26


Obwohl es schon über zehn Jahre her war, erinnerte ich mich an den brennenden Schmerz in meiner Brust, als wäre es gestern gewesen. An die Schuldgefühle, die mich monatelang – ja, sogar jahrelang – Nacht für Nacht verschlungen hatten. Manchmal träumte ich immer noch von dem Blut, das sich im Schnee verteilt hatte. Sah immer noch Bilder von ihm, wie er kraftlos auf dem Boden lag und in den Himmel starrte. Bei Recáh, es war die Hölle gewesen. Nicht nur seinen angeblichen Tod mitzuerleben, sondern auch es zu verarbeiten. Und ich glaubte, ich hatte es bis heute noch nicht richtig geschafft.

Dass Nescan nun also lebendig vor mir stand, beförderte mich in einen solchen Schockzustand, dass ich mich kaum rühren konnte. Ich hatte ihn lachen gehört, bevor er dort oben am Treppenabsatz stehengeblieben war – sein tiefes, warmes Lachen, das ich nie im Leben wiedererkannt hätte. Und er sah gut aus, gesund und stark ... die letzten zehn Jahre hatten nicht viel geändert. Nur der dunkle Bartschatten und sein Haar, welches nicht mehr so kurz war wie damals, deuteten darauf hin, dass Zeit vergangen war.

„Ally..." Sein Flüstern breitete sich in der gesamten Eingangshalle aus, hing in der Luft wie dunkle Wolken, kurz bevor es anfing zu regnen. Nur er hatte mich immer so genannt. Das war sein ganz persönlicher Spitzname für mich gewesen. Und ich hatte ihn schon so lange nicht mehr gehört, dass sich beim Klang dieses Wortes alles in mir zusammenzog.

Warum war er hier? Warum lebte er? Und warum hatte ich nichts davon gewusst?

„Hey, atme ...", ertönte ein sanftes Flüstern neben mir, aber da meine gesamte Konzentration auf dem Mann lag, der sich nun auf den Weg nach unten – auf den Weg zu mir – machte, konnte ich nicht mal einordnen, ob es von Eath oder Crave kam.

Nescans braune Augen blickten mich bestürzt an. Nur noch wenige Meter trennten uns von einander. Ich hätte einfach ein paar Schritte nach vorne machen müssen, um ihn zu umarmen, um mich an ihn zu schmiegen und das Klopfen seines Herzens zu hören. Aber ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ein unkontrolliertes Zittern hatte meinen Körper erfasst und als mein Bruder den Abstand zwischen uns weiter verkürzte, wurde es stärker. Vorsichtig streckte er eine Hand nach mir aus.

Und dann wusste ich plötzlich, was der Baum der Wahrheit mir hatte sagen wollen. Aber wie hätte ich auch so viel in die wenigen Bilder, die mir der Baum gezeigt hatte, interpretieren können? Dass er noch leben könnte, hatte ich nicht für eine Sekunde vermutet. Nie. Ich hatte schon oft in Gedanken durchgespielt, wie ein erneutes Treffen mit Nescan ablaufen könnte. Wie ich überglücklich auf ihn zurennen und er mich mit Freudentränen in den Augen an sich drücken würde. Wie ich mich fühlen würde, meinen großen Bruder endlich wieder bei mir zu haben. Aber diese Vorstellung hatte sich nie in diesem Leben abgespielt. Dieses Wiedersehen hätte erst nach meinem Tod stattfinden müssen. Nicht heute. Nicht hier.

Und je länger ich ihn ansah, je länger ich versuchte zu begreifen, was gerade passierte, desto größer wurde der Riss in meinem Herzen. Natürlich, ja, ich war überwältigt, ihn zu sehen, zu wissen, dass er nicht tot war. Dass er vielleicht sogar ein glückliches Leben geführt hatte. Aber in diesem Moment drängte sich ein Gedanke mit aller Macht in den Vordergrund: Er hatte mich verlassen. Er hatte nicht versucht, mich zu finden. Oder hatte er? Aber ich konnte einfach nicht glauben, dass es ihm in zehn Jahren nicht hatte gelingen können. Vor allem, weil er offensichtlich nicht auf sich alleine gestellt gewesen wäre, wie mir sein Aufenthalt bei der Königsfamilie der Astóric verriet. Also was hatte ihn verdammt nochmal davon abgehalten, mir wenigstens Bescheid zu geben, dass er nicht irgendwo verrottete?

„Ich kann nicht glauben, dass du hier bist", murmelte Nescan und musterte mich aufmerksam. Doch als er kurz davor war, mich zu berühren, wich ich ruckartig zurück.

