6
Wir benötigten etwa einen halben Tag, bis wir endlich das Anwesen des Glyths erreichten. Es war groß und im Grunde mitten im Nirgendwo platziert. Ob er es hatte extra für sich bauen lassen? Oder hatte das Gebäude schon zuvor hier gestanden?
Die Fassade war weiß und schlicht gehalten, die Doppeltür, die ins Innere des Anwesens führte, war aus dunklem Holz. Ansonsten war das einzig Auffällige das Gewächs mit den dunkelblauen Blüten, das an einer der Außenwände emporwuchs. In Sevea hatte ich schon deutlich eindrucksvollere Gebäude gesehen und dennoch war ich beeindruckt. Es war schön und geschmackvoll und wenn ich ehrlich war, hatte ich das dem Glyth nicht zugetraut. Ich hatte eher, na ja, etwas Düsteres erwartet, in Richtung Verlies oder so. Vielleicht lag das auch nur daran, dass ich Angst davor gehabt hatte, er würde mich irgendwo einsperren und nie wieder rauslassen.
Wie viele Bewohner das Haus wohl hatte? Oder lebte er hier allein mit Sacros? Eine komische Vorstellung, wenn ich so darüber nachdachte...
Einige Meter vor dem Eingang zog Thoan schließlich an den Zügeln und das Pferd blieb stehen. Daraufhin stieg der Glyth elegant ab und half auch mir das Gleiche zu tun. Nur, dass es bei mir wahrscheinlich nicht einmal halb so elegant und gekonnt aussah. Ohne ein Wort zu wechseln, übergab er den Hengst an Sacros, der die Zügel ohne Widerrede annahm und nun die beiden Pferde hinter das Anwesen führte, während Thoan sich bereits auf den Weg zur Tür machte. Ich brauchte einen Moment, bevor ich mich vom Fleck rühren konnte. Irgendwie war ich mir nicht ganz sicher, was nun von mir erwartet wurde. Eigentlich wusste ich nicht mal, warum ich überhaupt hier war. Und obwohl mich diese Ungewissheit unfassbar nervte, schob ich den Gedanken erstmal zur Seite. Dabei klammerte ich mich an das Versprechen des Glyths, mir bei gegebener Zeit alles zu erklären und mir all meine Fragen zu beantworten.
Und dieses Versprechen würde ich auf gar keinen Fall vergessen. Darauf konnte er sich verlassen.
Als ich Thoan schließlich hinterherlief, merkte ich erst, wie verspannt ich vom Reiten war. Wer hätte denken können, dass es so anstrengend sein konnte, sich von einem Ort zum anderen tragen zu lassen...
Gerade als ich neben Thoan getreten war und er bereits die Tür öffnen wollte, öffnete sie sich von selbst. Erst als ich den Mann Gegenüber von uns entdeckte, wurde mir klar, dass das kein cooler Glyth-Trick gewesen war. Das hätte mich auch wirklich überrascht, schließlich waren die Fähigkeiten der Glyth nicht physischer Natur.
„Thoan?! Was tust du denn so früh hier?" Der Mann stieß einen langen und tieftraurigen Seufzer aus. „Eigentlich hab ich gehofft, noch etwas länger Ruhe zu haben...na toll...", begrüßte er uns und verdrehte genervt die Augen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob irgendetwas mit meinem Gehör nicht in Ordnung war. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Zu Thoan?
Zu meiner Überraschung grinste Letzterer nur. „Ich freue mich auch dich wiederzusehen, Laykin."
Dieser ignorierte Thoan jedoch und richtete seinen Blick stattdessen auf mich. Und nun, da ich ihm direkt in seine unheimlich hellen, blauen Augen sehen konnte, traf mich die Erkenntnis wie ein heftiger Schlag ins Gesicht. Thoan würde also nicht der einzige Glyth bleiben, dem ich von nun an über den Weg laufen würde, wenn ich richtig in der Annahme lag, dass auch Laykin in seinem Anwesen hauste.
Wie auch der Glyth neben mir hatte er helle Haare, doch im Gegensatz zu Thoans waren sie bläulich. Und die Feststellung, dass mir seine Haare noch viel besser gefielen als die von Thoan, ließ meine Laune auf jeden Fall besser werden.
