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Kirani warf ihr glänzend weißes Haar nach hinten und lehnte sich seufzend und offensichtlich genervt in ihrem Stuhl zurück.

„Weißt du, großer Bruder, du bist ein paar Minuten älter als ich. Das sollte dich eigentlich dazu qualifizieren, der Weisere von uns beiden zu sein. Doch momentan zweifle ich deinen gesamten, gesunden Glyth-Verstand an. Was hast du dir dabei gedacht, sie hierher zu bringen, sie aufzunehmen und so zu tun, als würdest du ihr bester Freund werden?!"

Verwundert hob Thoan die Augenbrauen und betrachtete seine Schwester mit interessiertem Blick. Er hatte nicht erwartet, dass sie so reagieren würde. Nein, eigentlich hatte er gedacht, sie würde diejenige sein, die sich am meisten über Allyras Anwesenheit freuen würde. Und anfangs hatte er auch genau diesen Eindruck gewonnen. Hatte er sich etwa geirrt?

„Magst du sie nicht?"

„Im Gegenteil. Seit sie vor ein paar Tagen hier eingezogen ist, war sie nichts als nett. Humorvoll. Zuvorkommend. Sie ist toll. Und das macht mich wahnsinnig. Es wäre leichter, wenn sie zum Kotzen wäre."

Der Glyth verschränkte die Arme und lehnte sich nachdenklich gegen den Tisch im Esszimmer. Kirani hatte recht, Allyra war bisher wirklich nicht negativ aufgefallen. Und das, obwohl sie schon einiges durchgestanden hatte in ihrem Leben und es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn sie sich als besonders kratzbürstig oder anstrengend entpuppt hätte. Als sie ihren Bruder vor zehn Jahren verloren hatte, machte das Gerücht über ein besonderes Mädchen die Runde. Doch damals hatte Thoan sich noch nicht dafür interessiert. Immerhin hatte er keine Ahnung gehabt, wie besonders Lyra war.

„Du wirst sie ins Herz schließen. Ich kenne dich, Thoan. Gott, wir alle werden sie ins Herz schließen. Und das wird alles viel zu kompliziert machen. Du hättest dir einen anderen Plan überlegen müssen." Immer wieder schüttelte Kirani den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was sie da taten.

„Einen anderen Plan? Na dann mal los, du Pseudo-Stratege. Anstatt dich den ganzen Tag mit deinen Spielzeugen zu vergnügen, hättest du dir ja mal darüber Gedanken machen können", entgegnete Thoan absichtlich provokant, doch wartete keine Erwiderung seitens Kirani ab. „Sie muss uns vertrauen, sonst wird das nie im Leben funktionieren. Und das weißt du."

Schnaufend drehte Kirani sich weg, doch beiden war klar, dass sie Thoan eigentlich zustimmte. Beiden war klar, dass Opfer nötig sein würden, um ihr Ziel zu erreichen. Und Allyra zu verraten, würde wohl oder übel eines dieser Opfer werden.

Thoan kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass dieser Umstand Kirani Schwierigkeiten bereiten würde. Doch gleichzeitig wusste er auch, dass er ihr vertrauen konnte – sie würde ihren Plan nicht aufs Spiel setzen. Auch nicht für ein Mädchen wie Allyra.

„Ein Zuhause. Das wünscht sie sich am meisten. Und du bist gerade dabei, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Nur, um ihr dann das, was am meisten Bedeutung für sie haben wird, wieder wegzunehmen. Das ist grausam. Nur damit du es weißt." Kiranis Fähigkeit die tiefsten Wünsche Anderer zu erkennen, machte sie zwar besonders beliebt in der Männerwelt und konnte hilfreich sein, wenn es darum ging, den Feind zu verführen. Doch in dieser Situation wünschte sich die Glyth nur, Allyra hätte schon längst gelernt, wie sie ihre innere Barriere aufrecht erhalten konnte. Sie wünschte, sie hätte nie erfahren, was diesem Mädchen schon seit Ewigkeiten zu fehlen schien. Denn je mehr sie über sie erfuhr, desto mehr widerstrebte es ihr, Lyra eines Tages wehzutun.