„Fass mich nicht an", hauchte ich tonlos.  Verflucht, wie lange hatte ich geglaubt, ich hätte ihn zurückgelassen. Aber wie sich nun herausstellte, war es genau umgekehrt gewesen. Ich wurde zurückgelassen. Nicht er.

Neben der unbändigen Fassungslosigkeit, rührte sich ein weiteres Gefühl in mir: Scham. Und Schuld. Ich hätte mich einfach nur freuen müssen, ihn zu sehen. Es hätte mir egal sein müssen, warum er noch lebte. Das alles hätte keine Bedeutung für mich haben müssen. Aber so war es nicht und ich konnte nichts dagegen tun.

„Ally, lass es mich erklären. Es ist nicht so, wie du denkst." Ich glaubte ihm. Ehrlich, immerhin konnte ich spüren, dass er die Wahrheit sagte. Aber so wie er hier herumspaziert war – so unbeschwert, unbewacht und als hätte er alle Freiheiten –, sah ich einfach nicht das Problem. Warum war er nicht gegangen und hatte nach mir gesucht? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass jemand ihn aufgehalten hätte. Mein Verstand stellte sich gerade gegen meinen Instinkt. Und mein Herz befand sich irgendwo mitten in diesem Chaos. Ich war verwirrt und verunsichert – die letzten zehn Jahre meines Lebens waren eine verdammte Lüge gewesen!

Als er mir erneut näher kommen wollte, drängte sich plötzlich Crave zwischen uns. Sein breiter Rücken schirmte mich vor Nescan ab. „Lass es gut sein. Gib ihr etwas Zeit", hörte ich ihn eindringlich sagen, aber das hatte nur zur Folge, dass Nescan wütend wurde. So war er – es war noch nie eine gute Idee gewesen, ihn von etwas abhalten zu wollen.

„Geh mir aus dem Weg, Crave", fauchte er. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich war sicher, dass er die Augenbrauen zusammengezogen hatte und seine Lippen einer schmalen Linie glichen. „Sie ist meine Schwester."

„Das weiß ich. Trotzdem werde ich nicht zulassen, dass du dich ihr näherst, wenn sie das nicht will." Ein drohender Unterton schwang in Craves Stimme mit. Ich wollte nicht, dass sie sich wegen mir stritten, auch wenn ich nicht wusste, in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Ob sie Freunde waren oder sich nicht leiden konnten ... ich hatte keine Ahnung. Und da wurde mir auch schmerzlich bewusst, dass ich überhaupt nichts über Nescan wusste. Nicht mehr. Viel zu viel Zeit war vergangen, um behaupten zu können, ich würde wissen, was sein Lieblingsessen war, was er gerne in seiner Freizeit tat, ob er den Winter immer noch so mochte wie damals – er war zwar mein Bruder, aber ich war mir nicht sicher, ob uns heute noch so viel verband wie vor zehn Jahren.

„Ich frage mich eher, warum du in ihrer Nähe bist. Was habt ihr beide euch dabei gedacht?! Das gefällt mir genauso wenig wie dein unnötiges Beschützergehabe. Wenn du es auch nur wagst, sie anzufassen-"

„Jungs, kommt runter", mischte sich nun Eath ein und versuchte wohl, die Situation zu entschärfen. „Ihr macht es nur noch schlimmer." Ich sah zu ihm und als seine dunklen, violetten Augen auf meine trafen, erfasste mich eine Gänsehaut. Er war kein Mörder. Ich hatte ihn so lange gehasst, ihn für etwas beschuldigt, das er offensichtlich gar nicht getan hatte. Mein Bruder und er standen gerade nebeneinander und schienen nicht das kleinste Problem damit zu haben, sich im selben Raum aufzuhalten.

Als sich Eathirans Mund zu einem entschuldigenden und gleichzeitig mitfühlenden Lächeln verzog, verstand ich. Er hatte es mir sagen wollen, aber der magische Eid musste ihn davon abgehalten haben. Ich hatte es mit eigenen Augen sehen müssen. Das war es, wovor er mich hatte warnen wollen. Aber keines seiner Worte hätte mich darauf vorbereiten können.

„Du hättest auf sie aufpassen müssen! Warum ist sie jetzt hier?!", keifte Nescan nun Eathiran an, statt auf seine Worte zu hören. „Wenn ihr etwas zustoßen sollte, weil du deinen Job nicht erledigt und er seinen Kopf nicht benutzt hat ... verdammt! Was ist nur in euch gefahren?!"

