er seufzte. „Allyra, ich habe dir das doch schon mehrere Male gesagt. Du bist keine Gefangene. Diese Verbindung dient nur zu deinem Schutz. Also tu mir den Gefallen und bleib hier, während ich weg bin. In Ordnung?"
Ich wollte nicht einlenken, wollte weiterhin bockig bleiben und mich gegen das Ganze wehren – sollte er ruhig wissen, was ich von seiner bescheuerten Entscheidung hielt. Doch der Blick, mit dem er mich besah, ließ mich innehalten. Es war schwer, unfassbar schwer, jemals auf Thoans Gefühle zu schließen, denn er ließ es nur sehr selten zu. Doch in diesem Moment konnte ich das leise Flehen in seinem Blick genau erkennen.
„Ja. Ich werde hier bleiben", sagte ich letztendlich und wandte meinen Blick ab. Dabei ließ mich das allzu bekannte Gefühl, das sich in meinem Inneren gebildet hatte, schlucken.
Denn abgesehen von dem leisen, schlechten Gewissen, hatte ich mir gerade selber bestätigt, dass ich gelogen hatte. Dass ich nicht vorhatte, seiner Anweisung Folge zu leisten.
Ich hatte zwar nicht im Sinn zu verschwinden, abzuhauen oder sonst etwas in dieser Richtung, dafür gab es noch viel zu viele ungeklärte Fragen. Doch es gab etwas anderes, das ich unbedingt tun wollte und bei dem mir Thoan im Weg stand.
Und diese Gelegenheit würde ich mir ganz bestimmt nicht entgehen lassen.
◇◇◇
Auf das nächste Kapitel freue ich mich schon besonders :') Da wird's nämlich wieder spannender 🌚
Hoffe euch geht's gut und ihr hattet Spaß! : )
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