Auch wenn sich die beiden überhaupt nicht ähnlich sahen, hatten sie doch einiges gemeinsam. Zum einen ihre Ausstrahlung, so wie sie jeder Glyth besaß. Zum Anderen ihr gutes Aussehen. Laykin hatte zwar ein viel jungenhafteres Gesicht im Gegensatz zu Thoan und traf damit vielleicht nicht ganz meinen persönlichen Geschmack, doch ich war nicht blind. Ich war sicher, dass er keine Probleme mit der Frauenwelt hatte. Höchstens das Problem, sich vor ihr zu verbergen.
„Hm, vielleicht ist es doch ganz gut, dass du wieder da bist...", fügte Laykin dann nach intensiver Betrachtung meiner Person hinzu. Belustigt hob ich eine Augenbraue und wollte schon etwas erwidern, als mein Herz ganz plötzlich anfing ungewöhnlich schnell zu schlagen. Erst verstand ich nicht, was der Grund dafür war, doch schnell erkannte ich, dass es an Laykin liegen musste.
Hm. Er sah wirklich gut aus.
Und dieses Lächeln...dieses wunderschöne Lächeln...
„Es reicht." Ich bekam die Worte nur ganz am Rande mit und wusste auch nicht, was sie zu bedeuten hatten.
„Laykin. So machst du dich ganz sicher nicht beliebt bei ihr." Ein lautes Seufzen – mir kam es so verführerisch vor – kam aus Laykins Mund, bevor er mich für einen Moment todernst ansah. Schlagartig kam ich wieder in der Realität an. Ich brauchte einen Moment und blinzelte wahrscheinlich ein Dutzend Mal, bevor ich erstmal meinen immer noch offen stehenden Mund schloss.
„Was- was hast du mit mir gemacht!?", keifte ich Laykin schockiert an und runzelte angestrengt die Stirn. Immer noch etwas benommen legte ich eine Hand auf die Region meines Herzens, nur um festzustellen, dass es immer noch da war. Na immerhin etwas.
„Er kann deine Gefühle beeinflussen. Solltest du also jemals etwas fühlen, das du mit Sicherheit nicht fühlen solltest, dann weißt du, woran das liegt", erklärte Thoan mir und obwohl er es nicht tat, zeigte mir sein Tonfall, dass er kurz davor war, die Augen zu verdrehen.
Laykin grinste zufrieden über beide Ohren und lehnte sich mit verschränkten Armen lässig gegen den Türrahmen.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich ihn und hoffte, dass er die Missgunst in mir fühlen und sehen konnte. Denn die war immerhin echt.
„Wir beide werden noch viel Spaß miteinander haben. Da bin ich mir sicher." Bevor ich etwas erwidern oder auf ihn losgehen konnte, unterbrach Thoan das Ganze und forderte mich auf, das Haus zu betreten. Zu seinem Glück verabschiedete sich Laykin daraufhin von uns und meinte, er müsse noch etwas erledigen, bevor er schließlich das Anwesen verließ.
„Gibt es hier noch mehr...von euch?", fragte ich sicherheitshalber, während ich mich in dem großen Eingangsbereich umsah. Eigentlich gab es dort nicht viel zu sehen, weder hatten sie hier viel dekoriert, noch war es in irgendeiner Weise farbenfroh. Alles war in recht neutralen Tönen, wie Schwarz, Weiß oder Grau gehalten. Zwei Pflanzen waren in den Ecken platziert und einige Gemälde hingen an den sonst leeren, weißen Wänden. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Thoan selbst die Einrichtung ausgesucht hatte. Er kam mir nicht gerade vor wie jemand, der viel Spaß daran haben konnte, sein Heim möglichst schön einzurichten.
„Du meinst Glyth? Ja, außer Laykin und mir leben noch vier weitere hier. Ist das ein Problem?"
Ich zögerte. „Das hängt davon ab. Was können die denn so?"
Thoans leises Lachen entging mir nicht. Anscheinend fand er es amüsant, dass ich nicht damit einverstanden war, Fremde Leute in meinem persönlichsten Besitz herumwühlen zu lassen. Ich fragte mich, ob er das immer noch so lustig finden würde, wenn man das mal bei ihm machte.
„Mach dir keine Sorgen. Ich glaube, du wirst sie mögen."
„Dachtest du das bei Laykin auch? Ich frage nur, um herauszufinden, wie schlecht dein Einschätzungsvermögen wirklich ist..."
