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Als wir vor der großen Doppeltür ankamen, blieben wir noch einmal kurz stehen. Eath drehte sich zu mir und nahm mich, ohne ein weiteres Wort, in die Arme. Vor all den Wachen, die um uns herumstanden. Und ich hätte ihn nur zu gerne ebenfalls umarmt, wenn mir einer von Argmis' Männern nicht zuvor die Handgelenke zusammengebunden hätte. Außerdem hatten sie mir den Mund zugeklebt, damit ich ja keinen Laut von mir geben konnte, sobald wir vor den Richtern stand.

Als sich daraufhin die Türen öffneten und ich hineingeführt wurde, war ich ziemlich überrascht, dass kaum jemand in dem großen Saal versammelt war. Nur einige Wachen, die auf ihren Posten standen.

Eath blieb draußen, er durfte nicht mit rein. Ich wusste jedoch nicht, ob das daran lag, dass wir beide ein enges Verhältnis zueinander hatten, oder ob das eine allgemeine Regelung darstellte.

Die Türen schlossen sich mit einem Knall, der noch mehrere Male im Saal widerhallte. Die beiden Wachen, die sich rechts und links von mir platziert hatten, verließen meine Seite für keinen Moment. Sie führten mich in die Mitte des Raums, wo wir schließlich stehenblieben, verschränkten die Arme hinter dem Rücken und standen so aufrecht, als hätten sie den König vor sich. Aber so war es nicht. Nicht Argmis saß dort auf dem Podest, welches vor uns aufgebaut worden war, sondern drei in schwarze Gewänder gehüllte Gestalten. Sie alle saßen mit dem Rücken zu uns und hatten sich Kapuzen über die Köpfe gezogen. Ich konnte noch nicht einmal erahnen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte, ob es nur Menschen waren oder nur Astóric. War vielleicht ein Magier dabei? Am wahrscheinlichsten war, dass Argmis sich Astóric als Richter ausgesucht hatte, aber sicher sein konnte ich mir nicht.

Einige Minuten passierte gar nichts. Alle schwiegen und schienen auf etwas zu warten, als dann endlich ein Mann hervortrat und sich direkt vor das Podest stellte. Und erst als er anfing zu sprechen, wurde mir klar, was seine Aufgabe war. Er würde derjenige sein, der den Richtern von meinen Vergehen berichten würde.

Großartig.

Er strich sich über seine Glatze und kratzte sich dann am Hals. Er war klein und sehr dünn und auch das weite Hemd, das er trug, konnte dies nicht verbergen.

„Den heutigen Fall", begann er und seine schrille Stimme ließ mich eine Grimasse ziehen, „haben wir den folgenden Taten zu verdanken: Die nicht lebensbedrohliche Vergiftung von dutzenden Wachen, das Entwenden magischer Gegenstände" – damit meinte er wohl den Schlüssel – „die Befreiung einer Gefangenen und das unerlaubte Benutzen geheimer Gänge."

Er holte tief Luft. „Außerdem ist der oder die Schuldige nicht bereit, zu kooperieren und uns zu verraten, wessen Hilfe er oder sie in Anspruch genommen hat."

Wow, immerhin hat er dazugesagt, dass die Vergiftung nicht lebensbedrohlich war. Vielleicht brachte mir das ja ein paar Pluspunkte ein.

„Konnte die Gefangene fliehen?" Ich erstarrte, als diese merkwürdige Stimme ertönte. Sie war tief und hoch zugleich, sanft und hart und wenn ich es hätte umschreiben müssen: Wie nicht von dieser Welt. Es war, als hätte sie die Worte gar nicht wirklich gesprochen, als wäre es mehr eine Melodie gewesen, die sich im Saal ausgebreitet hatte. Und doch hatte ich genau verstanden, wie die Frage gelautet hatte.

Keine Ahnung, was das für drei Gestalten waren, die gleich über meine Strafe entscheiden würden, aber ich wollte keinem von ihnen jemals wieder über den Weg laufen, das wurde mir in diesem Moment klar.

Auch als wieder der Mann sprach, der meine Taten so schön heraus posaunt hatte, konnte ich die Gänsehaut nicht abschütteln.

„Ja." Seine Antwort war kurz und knapp und ich hatte das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, wenn er nein gesagt hätte.

Dann wurde es wieder still. Und das für eine ganze Weile. Ich fragte mich wirklich, wie die Richter kommunizierten – ob sie es überhaupt taten. Aber mussten sie sich nicht bezüglich des Urteils absprechen, ihre Meinungen austauschen? Aber ich hörte kein Wort, nichts. Sie rührten sich nicht einmal.

Und das für die nächste halbe Stunde. Ich dachte schon, ich würde verrückt werden vor Anspannung, als einfach nichts passierte. Am liebsten hätte ich mir dieses verfluchte Teil vom Mund gerissen und sie angeschrien.

