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Mein erster Eindruck bestätigte sich. Die Verlobte meines Bruders war wirklich nett. Sie hatte uns heute zu einem gemeinsamen Frühstück eingeladen – auch Eath. Ich war mir nicht sicher, ob sie vielleicht ahnte, dass zwischen ihm und mir etwas war oder ob es einfach nur Zufall war, dass wir zu viert an einem Tisch gelandet waren. Aber ich hatte mich ehrlich über die Einladung gefreut und über das leckere Essen erst recht.
Und während wir gemeinsam aßen, ließ ich es mir nicht nehmen, Nescan und Narah zu beobachten – wie sie miteinander umgingen, wie sie sich immer wieder liebevolle Blicke zuwarfen. Auch Eath und ich hatten bereits eine spürbare Verbindung aufgebaut, aber bis wir Nescans und Narahs Vertrautheit erreicht haben würden, würde noch einige Zeit vergehen müssen. Das ging nicht sofort, nicht, nachdem man erst zwei, drei Mal miteinander ausgegangen war. Dafür brauchte es mehr. Mehr Herausforderungen, die man gemeinsam meistern konnte, mehr gemeinsame Momente und mehr Liebe.
„Willst du noch ein Stück?", fragte Narah mich und deutete auf die übrig gebliebene Hälfte des Kuchens, den sie gebacken hatte.
„Er ist dir wirklich großartig gelungen, ehrlich, aber ich bin satt. Ich glaube, zuletzt habe ich einen so guten Kuchen bei Elyse gegessen. Sie hätte dich sofort nach dem Rezept gefragt ..." Zum Ende hin wurde ich leiser, als mir klar wurde, dass ich gerade zum ersten Mal über meine Zeit bei Thoan und den anderen Glyth gesprochen hatte. Seit ich hier war, hatte ich kein einziges Wort darüber verloren und wurde auch nie explizit danach gefragt.
„Haben sie dich gut behandelt?" Nescans Blick sprach Bände. Allein der Gedanke, dass ich mit den Glyth unter einem Dach gelebt hatte, ging ihm dermaßen gegen den Strich.
„Sie waren alle immer sehr freundlich. Ich ... keine Ahnung, ich habe sie wirklich als meine Freunde gesehen. Ich weiß, dass ihr nicht gut mit ihnen klarkommt und ihr euch nicht besonders mögt, aber mir sind sie tatsächlich ans Herz gewachsen mit der Zeit", erzählte ich und meinte es auch so. Manchmal fragte ich mich immer noch, was sie wohl wirklich über mich dachten. Ob jemand von ihnen mich vielleicht vermisste – nicht weil ich das Werkzeug war, das sie für das Erreichen ihres Ziels benötigten, sondern weil sie mich auch lieb gewonnen hatten. Hin und wieder quälte mich förmlich die Frage, ob vielleicht doch nicht alles eine Lüge gewesen war.
„Auch Thoan?", stellte Eath eine Frage, über die ich erst einen Moment nachdenken musste. Es war klar, dass ihn das besonders interessierte. Und möglicherweise wäre es schlauer gewesen, ihn diesbezüglich anzulügen. Aber da ich sowieso schon einige Geheimnisse vor ihm hatte, entschied ich, wenigstens bei solchen Dingen bei der Wahrheit zu bleiben.
„Ja. Auch er." Um ehrlich zu sein, überraschte mich diese Erkenntnis selbst ein wenig. Wir waren uns nie besonders nah gewesen, Thoan und ich. Aber er war derjenige gewesen, der mich aus dem Dacium geholt hatte – völlig egal, aus welchen Gründen. Er war derjenige, der mir seit einer langen Zeit wieder das Gefühl gegeben hatte, irgendwann mal wieder ein Zuhause haben zu können. Und trotz allem, was sonst noch gewesen war, war ich dankbar dafür.
Als wir einige Zeit später gemeinsam den Tisch abräumten und uns voneinander verabschiedeten, legte sich Nescans Blick auf Eaths Hand, die nach meiner gegriffen hatte. Ich konnte nicht erkennen, was er davon hielt. Er sah weder allzu glücklich über die offensichtliche Entwicklung der Ereignisse aus noch allzu enttäuscht oder wütend. Es war mehr ein stilles Hinnehmen der Tatsachen. Und vielleicht war es auch besser so. Ich war immer noch der Meinung, dass Nescan nicht das Recht dazu besaß, sich jetzt noch in mein Privatleben einzumischen. Nicht nach all der Zeit und erst recht nicht nach seiner Verlobung.