Bevor er mir antworten konnte, öffnete sich eine der Türen rechts von uns und eine füllige, kleine Frau eilte in unsere Richtung. Sie schien uns im ersten Moment gar nicht wahrgenommen zu haben, doch als sich Erkenntnis in ihrem Blick widerspiegelte, schmiss sie erfreut ihre kurzen Arme in die Höhe und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie musste um die sechzig sein. Ihr graues Haar hatte sie nach oben gesteckt und bei ihrem niedlichen Anblick schlich sich ein kleines Schmunzeln auf meine Lippen. Sie war ein Mensch. Allein schon dieser Umstand machte sie mir zehn Mal sympathischer als Laykin. Und dabei hatte ich noch nicht einmal mit ihr gesprochen.
„Thoan!", stieß sie erfreut hervor, kam auf ihn zu und ließ sich von ihm umarmen. „Wie schön, dass du wieder da bist. Keine drei Tage warst du weg und schon gerät hier alles außer Kontrolle! Kirani schleppt irgendeinen zwielichtigen Menschen an, Laykin erscheint zwei Mal hintereinander nicht zum Abendessen, obwohl ich extra sein Lieblingsgericht gekocht habe, und Cadowyn ...ach, Cadowyn ist einfach Cadowyn, dieser Schwachkopf!"
Erst als alle Beschwerden raus waren, ließ sie Thoan endlich zu Wort kommen. Ich konnte nicht bestreiten, dass die beiden da ein wirklich witziges Bild abgaben.
„Elyse, du bist meine Retterin. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde." Ich nahm an, dass sie eine Angestellte von ihm sein musste, eine Verwandte war sie ja offensichtlich nicht. Ob Thoan wohl mit allen hier so herzlich umging? Ich wusste auch nicht so genau, was ich erwartet hatte. Aber definitiv nicht, dass er so ein sanftes Gemüt an den Tag legen würde.
Dieser Mann war doch immer wieder für eine Überraschung gut.
„Oh, sei doch nicht so unhöflich! Wer ist denn diese schöne Dame? War sie der Grund für deine Reise? Na los, stell sie mir vor!", sprach Elyse direkt weiter, trat dann einen Schritt näher zu mir und betrachtete mich interessiert. Ich glaubte, das, was mir am besten an ihr gefiel, war die tiefe Ehrlichkeit, die ich in ihren warmen, braunen Augen erkennen konnte.
Thoan schmunzelte und warf mir einen Blick zu, der mir einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ. Ich biss die Zähne zusammen. Er sollte bloß damit aufhören! Diese komischen Reaktionen auf ihn konnte ich echt gar nicht gebrauchen.
„Das ist Allyra. Und ja, sie war besagter Grund. Sie wird ab jetzt hier wohnen, also hoffe ich, dass ihr euch anfreunden werdet. Aber ich denke nicht, dass das ein Problem darstellen sollte", erklärte der Glyth und bei jedem seiner Worte nickte Elyse eifrig, als wolle sie so ihre tiefe Begeisterung über meine Anwesenheit beteuern.
Na hoffentlich würden sich alle hier so sehr über eine neue Mitbewohnerin freuen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob Thoan wohl irgendeine bedeutende Persönlichkeit unter den Glyth war. Oder war das hier eher eine Art Lebensgemeinschaft? Doch so, wie Elyse von ihm sprach, kam es mir dann doch so vor, als gäbe eine eine klare Hierarchie in diesem Haus.
„Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Elyse", begrüßte ich sie und streckte ihr höflich die Hand entgegen. Doch anstatt auf mein Händeschütteln einzugehen, schmiss sie sich förmlich auf mich und schloss mich in ihren eisernen Griff. Wow. So fühlte sich also wahre Freude an...
„Und wie ich mich erst freue! Wir brauchen hier deutlich mehr Frauen in diesem Haus, ohne uns läuft hier nur alles aus dem Ruder!"
Ich lachte leise. „Ich werde mein Bestes geben, ein würdiges Mitglied der weiblichen Bewohner zu werden."
„Wenn du irgendetwas brauchst, findest du mich meistens in der Küche, also scheue dich nicht, mich zu fragen, solltest du bei irgendetwas Hilfe benötigen, mein Kind", informierte sie mich, ließ mich los und eilte dann, ohne ein weiteres Wort wieder zu der Tür, aus der sie zuvor gekommen war. Wahrscheinlich musste das die Küche sein.
„Sie ist...ein bisschen eigen. Aber eine wundervolle und wirklich liebenswerte Frau", kam es von Thoan, als Elyse die Tür hinter sich geschlossen und uns wieder alleine gelassen hatte.
„Ich mag sie", sagte ich nur und lächelte vor mich hin. Mit so einem herzlichen Empfang hatte ich nicht gerechnet, vor allem nicht nach meinem reizenden Aufeinandertreffen mit Laykin. So ein Idiot.