Aber dann, kurz bevor mein Geduldsfaden endgültig gerissen wäre, erhoben sich die Richter plötzlich. Und zwar gleichzeitig, als wären sie eine Person.

Waren sie das vielleicht auch? War das alles hier nur eine Täuschung meiner Sinne?

„Ein Geist, der aus Güte gehandelt hat. Aus Überzeugung", ertönte erneut diese besondere Stimme. Ich runzelte die Stirn und versuchte zu begreifen, ob sie gerade von mir sprach.

„Wer auch immer du bist, der du da stehst – merke dir: Eine jede Tat hat Konsequenzen. Auch wenn sie aus den besten Absichten heraus begangen wird. Und manche Taten sind diese Konsequenzen wert, andere hingegen nicht." Es folgte eine kurze Pause. „Halte dir immer vor Augen, was du bereit bist zu geben."

Ich sah, wie der glatzköpfige Mann sich mit nervöser Miene zu mir umdrehte und mich mit geweiteten Augen betrachtete. War es ungewöhnlich, dass die Richter mit den Tätern sprachen? Für einen kurzen Augenblick kam Hoffnung in mir auf, dass das ein gutes Zeichen sein könnte. Dass diese Richter mehr sehen könnten als alle anderen und meine Tat mit anderen Augen betrachten würden.

Aber dann folgten die abschließenden Worte des Prozesses und die Erkenntnis, dass diese leise Hoffnung umsonst gewesen war, traf mich wie ein Faustschlag.

„Dreißig Peitschenhiebe. Auf dass du deine Güte niemals verlieren magst."

>>>*<<<

Ich zitterte. So sehr wie in der ersten Nacht, die ich damals ohne Nescan verbracht hatte. Und ich wusste, dass es nicht an der Kälte lag, die in diesem verfluchten Verlies herrschte. Sondern an der Vorstellung, wie das Blut über meinen Körper laufen würde. Wie ich schreien würde. Wie sie mich dafür bestrafen würden, dass ich Kirani geholfen hatte.

Es wäre eine glatte Lüge gewesen, zu behaupten, ich empfände keine Angst. Ich hatte Angst. Vor dem Schmerz, den Narben, die zurückbleiben würden, den Blicken, die mir die Leute zuwerfen würden.

Und es wäre anmaßend gewesen, Hass für diesen Ort, für die Richter, für das Gesetz und den König zuzulassen. Ich war selber verantwortlich dafür, dass ich nun in dieser Situation war. Eath hatte mich gewarnt, Prijan und Narah hatten mich gewarnt, ja, sogar Crave hatte mir davon erzählt, dass man mit schweren Strafen rechnen musste, wenn man sich bei den Astóric aufhielt. Ich hatte gewusst, worauf ich mich einließ, als ich diesen Plan in Angriff genommen hatte. Das alles war allein meine Schuld und ich würde sie nicht auf jemand anderen abwälzen.

Irgendwann, wahrscheinlich ein paar Stunden später, kam Nescan zu mir. Er sagte nichts, sondern setzte sich einfach nur auf den Boden und lehnte sich seitlich an die Gitterstäbe meiner Zelle. Wir sprachen nicht. Er saß einfach nur da und leistete mir Gesellschaft.

Auch nach zehn Jahren wusste er genau, was ich in manchen Situationen brauchte. Ich wollte keine Vorwürfe hören, keine Standpauken, keine enttäuschten Reden. Das alles würde nichts bringen. Aber jemanden, der einfach nur da war, mir zeigte, dass ich nicht alleine war – das wollte ich. Das war es, was ich brauchte.

„Erinnerst du dich noch an den Kuchen, den unsere Mutter immer zu Festlichkeiten gebacken hat?", hörte ich ihn dann irgendwann flüstern.

Ich lächelte. „Natürlich."

„Den hätte ich jetzt gern", sagte er und entlockte mir damit ein leises Lachen. „Ich glaube, ich backe demnächst mal einen."

Ich nickte. „Wenn du willst, helfe ich dir."

Er hatte die ganze Zeit über nicht zu mir gesehen, aber nun drehte er den Kopf und betrachtete mich einen Moment lang mit unergründlichem Blick. „Ich würde mich freuen."

„Du kannst es nicht verstehen, nicht wahr?", kam es dann plötzlich aus meinem Mund, ohne, dass ich wirklich über diese Worte nachgedacht hatte. Obwohl ich es sehr zu schätzen wusste, dass er das Thema nicht ansprach, so wusste ich, dass es ihn mindestens genauso sehr beschäftigte wie mich.

Er sah nicht weg. „Nein. Kann ich nicht", bestätigte er meine Vermutung. Als ich schon enttäuscht, aber keineswegs überrascht, nicken wollte, fügte er hinzu: „Aber ich verurteile dich nicht. Nicht dafür, dass du offensichtlich jemandem helfen wolltest, der dir nicht gleichgültig ist. Obwohl ich natürlich der Meinung bin, dass keiner von ihnen auch nur einen Bruchteil deiner Gutmütigkeit verdient."