Ich hörte diesen ganz bestimmten Unterton heraus, der schon vor vielen Jahren darauf hingedeutet hatte, dass Nescan kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren. Und obwohl ich mich überhaupt nicht in der Lage dazu fühlte, trat ich hinter Crave hervor und sah meinem Bruder, dem Menschen, den ich mehr liebte als alles andere auf dieser Welt, in die Augen. So viele Emotionen spiegelten sich in seinem Blick wider, ich konnte förmlich sehen, dass er sich die größte Mühe geben musste, um mich nicht sofort in eine Umarmung zu schließen. Und dabei war es genau das, was ich mir tief in meinem Inneren wünschte. Nur schaffte ich es einfach nicht, diesem Wunsch nachzugeben.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Nescan die Stille mit seinem Flüstern durchbrach. „Gott, ich habe dich so vermisst ..."

„Warum?", konnte ich nur ein schwaches Murmeln hervorbringen. „Warum bist du nie zurückgekommen? Ich hätte dich gebraucht." Meine Stimme brach und eine einsame Träne bahnte sich einen Weg über mein Gesicht. Der Zwiespalt in meinem Inneren zerriss mich. Einerseits wollte ich einfach alles vergessen und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte, wie sehr ich mich freute, ihn zu sehen. Und andererseits war da diese unerbittliche Enttäuschung. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich durchmachen musste? Du warst alles, was ich hatte. Verflucht, ich war elf! Ich war ein Kind! Kannst du dir vorstellen, wie oft ich fast umgebracht, fast vergewaltigt, wie oft ich ausgeraubt und wie oft ich unter freiem Himmel habe schlafen müssen?!" Die Vorwürfe sprudelten unaufhörlich aus mir heraus. Ich wollte, dass er hörte, was er mir mit seinem Verschwinden angetan hatte. Und ich war nicht sicher, ob das nicht schlimmer war als die Lüge, mit der ich hatte leben müssen. Diese Seite an mir, diese Wut, dieser Drang, ihn das Gleiche empfinden zu lassen, war einfach nur grausam. Es war traurig.

„Du warst nie allein, Ally. Eath hätte nie zugelassen, dass dir etwas passiert", widersprach Nescan.

„Ganz genau", zischte ich. „Eath hätte es nicht zugelassen. Aber du bist mein Bruder, du hättest bei mir sein müssen! Nicht er!"

Es war so surreal, ihm gegenüber zu stehen und mit ihm zu streiten. Gestern noch hätte ich mir nichts mehr gewünscht, Hauptsache er wäre hier. Und ja, es wäre gelogen, hätte ich behauptet, ich würde nicht eine überwältigende Dankbarkeit empfinden. Dankbarkeit dafür, dass er noch atmete, dass es ihm gut ging und ich noch in diesem Leben die Gelegenheit bekam, ihn wieder bei mir zu haben. Es war wahrscheinlich das größte Geschenk, das mir das Schicksal hätte machen können. Nur der dunkle Schatten der letzten zehn Jahre machte es etwas schwer, diese Dankbarkeit zu zeigen.

Ich sah, wie er sich anspannte. „Das war nicht möglich. Ich konnte nicht." Wieder die Wahrheit. Und tatsächlich vermochte dieses Geständnis, die Wut in mir ein wenig zu lindern. „Aber glaub nicht für eine Sekunde, dass ich es nicht getan hätte, wäre die Situation anders gewesen." Seine Worte und die Aufrichtigkeit in seiner Stimme schnürten mir die Kehle zu. Es tat so weh, ihn hier stehen zu sehen und zu wissen, dass all die Trauer, all die Schuld und der Hass auf Eathiran umsonst gewesen waren. Wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass er gar nicht gestorben war? Hätte es etwas geändert? Natürlich hätte es das.

„Ich werde dir alles erklären, aber bitte stoß mich nicht weg. Wende dich nicht von mir ab", bat Nescan. Aber darüber brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Denn obwohl ich wütend war, obwohl ich mich verraten fühlte, würde ich mich niemals von ihm abwenden. Dafür liebte ich ihn zu sehr und daran konnte keine Lüge dieser Welt etwas ändern. Er war mein großer Bruder, alles, was ich von meiner Familie noch hatte. Und ich würde es nicht riskieren, ihn wieder zu verlieren. Nicht, wenn es sich verhindern ließ.