„Was sind das denn für Gesichter?! Ein bisschen mehr Freude bitte. Schließlich bin ich endlich wieder zurück", ertönte es plötzlich aus Richtung der Tür und gleichzeitig drehten sich die Geschwister zu Oteris. Der Glyth mit den giftgrünen Augen fixierte Kirani und ein anzügliches Grinsen erschien auf seinen Lippen, bevor er sich durch seine nur millimeterlangen, dunklen Haare strich.

„Hast du mich vermisst?"

„Lass die Finger von meiner Schwester, Ris. Wie oft soll ich dir das noch sagen?", knurrte Thoan nur, während Kirani aus ihrem betrübten Zustand gerissen wurde und anfing, leise zu lachen.

„Entspann dich, Thoan. Er versucht es doch schon seit Jahren."

„Und eines Tages wirst du nachgeben, vertrau mir." Mit selbstsicherem Gang trat Oteris an den Tisch und ließ sich direkt gegenüber von Kirani nieder. Die Füße ausstreckend, atmete er tief aus und klopfte sich abwechselnd mit beiden Händen auf den Bauch.

„Wo ist Elyse?"

„Mach dir gefälligst selber was zu essen. Sie hat Wichtigeres zu tun als deinen Mutterersatz zu spielen", antwortete Thoan, stieß sich vom Tisch ab und setzte sich neben seine Schwester. „Wie war es? Konntet ihr etwas Neues in Erfahrung bringen?"

„Zunächst einmal: Wer kam auf die bescheuerte Idee, Laykin hinterher zu schicken?! Alles, was er kann, ist nerven."

Verteidigend hob Kirani die Hände. „Sieh mich nicht so an. Ich habe nichts damit zu tun."

„Natürlich hat sie nichts damit zu tun", bestätigte Thoan. „Sie war zu beschäftigt mit anderen Dingen." Der Tonfall des Glyths sagte Oteris alles, was er wissen wollte. Oder nicht wissen wollte. Sofort verdunkelte sich seine Miene. Er hasste es, dass Kirani jeden, wirklich jeden, in ihr Bett zu lassen schien. Nur eben ihn nicht. Und er konnte sich, verdammt nochmal, einfach nicht erklären, woran das lag.

„Oh man", verdrehte Kirani die Augen und betrachtete ihren Bruder mit gelangweiltem Blick. „Komm endlich drüber weg, du Heulsuse."

„Jedenfalls", fuhr Oteris direkt fort, da er absolut keine Lust hatte, noch irgendetwas über Kiranis abwechslungsreiches Sexleben zu hören. Solange er nämlich nicht darin vorkam, war dieses nur von geringem Interesse für ihn. „Bisher war alles ruhig, nichts Auffälliges. Ich weiß nicht, ob sie nur den richtigen Moment abwarten. Wir werden bald nochmal los müssen, sicherheitshalber." Zustimmend nickte das Geschwisterpaar und ihre schlagartig ernsten Gesichter verrieten, dass sie genau wussten, wie angespannt die Lage wirklich war.

„Früher oder später werden sie herausfinden, dass sie hier ist", murmelte Thoan.

„Du meinst wohl eher, dass sie bei dir ist. Er wird ausrasten", erwiderte Kirani und seufzte. „Bisher war das eine Sache zwischen dir und ihm. Uns andere mag er zwar auch nicht besonders, aber wir wurden nie in eure Angelegenheiten verwickelt. Und das war auch gut so. Aber für dieses Mädchen, Thoan, wird er bereit sein, einen verfluchten Krieg vom Zaun zu brechen. Und glaub mir, wenn ich sage, ich habe nicht den geringsten Bock darauf."