Nach diesen beiden aufschlussreichen Begegnungen zeigte mir Thoan schließlich das Anwesen und führte mich herum. Zuerst präsentierte er mir mein Zimmer im ersten Stock, das mich mit offenem Mund im Türrahmen stehen ließ. Es war mindestens vier Mal so groß, wie mein Zimmer bei Xoros. Wie auch alles andere in diesem Haus enthielt es eigentlich nur das Nötigste. Ein großes, verlockendes Bett, Schränke, einen Tisch und zwei Stühle. Es mehr als ausreichend und definitiv auch mehr als ich erwartet hatte. Es hatte sogar ein angrenzendes, geräumiges Badezimmer, das ich ganz alleine nutzen können würde. In diesem Moment dachte ich das erste Mal daran, dass ich die ganze Situation vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Denn vielleicht war es kein Pech, sondern riesiges Glück, dass Thoan mich gefunden hatte. Vielleicht durfte ich hier auf ein besseres Leben hoffen.
Später zeigte er mir dann, wo sich sein und die Zimmer der anderen Bewohner befanden, bestätigte daraufhin auch noch einmal meinen Verdacht über die Küche, die direkt neben dem großen Esszimmer lag und führte mich schließlich in die kleine Bibliothek, die sich im Keller des Anwesens befand. Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit auf jeden Fall dort herumzustöbern. Es war schon eine ganze Weile her, dass ich ein gutes Buch gelesen hatte.
Als letztes liefen wir durch den Hinterausgang nach draußen.
„Das ist er. Der Wald der Weisheit", sagte Thoan.
Ich hatte den Wald bereits gesehen, als wir angekommen waren, wie er sich so gigantisch und groß hinter dem Anwesen erstreckte. Ich legte unbewusst, ergriffen von dem wunderschönen Anblick, der von nun an direkt an meiner Haustüre liegen würde, eine Hand an meine Brust und atmete tief durch.
„Denk bitte daran, was ich dir gesagt habe. Halt dich fern." Ich nickte, doch hörte ihm eigentlich gar nicht richtig zu. Viel zu sehr versuchte ich den Wunsch in mir, einfach loszulaufen und den Wald zu erkunden, verzweifelt loszuwerden. Vergeblich.
Als ein unerwartetes Seufzen hinter uns ertönte, wurde ich ruckartig aus meinen Träumereien gerissen. Sofort drehte ich mich um.
„Ihr seid ja echt süß." Eine wunderschöne Frau stand angelehnt am Ausgang und betrachtete uns mit einem belustigten Schmunzeln. Offensichtlich hatte sie nichts an, nur die Decke, die sie um ihren Körper geschlungen hatte, verhinderte, dass ich gleich viel mehr von ihr sah, als ich wahrscheinlich sollte.
Ihr hüftlanges, weißes Haar glänzte im Sonnenlicht und ihre bernsteinfarbenen Augen fixierten mich wie die eines Raubtiers. Sie war eine Glyth. Und alles, wirklich alles an ihr, schien diese Tatsache auszustrahlen, sogar noch viel mehr als bei Thoan.
„Hättest du dir nicht etwas anziehen können?", fragte Thoan genervt und sein Blick sprach Bände.
„Warum denn? Nur um mich gleich wieder auszuziehen?"
„Liegt das an deinem neuen Spielzeug?" Verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her.
Sie lachte auf und kam etwas näher. „Hat Elyse sich etwa schon beschwert? Was soll ich sagen...er ist unterhaltsam. Man findet nicht so oft humorvolle Menschen. Ich meine wirklich witzige...", erklärte sie mit der wohl seriösesten Stimme, die ich je in meinem Leben gehört hatte. Als würde sie gerade ein schwerwiegendes Problem der Welt erläutern.
Außer einem abschätzigen Schnauben bekam sie von Thoan jedoch keine Antwort mehr.
Nun wandte sie sich mir zu und streckte mir überraschenderweise lächelnd eine Hand entgegen, die ich nach kurzem Zögern ergriff.
„Ich bin Kirani."
Sie warf Thoan einen kurzen, amüsierten Blick zu.
„Seine Schwester."
◇◇◇
Fun fact:
Laykin ist einer der Charaktere, die ich eigentlich ganz anders geplant hatte. Und dann beim Schreiben ist mal wieder alles anders gekommen als anfangs gewollt 😂🤷♀️
Trotzdem ist er einer meiner Lieblinge in der Geschichte 😏
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top