Eath und ich verließen das Esszimmer und traten in die Eingangshalle. Und schon während wir den Tisch abgeräumt hatten, war mir aufgefallen, dass Eath auffällig ruhig gewesen war. Ich war mir sicher, dass es an meinen Worten bezüglich der Glyth und Thoan lag. Und ich würde ganz bestimmt nichts von dem, was ich gesagt hatte, zurücknehmen, aber ich wollte auch nicht, dass er weiterhin so bedrückt war.
„Ist alles in Ordnung?", fragte ich also und blieb stehen. Da ich ihn immer noch an der Hand hielt, war auch er gezwungen, Halt zu machen.
Seufzend sah er mich an und schenkte mir dann ein halbherziges Lächeln. „Ja. Es ist einfach merkwürdig, verstehst du? Zu wissen, dass du mit Thoan unter einem Dach gelebt hast. Dass du mit ihnen vielleicht genauso wie gerade mit uns an einem Tisch gesessen und Spaß gehabt hast. Ich wusste, dass er dich zu sich geholt hatte und auch damals war ich alles andere als begeistert davon gewesen. Aber damals ... damals habe ich noch nicht das für dich empfunden, was ich jetzt empfinde. Und es hört sich bescheuert an, ich weiß, aber jetzt stört mich das alles auch deutlich mehr." Ich sah ihm an, dass er das alles eigentlich nicht so gerne zugab und umso höher rechnete ich es ihm an, dass er so ehrlich mir gegenüber war. Gleichzeitig aber kam wieder das schlechte Gewissen in mir auf – ich hatte ihm auf Craves Rat hin nichts von den Geschehnissen während des Trainings erzählt. Aber wenn ich so vor ihm stand und er mir seine Gefühle offenlegte, fragte ich mich, ob es vielleicht die falsche Entscheidung war, Stillschweigen zu bewahren. Würde dieser Mann, dieses Lächeln, diese liebenswürdige Seele, mich wirklich hintergehen?
„Es braucht dich nicht zu stören", versicherte ich ihm. „Es hätte dich stören müssen, wenn sie mich schlecht behandelt hätten. Aber das haben sie nicht. Vielleicht aus falschen Gründen, aber sie waren nett zu mir. Manchmal frage ich mich sogar, ob es unter Umständen möglich sein könnte, dass ich sie irgendwann einmal wiedersehe und -"
Die Eingangstüren flogen auf und zwei von Argmis' Untergebenen betraten die Halle. Man sah sofort, dass es sich nicht um einfache Wachen handelte, es waren Kämpfer, Leute, die Argmis auf besondere Einsätze schickte. Ihre Kampfausrüstung und Statur sprach für sich.
Aber es waren gar nicht die zwei Männer, die mich sprachlos und wie erstarrt die Szenerie vor mir beobachten ließen. Es war die verfluchte Ironie des Schicksals.
Denn zwischen sich zogen die zwei Männer eine kraftlose Glyth mit. Ihre Handgelenke waren gefesselt und Blut lief aus einer Wunde an ihrer Schläfe.
„Kirani", hauchte ich und konnte einfach nicht fassen, was sich gerade vor meinen Augen abspielte. Mit der wenigen Kraft, die ihr wohl noch geblieben war, drehte sie sich zu mir und für einen kurzen Moment weiteten sich ihre Augen. Es war keine Überraschung, die in ihrem Blick stand, mehr eine Art Erkenntnis, als hätte sie etwas gefunden, was sie die ganze Zeit gesucht hatte.
Mich.
„Wo bringen sie sie hin?", stieß ich völlig überfordert hervor und griff nach Eaths Unterarm, um mich selbst davon abzuhalten, etwas Blödes zu tun.
„So wie sie aussieht ... wahrscheinlich nach unten ins Verlies."
Sie würden sie gefangen nehmen. Würden sie einsperren. Und ich wollte nicht wissen, was sie danach erwarten würde. Ich konnte mich noch gut an Craves Worte erinnern, als ich ihn damals auf dem Weg nach Nydra gefragt hatte, was es für mich bedeuten würde, mit ihnen zu den Astóric zu kommen. Er hatte mich vor den Gesetzen dieses Volkes gewarnt und vor allem vor ihren Bestrafungen. Damals hatte ich dem nicht allzu viel Bedeutung zugemessen, aber nun war es etwas anderes. Nun könnten diese Bestrafungen jemanden treffen, den ich kannte. Den ich mochte.
Es dauerte nur Sekunden, die mir aber vorkamen wie Stunden, bis die Männer an uns vorbei gelaufen und eine Treppe hinter einer Tür auf der anderen Seite der Halle nach unten genommen hatten.