„Irgendwann wäre es sowieso dazu gekommen. Und ich hätte auch nichts dagegen. Dann gäbe es wenigstens einen Grund, ihm endlich seinen verfluchten Kopf-"

„Moment mal", unterbrach Oteris Thoan in seinen Mordgedanken. „Sie ist hier? Jetzt gerade? In diesem Moment? Oh man, ich will sie sehen! Na los, wo ist sie?" So viel Trubel um diesen einen Menschen und jetzt endlich war das Mädchen in ihrem Anwesen. Da konnte und wollte Oteris es sich nicht nehmen lassen, sich anzusehen, wer sie zu ihrem großen Ziel führen würde. Er stellte sie sich groß vor, kräftig. Zusammengebundenes, schwarzes Haar. Strenger Gesichtsausdruck und angespannter Kiefer. Zu schmalen Schlitzen verengte Augen und Rauch, der ihr aus der Nase steigen würde. Genau so und nicht anders malte sich Oteris den Menschen aus, der sich der bevorstehenden Aufgabe als würdig erweisen würde.

„Hier bin ich!" Ruckartig richtete Oteris seinen Blick zur Tür, doch anstatt seiner lebendig gewordenen Fantasie, entdeckte er nur Cadowyn, wie dieser mit zu beiden Seiten gestreckten Armen dastand und offensichtlich versuchte sein Gesicht möglichst weiblich wirken zu lassen. Es sah bescheuert aus.

„Du widerst mich an", seufzte Oteris und ließ seinen Kopf in den Nacken fallen.

„Was? Sag bloß, du hast jemand anderen erwartet", entgegnete Cadowyn gespielt entsetzt und schlug sich, scharf einatmend, eine Hand auf die Brust.

„Manchmal frage ich mich, warum ich mir das alles eigentlich antue. Ich könnte ein entspanntes Leben führen, ein paar Träume beeinflussen, wenn mir mal danach ist - einfach meinen Spaß haben. Aber stattdessen lebe ich mit einem Haufen Idioten zusammen", brummte Oteris und würdigte Cadowyn keines weiteren Blickes mehr.

Letzterer trat jedoch an seinen Mitbewohner heran und legte ihm mit nachdenklichem Gesichtsausdruck eine Hand auf die Stirn. Sofort wurde diese zur Seite geschlagen.

„Was denkst du, was du da tust, du Spinner?!", keifte Oteris und konnte einfach nicht fassen, dass er das schon seit so langer Zeit mitmachte und aushielt. Er hatte einen Orden verdient, dafür, dass er nicht schon vor Jahren abgehauen war.

Cadowyns Miene blieb ernst, ohne jegliche Regung, bevor er sich eine strohblonde Strähne aus der Stirn strich und zögernd nickte.

„Eindeutig."

„Was?!", fragte Oteris genervt.

„Eindeutig eine schwere Form von Trottelitis..."

Oteris sprang auf und wollte schon auf Cadowyn losgehen, doch bevor die Situation ausarten konnte, drängte sich Thoan zwischen die beiden und beendete den Streit, bevor dieser erst ausbrechen konnte.

„Es reicht. Hockt euch hin und beruhigt euch wieder. Ich habe weder die Zeit noch die Lust, mich um eure Kinderkacke zu kümmern", zischte Thoan und verdrehte die Augen. Es gab Momente, in denen fühlte er sich tatsächlich so: Als würde er mit Kleinkindern arbeiten.

Auch wenn er sehr dankbar war für seine Freunde und ihre unbestrittene Loyalität, hin und wieder konnten sie wirklich anstrengend werden.

„Er ist doch nur so aufgebracht, weil Kirani ihn immer noch nicht rangelassen hat-"

„Der einzige Grund, dass ich so aufgebracht bin, bist du, du kleiner -"

„Ruhe!", erhob Thoan erneut die Stimme, bevor Oteris als auch Cadowyn endlich den Mund hielten und sich mit genügend Abstand zueinander wieder an den Tisch setzten.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen, bis Kirani schließlich aufstand, für einige Minuten in der Küche verschwand und dann mit einem Korb voller Brot und einem Aufstrich wieder zurückkam. Sie konnte nicht kochen, deshalb war das alles, was sie auf die Schnelle hinbekommen hatte. Essen war immer eine gute Lösung, besonders, wenn es darum ging, eine Situation wieder etwas aufzulockern.

