23


Nachdem ich etwas gegessen hatte, hatte ich mich ins Bett gelegt, die dünne Decke über mich gezogen und das Buch aufgeschlagen. Man konnte sehen, dass es schon sehr alt war, aber es war dennoch in einem einigermaßen guten Zustand. Für das Alter wahrscheinlich sogar in einem phänomenalen Zustand. Yilana hatte mir erzählt, dass nur alle dreihundert Jahre ein Mädchen mit meiner Gabe geboren wurde. Und da ich davon ausging, dass es dieses Buch nicht erst seit meiner Geburt gab, sondern auch schon seit der Geburt anderer solcher Mädchen: Ja – definitiv ein phänomenaler Zustand.

Obwohl ich mir gerne Zeit gelassen und jede einzelne Seite genaustens unter die Lupe genommen hätte, empfand ich es als gute Idee, mich zu beeilen. Wer wusste schon, ob Eathiran mir das Buch nicht doch noch wegnehmen würde, sobald er zurück war? Also fing ich an zu lesen. Ich musste mich konzentrieren, um den Text richtig verstehen zu können. Er war in altem Ocilisch verfasst worden und es dauerte eine Weile, bis ich auch wirklich alles entziffert hatte.

Alles auf der Welt hat ein Gegenstück. Einen Gegensatz, der das Gleichgewicht aufrecht erhält. Auch die Göttin Recáh, mit der Reinheit und dem Guten im Herzen, besitzt einen solchen Gegenpol: Den Gott Rhiadan, den die Schatten umgeben und das Dunkel verfolgt. Beide Götter hatten ein Kind. Riscéa war die Tochter Recáhs, Ceraes der Sohn Rhiadans. Auch diese beiden Kinder waren so gegensätzlich, dass keine Zweifel blieben: Sie setzten das Erbe ihrer Eltern fort. Doch das Schicksal hatte andere Pläne: Riscéa und Ceraes verliebten sich und gingen eine Verbindung ein, sodass jenes zeitlose Gleichgewicht aus den Fugen geriet. Als Strafe wurden beide sterblich. Doch das Leuchten Riscéas und das Dunkel Ceraes' gingen nicht verloren. Alle dreihundert Jahre werden seitdem ein Mädchen und ein Junge mit den Kräften der Götter geboren. Und sollte es jemand schaffen, beide unversehrt den Göttern wiederzubringen, wird dieser im Gegenzug mit einer unvergleichlichen Macht belohnt. Doch sollte nur eines der Kinder zurückkehren, so wird der Zorn des Gottes, dessen Kind verloren bleibt, den wiedergekehrten Erben treffen und ihn töten.

Ich legte das Buch ab und starrte auf die hölzerne Decke über mir. Es gab nicht nur mich. Nicht nur die Gabe der Riscéa. Irgendwo musste es einen Mann geben, der die Gabe des Ceraes in sich trug. Und nun wurde mir auch klar, warum Thoan ein solches Interesse an mir hatte. Er wollte diese Macht, von der das Buch sprach, diese unvergleichliche Macht. Und ich war das Mittel zum Zweck. Aber wusste er denn, dass ich sterben würde, sollte er nur mich zurückbringen? Wo auch immer dieser Ort sein würde, an dem ich den Göttern übergeben werden sollte. Hatte er vielleicht den Erben Ceraes' bereits gefunden? Irgendetwas musste dem Glyth noch gefehlt haben, sonst hätte er mich schon längst den Göttern überlassen, da war ich mir sicher. Die Frage war nur: Was genau fehlte ihm? Ein Stechen ging durch meine Brust und ich wusste, dass es Enttäuschung war, die ich verspürte. Eine Zeit lang hatte ich tatsächlich geglaubt, er würde mir einfach nur helfen und ein Zuhause geben wollen. Ich hatte mich geirrt. Und die anderen Glyth...sie mussten davon gewusst haben. Natürlich wussten sie davon. Und keiner von ihnen hatte auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verloren, dass ich geopfert werden sollte. Selbst Kirani nicht.

Als ich wieder weiterlesen wollte, ging ein Beben durch die Hütte, so stark, dass ich mich für einen Moment am Bettrand festkrallte. Alarmiert setzte ich mich auf und legte das Buch zur Seite. Irgendetwas stimmte nicht und...ich war alleine. Ich stöhnte genervt auf. Ich hätte es wissen müssen.