„Allyra, geht es dir gut?", flüsterte Eath, aber ich konnte ihm gerade nicht auf seine Fragen antworten.
„Warum ist sie hier?", entgegnete ich stattdessen und konnte meinen Blick einfach nicht von der Tür abwenden, hinter der sie gerade verschwunden waren. Verdammt, ich hatte noch nicht einmal gewusst, dass es in diesem Anwesen ein Verlies gab.
„Das weiß ich nicht, aber ich werde es herausfinden." Vielleicht war es paranoid und vielleicht ließ ich mich auch viel zu sehr von meinen Zweifeln leiten, aber ich merkte, dass Eath nicht erwähnte, dass er mich darüber informieren würde, sobald er mehr wusste. Ob er es einfach nur nicht dazusagte oder ob er es absichtlich nicht dazusagte, wusste ich nicht.
„Kann ich zu ihr?", stellte ich also die nächste logische Frage. Und obwohl ich tief in meinem Inneren bereits mit einer solchen Antwort gerechnet hatte, breitete sich die Enttäuschung in mir wie ein Lauffeuer aus.
„Nein, ich denke, das ist keine gute Idee. Offensichtlich hat es einen Grund, dass sie sie gefangen genommen haben. Du solltest dich wirklich von ihr und den anderen Glyth fernhalten."
Ich drehte mich zu ihm und sagte mit aller Überzeugung, die ich aufbringen konnte: „Sie ist meine Freundin." Ich sagte es, obwohl ich nicht einmal wusste, ob es der Wahrheit entsprach. Aber ich musste zu ihr und dafür brauchte ich jemanden, der hier genug Autorität besaß, um mich nach unten schaffen zu können. Mir war klar, dass man mich alleine niemals durchlassen würde. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass jeder nach Lust und Laune zu den Gefangenen spazieren konnte.
„Vielleicht denkst du so. Aber sie nicht. Und ich will dich nicht in ihrer Nähe wissen", sagte Eath trotz meinem Einwand.
„Sie ist deine Halbschwester. Macht es dir überhaupt nichts aus, dass sie jetzt da unten ist? Hast du sie gesehen? Sie war völlig fertig!" Es war wahrscheinlich nicht fair, den Versuch zu starten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber es war der einzige Weg, der mir in diesem Moment noch einfiel.
Eaths Ausdruck veränderte sich, wurde noch entschlossener, ernster und unnachgiebiger. „Ganz genau, sie ist meine Halbschwester. Und ich kenne sie länger und vor allem besser als du. Sie hat ihre guten Seiten. Aber solange sie an Thoans Seite steht, können wir ihr nicht trauen." Dann wandte er sich ab und machte sich ohne mich auf den Weg nach oben. Mitten auf den Treppen blieb er noch einmal stehen. „Ich weiß, dass du meine Einstellung vielleicht nicht nachvollziehen kannst. Aber Thoan hat den Tod meiner Mutter zu verantworten. Und das werde ich ihm nie im Leben verzeihen können. Also versuch nie wieder, unsere Verwandtschaft für irgendetwas auszunutzen." Er machte eine kurze Pause. „Es wird nämlich nicht funktionieren."
>>>*<<<
Ich wollte es nicht tun. Jede Zelle in meinem Körper wollte sich dagegen wehren, aber es war nun mal der einzige Ausweg, den ich sah. Eath wollte mir nicht helfen und ich würde ihn, besonders nach unserem Gespräch, ganz bestimmt nicht noch einmal danach fragen. Also brauchte ich einen anderen Plan, eine andere Lösung. Und alles, was mir einfiel, war Crave.
Ein paar Stunden später suchte ich ihn im ganzen Anwesen. In den Küchen, Esszimmern, in der Trainingshalle, im Hof, überall. Ich fand sogar heraus, wo sich sein Zimmer befand, aber als ich dort anklopfte, begegnete mir nichts als Stille. Eine geschlagene Stunde lief ich umher und suchte ihn. Ohne Erfolg.
In dem Gang, in dem sein Zimmer lag, hatte ich dann aber doch noch Glück. Zwar fand ich nicht Crave, aber traf auf Prijan, der mir mit einem Grinsen entgegenkam.
„Hast du dich verlaufen?", stichelte er. „Oder sehe ich das richtig und du wolltest zu unserem kleinen Prinzchen?"
Erleichtert blieb ich vor ihm stehen und hätte ihn am liebsten umarmt. Und es war mir sogar völlig egal, dass er mich gerade ärgern wollte. Ich war einfach nur froh, jemanden gefunden zu haben, der mir vielleicht sagen konnte, wo Crave war.