„Wenn wir alle uns nur auf die Fehler anderer konzentrieren würden ... was wäre das für eine traurige Welt?", murmelte ich und betrachtete meine Hände, die ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr so schmutzig gesehen hatte.

„Du warst schon immer die weisere von uns beiden", scherzte er, aber ich sah ihm an, dass er ernsthaft über meine Worte nachdachte.

Wir redeten noch eine Weile über belanglose Themen, erinnerten uns an die Zeit vor seinem vermeintlichen Tod, sprachen sogar über die Zukunft. Er erzählte mir, wie er Narah kennengelernt und wie er sich in sie verliebt hatte. Und zwischendurch genossen wir immer wieder die angenehme Stille zwischen uns.

„Weißt du, wann es soweit ist?", fragte ich, als er sich langsam auf den Weg machen wollte. Vielleicht war es ein Fehler, diese Frage zu stellen. Vielleicht war es besser, nicht zu wissen, wann sie mich holen würden.

„In zwei Tagen", flüsterte er und warf mir einen zerknirschten Blick zu. Offensichtlich wollte er genauso wenig daran denken wie ich.

„Hast du schon mit Eath gesprochen?" Ich hatte ihn nach dem Prozess nicht mehr gesehen und dementsprechend noch nicht die Gelegenheit gehabt, mit ihm über das Urteil zu reden.

„Gesprochen? Nicht wirklich. Er ist momentan nicht der beste Gesprächspartner", lachte Nescan humorlos auf. „Seit er von dem Urteil der Richter weiß, ist er ... na ja, er ist in die Trainingshalle gegangen und hat sich dort eingesperrt. Ich weiß nicht, ob er mittlerweile wieder raus ist oder nicht."

Ich seufzte und fuhr mir durchs Haar. Aus dieser verfluchten Zelle heraus konnte ich nichts tun, ihn nicht beruhigen, ihn nicht in den Arm nehmen. Ihm nicht sagen, dass es schon okay war. Dass alles gut werden würde – auch wenn ich selbst nicht wirklich daran glaubte. Aber ich wollte es, ich wollte so sehr, dass es wahr wurde. Dass alles wieder in Ordnung kam.

„Richtest du ihm etwas von mir aus?", fragte ich und Nescan schenkte mir ein kleines Lächeln. In diesem Moment sah er dem Nescan vor zehn Jahren so ähnlich, dass ich ihn einige Sekunden einfach nur betrachtete und die leise Hoffnung in mir zuließ. Wenn Nescan und ich uns wiederfinden konnten, den Tod umgehen konnten, dann war es auch möglich, dass alles andere wieder seinen Platz fand.

Die Vorstellung, dass ich irgendwann einfach nur glücklich sein und ein entspanntes, ruhiges Leben führen könnte, war wirklich schön. Aber jetzt gerade, in diesem Verlies, war ich so weit davon entfernt, dass ich gar nicht wissen wollte, wie lange es dauern, wie weit der Weg sein würde, bis diese Vorstellung Wirklichkeit werden konnte.

„Was soll ich ihm sagen?", holte Nescan mich aus meinen Überlegungen.

„Dass er sich keine Sorgen um mich zu machen braucht. Alles wird gut."

Der mitleidige Blick, den Nescan mir daraufhin zuwarf, ließ mich weggucken. Ich wollte kein Mitleid. Das gab mir nur das Gefühl, dass ich nicht stark genug war, das alles zu überstehen. Und obwohl es sich hin und wieder auch genauso anfühlte, wollte ich mich diesem Gefühl nicht hingeben.

„Ich werde es ihm ausrichten, obwohl ich bezweifle, dass ihn das allzu sehr beruhigen wird." Nescan stand auf und klopfte sich den Dreck von den Hosen. Dann seufzte er und trat noch einmal ganz nah an die Gitterstäbe heran. „Vergiss nie, dass du das alles nicht alleine durchstehen musst. In ein paar Tagen ist es vorbei, hörst du?"

Ich versuchte, so zuversichtlich wie nur möglich auszusehen. Aber würde es in ein paar Tagen wirklich vorbei sein, wie er sagte? Oder würde es in ein paar Tagen erst losgehen?

Es gab noch so viele Dinge, die ich klären musste. Die Prophezeiung des Buches, die Worte des alten Mannes in der Zelle neben mir, diese ganze Göttersache ...

Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. 

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °

halli.

Also Leute, es gibt eine kleine Planänderung ( ha ha ha .... wer hätte das gedacht ......).

Es wird wahrscheinlich doch nur noch ein Kapitel vor dem Epilog kommen, statt zwei. Also keine große Änderung. Aber eben eine Änderung.

Also kommende Woche kommt das Eeeeende! *freu*

Bis zum nächsten und letzten Kapitel, Freunde!

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