„Wie geht es Jerasq?", fragte die Glyth und stellte das Essen auf den Tisch. Dann sah sie zu Oteris, da dieser ihn zuletzt gesehen haben musste. Schließlich waren sie gemeinsam unterwegs gewesen.

„So wie immer", entgegnete Ris nur und senkte den Blick. Er schien einige Sekunden nachzudenken, griff dann aber doch nach einem Stück Brot, von dem er genüsslich abbiss.

„Manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um ihn. Er spricht nie über sich. Nie darüber, wie er sich fühlt..."

„Er spricht nicht darüber, weil alle wissen, wie es ihm geht, Kirani." Der Blick, den Cadowyn ihr zuwarf, sprach Bände.

„Ja, das weiß ich doch...es ist nur...Laykin hat das Gleiche durchgemacht und er ist so...anders."

„Jeder hat seine eigene Art und Weise mit Schmerz und Verlust umzugehen. Und wenn Laykin sich durch sein aufdringliches und nerviges Verhalten besser fühlt, dann ist das eben so", erklärte Thoan.

„Wenn ich Jerasq so ansehe, frage ich mich wirklich, ob es nicht besser wäre, einfach nie zu lieben. Sich nie so sehr an jemanden zu binden, niemals jemandem emotional so nahe zu sein...", grübelte die Glyth und starrte geistesabwesend auf den Tisch vor sich.

Bei Kiranis Worten hörte Oteris für einen Moment auf zu kauen. War das vielleicht der Grund, nach dem er schon so lange gesucht hatte? Wollte Thoans kleine Schwester ihn nicht an sich heranlassen, weil sie Angst hatte, sie könnte ihn letztendlich verlieren? So irrational das vielleicht auch sein mochte, doch bei diesem Gedanken bildete sich ein kleiner, aber deutlicher Hoffnungsschimmer in Oteris' Brust.

„Das ist es immer wert, egal, welchen Ausgang es haben mag", sagte er und räusperte sich.

„Was meinst du?", fragte Kirani mit gerunzelter Stirn.

Oteris versicherte sich, dass sie ihn ansah, dass sie ihm direkt in die Augen blickte, bevor er ihr antwortete.

„Liebe, Kirani. Liebe ist es immer wert."

Gerade als Cadowyn sich einmischen wollte und die Ernsthaftigkeit dieser Aussage mit Sicherheit zerstört hätte, lenkte sich die Aufmerksamkeit der Glyth auf die Stimmen, die sich dem Esszimmer näherten.

Gespannt blickten die vier zur offenen Tür, als schließlich Allyra und Laykin erschienen. Hinter ihnen konnte man mit viel Mühe auch Elyse ausmachen, die von den beiden völlig verdeckt wurde. Diese Frau war einfach zu klein.

Oteris hob überrascht die Augenbrauen, als ihm klar wurde, wen er da im Türrahmen stehen sah. Das war definitiv nicht seine lebendig gewordene Fantasie. Wohl eher das Gegenteil. Kein schwarzes Haar, kein Rauch, keine großartigen Muskeln. Große, runde Augen, karamellfarbene Strähnen und ein leicht überforderter Gesichtsausdruck. Sie sah höchstens süß aus, aber nicht wie jemand, der dafür gedacht war, eine Aufgabe wie sie Allyra bevorstand, zu erfüllen. 

Laykin hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und grinste über beide Ohren, während er sie näher zu sich heranzog und sich dann an die Glyth am Tisch wandte:

„Einen wunderschönen guten Morgen, meine Lieblingsmitbewohner." 

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