Ich schluchzte auf. Wie sehr wollte ich ihm sagen, dass auch ich ihn mit jeder Faser meines Körpers vermisst hatte. Aber die Worte kamen mir einfach nicht über die Lippen. In mir herrschte ein unglaubliches Gefühlschaos und es würde wahrscheinlich eine Weile dauern, bis ich dieses geordnet haben würde. Mit der Zeit würde ich die Wut und die Enttäuschung bekämpfen, da war ich mir sicher. Und ich hoffte sehr, dass die Erklärung, die er mir versprochen hatte, hilfreich sein würde. Ich wollte nicht wieder zehn Jahre warten, um meinen Bruder wiederzubekommen. Ganz und lebendig und ehrlich und ohne den bitteren Beigeschmack, den dieses Wiedersehen im Moment noch hatte.

„Was ist hier los?" Gleichzeitig drehten wir uns alle zu der tiefen Stimme um, die von oben ertönt war.

Am liebsten hätte ich erschöpft geseufzt. Als wäre die Sache mit Nescan nicht schon genug für meine Nerven gewesen, tauchte jetzt auch noch Craves Vater auf. Das war nicht schwer zu erraten, dank der silbernen Krone, die er trug. Sie war nicht großartig verziert oder besonders auffällig, aber sie war nun mal da und auch keineswegs zu übersehen.

Er beeilte sich nicht, während er Stufe für Stufe hinter sich ließ und dann zu uns trat. Bisher hatte keiner ihm geantwortet – wahrscheinlich weil niemand so genau wusste, was eine gute Antwort gewesen wäre. Wie hätte man diese Situation auch kurz erklären sollen?

Wider Erwarten fragte der König jedoch nicht noch einmal nach, stattdessen ruhte sein Blick unverwandt auf mir. Ich verbeugte mich nicht, wich nicht zurück und senkte auch nicht den Kopf – nachdem ich nun Nescan gesehen hatte, kam mir dieses Aufeinandertreffen nicht mal mehr annähernd so bedeutend oder wichtig vor wie zuvor.

Obwohl ich mir sicher war, dass der König meinen Zustand als genauso aufgelöst erkannte, wie er war, zeigte sich keine Regung in seinen Zügen. Er nahm es einfach hin wie eine unabänderliche Tatsache.

Ich wusste nicht genau, wie ich ihn mir vorgestellt hatte – ob ich überhaupt eine bestimmte Erwartung an sein Aussehen gehabt hatte. Aber Crave und er sahen sich nicht besonders ähnlich. Nur die Augenpartie verriet, dass sie verwandt sein mussten. Im Gegensatz zu seinem Sohn hatte König Argmis schmale Lippen, die von dem strengen Zug um seinen Mund unterstrichen wurden. Auch der kleine Höcker auf seiner Nase war bei Crave nicht vorhanden. Die Falten, die sich auf seiner Stirn und um seine Augen und Mundwinkel abzeichneten, ließen darauf schließen, dass er nicht mehr der Jüngste war.

„Eathiran. Crave. Auf ein Wort", sagte er dann plötzlich und drehte sich um. Ohne auf die beiden Männer zu warten, machte er sich auf den Weg zu einer der Türen, die auf der rechten Seite der Eingangshalle waren. Ich betrachtete seine Kleidung, die für einen König recht schlicht war. Nicht zu vergleichen mit Ceszias Kleidungsstil, das war gewiss. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Stoffhemd, welches an den Schultern mit silbernen Elementen verziert war. Nur die Krone und die Macht, die bei jedem seiner Schritte mit zu hallen schien, verrieten, wer er wirklich war.

„Nescan, kümmere dich solang um deine Schwester." Es hätte mich wahrscheinlich überraschen müssen, dass er wusste, wer ich war. Aber aus irgendeinem Grund tat es das nicht. Vielleicht, weil das Maß an Überraschungen für heute bereits ausgeschöpft war ...

Ein Blick zu Eath und Crave verriet mir, dass weder der eine noch der andere allzu begeistert davon war, gleich ein Gespräch mit dem König führen zu müssen. Ohne Widerworte folgten sie ihm, aber nicht ohne Nescan noch einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Als die Tür hinter den dreien ins Schloss fiel und nur noch mein Bruder und ich übrig waren, wusste ich nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Was ich sagen sollte. Also stand ich einfach nur da, den Blick auf den dunklen, polierten Boden vor mir gerichtet, und wartete.

Dann hörte ich Nescans leises Seufzen. Eine unglaubliche Schwere lag darin. „Komm, wir suchen dir ein Zimmer, damit du dich ausruhen kannst."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top