„Weißt du, wo er ist?" Die Hoffnung in meiner Stimme schwang in jedem Wort mit.
Und das merkte auch Prijan, als er etwas verwirrt antwortete: „Ja, er ist in Cohadon, dem Ort, an dem die Kämpfer der Astóric ausgebildet werden. Er muss dort einiges erledigen. Ich weiß jedoch nicht, wie lange er dort bleiben wird. Erfahrungsgemäß wird es aber eine Weile dauern, bis er wieder da ist."
„Du meinst, er kommt heute nicht mehr zurück?"
„Ich meine, er kommt auch morgen und übermorgen nicht zurück. Und am Tag darauf wahrscheinlich auch nicht", antwortete Prijan und als er die Verzweiflung in meinem Gesicht erkannte, runzelte er besorgt die Stirn.
„Was ist denn los? Was ist passiert?"
Ich sah zu ihm hoch und überlegte, was ich tun sollte. Eath war keine Option, Crave war nicht da, Nescan brauchte ich wahrscheinlich auch gar nicht erst zu fragen ...
„Ich brauche Hilfe. Und ich habe gehofft, Crave könnte vielleicht ..." Ich seufzte. „Ich muss nach unten ins Verlies. Sie haben heute eine Gefangene dorthin gebracht und ich muss mit ihr reden", erklärte ich schließlich die Situation.
Ich wollte schon etwas hinzufügen, als Prijan nicht sofort antwortete, sondern mich einfach nur ansah. Und das, ohne den geringsten Hinweis darauf zu geben, was in seinem Kopf vorging. Dann aber sagte er: „Eath will dich nicht hinbringen, oder?"
Ich schluckte und schüttelte verbittert den Kopf.
„Was willst du von dieser Gefangenen?", fragte er dann.
Ich biss mir auf die Lippe. „Ich will nur mit ihr reden. Ich will wissen, was passiert ist, warum sie hier ist. Nicht mehr." Das war die Wahrheit, jedenfalls für den Moment. Ob sich das vielleicht nach meinem Gespräch mit Kirani ändern würde, wusste ich noch nicht.
„Ich hoffe, dir ist klar, dass Eath zuerst mir und dann dir den Kopf abreißen wird, wenn er davon erfährt", stellte Prijan trocken fest und hob eine seiner dunklen Augenbrauen.
„Heißt das ... heißt das, du hilfst mir?" Völlig überrumpelt von der plötzlichen Freude, die ich empfand, schlang ich die Arme um ihn und drückte ihn mit aller Kraft, ohne eine Antwort abzuwarten. „Danke, danke, danke! Wirklich, du glaubst gar nicht, was für einen Gefallen du mir damit tust. Ich schulde dir was!"
Ich hörte ihn leise lachen, bevor er seine gigantischen, muskulösen Arme um mich legte. „Crave hätte mich wahrscheinlich verprügelt, wenn er erfahren hätte, dass ich abgelehnt habe, dir zu helfen. Völlig egal bei was."
„Hätte er nicht", entgegnete ich. Als Antwort erhielt ich aber wieder ein tiefes, leises Lachen, das in seiner Brust vibrierte. Ich verstand, warum Crave ihn mochte. Prijan war ein sehr angenehmer, sympathischer und humorvoller Mensch. Und das dachte ich nicht nur, weil er gerade eingewilligt hatte, mich zu Kirani zu bringen.
Vielleicht würde auch ich mit der Zeit einen guten Freund in ihm finden.
„Ich bringe dich morgen früh zu ihr. Am besten dann, wenn die meisten noch schlafen. Ich würde es gerne vermeiden, Eath auf dem Weg dorthin zu begegnen", sagte Prijan und ich trat wieder einen Schritt zurück.
„Abgemacht. Ich verspreche, es wird keine Probleme nach sich ziehen."
Erst nachdem ich die Worte bereits ausgesprochen hatte, musste ich daran denken, dass man lieber immer zweimal darüber nachdachte, ob man ein Versprechen gab. Denn oftmals war es schwerer, es zu halten, als es zu brechen.
° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
Hola.
Biddeschön Freunde, da haben wir die Glyth also wieder. Es haben sich ja schon einige von euch gefragt, wo die denn abgeblieben sind 🤠
Hoffe, euch hat das Kapitel gefallen und ihr seid schon gespannt auf das, was in den wenigen restlichen Kapiteln noch alles passieren wird 🥳
Frage(n) für dieses Kapitel:
1. Was haltet ihr von Prijan?
2. Könnt ihr Eaths Entscheidung, Allyra nicht ins Verlies zu bringen, nachvollziehen?
Tschüssili!
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