Ich sah mich um, doch in der Hütte selbst hatte sich nichts verändert. Also stand ich auf und lief zu einem der Fenster, nur um dank des Mondscheins zu sehen, was ich definitiv nicht sehen wollte: Ich war doch nicht allein. Zwei Unbekannte standen etwa zwanzig Meter von der Hütte entfernt, während einer von ihnen gerade seine ausgestreckte Hand sinken ließ. Sie hatten den Zauber aufgehoben – was sonst? Ich hatte keine Ahnung, wie sie die Hütte gefunden hatten und wie sie die Magie umgehen konnten, aber sie hatten es getan. Eathiran war so überzeugt davon gewesen, dass ich sicher sein würde. Da war ich wohl nicht die Einzige, die sich hin und wieder mal täuschte.

Es mussten magisch Begabte sein, jedenfalls ging ich davon aus. Und das war gar nicht gut. Um genau zu sein, war es eine verdammte Katastrophe. Ich hätte nie im Leben eine Chance gegen einen magisch Begabten, ganz zu schweigen davon, dass es zwei waren. Trotzdem drehte ich mich um und ließ mich auf den Boden sinken, um schnell und möglichst leise auf allen Vieren zum Tisch zu kriechen. Dann schnappte ich das Messer vom Tisch. Es war das Einzige in dieser Hütte, das einer Waffe gleichkam. Jedenfalls hatte Eathiran keinen Waffenschrank oder ähnliches erwähnt, also ging ich davon aus, dass dieses Messer die einzige Verteidigung war, die mir zur Verfügung stand. Nur um es noch einmal klarzustellen: Das war nicht gut.

Zusammen mit dem Messer kroch ich wieder zum Fenster und versuchte, vorsichtig und vor allem unauffällig nach draußen zu schauen. Ich wusste nicht, was die beiden wollten und was sie mit mir vorhatten. Ob sie mich auch zu Recáh zurückbringen wollten und nach der versprochenen Macht gierten? Wahrscheinlich. Und in diesem Moment kam mir ein weiterer Gedanke, den ich bisher nicht zugelassen hatte: Wollte Eathiran dasselbe? Aber...er hatte gesagt, dass er mir nicht schaden wollte. Und es war die Wahrheit gewesen. Andererseits könnte es natürlich durchaus sein, dass ich alles falsch interpretierte und einfach noch nicht ganz verstand, worum es ging. Doch dafür war jetzt keine Zeit, ich würde mir später Gedanken darüber machen, wer mich nur ausnutzen und wer mir wirklich helfen wollte. Auch, wenn ich befürchtete, dass es unheimlich schwer werden würde, das herauszufinden.

Die beiden Männer sprachen über etwas und als einer der beiden auflachte, deutete er dabei direkt auf die schöne Hütte, in der ich mich befand. Wahrscheinlich feierten sie bereits ihren Erfolg. Woher wussten sie überhaupt, dass ich hier sein würde? Konnten sie mich verfolgen? Instinktiv sah ich an meinem Körper herab und tastete mich ab. Nichts. Alles so, wie es sein sollte. Auch als ich mich zuvor umgezogen hatte, war mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Ich musste irgendetwas unternehmen, aber ich wusste einfach nicht was. Es gab keinen Hinterausgang und verstecken war bei aller Mühe einfach nicht möglich. Ich ging nicht davon aus, dass es Sinn machte, sich unter dem Bett zu verkriechen. Soviel Hirn traute ich den beiden zu, wenigstens mal nachzusehen. Also war die einzige Möglichkeit, die ich sah, sich dem Ganzen entgegen zu stellen und zu improvisieren. Vielleicht würde es mir einen Vorteil verschaffen, wenn ich ihnen zuvorkam und die Hütte verließ, bevor sie eintreten konnten?

Ich musste mich entscheiden. Das war mal wieder einer dieser Momente, in denen ich wünschte, jemand anderes könnte das für mich tun. Einer dieser Momente, in denen ich lieber nicht versagen sollte.

Mir war kotzübel.

Ich war überhaupt nicht scharf darauf, die Gefangene von magisch Begabten zu werden. Wenn sie auch nur halb so einschüchternd waren wie Ceszia, dann konnte ich einpacken. Um genau zu sein, war mir die Lust gehörig vergangen, an irgendjemanden gebunden, von irgendjemandem gefangen zu sein oder ausgenutzt zu werden. Und dieser Gedanke, vielleicht handelte es sich auch eher um eine Laune, war es, was mich dazu brachte, aufzustehen und an die Tür zu treten.

Ich würde das jetzt in die Hand nehmen. Wer brauchte schon einen Eathiran, um sich aus brenzligen Situation zu retten? Ich war in der Lage, selber auf mich aufzupassen. Und es war viel zu lange her, dass ich mir das bewiesen hatte.

Das Messer steckte ich hinten in den Bund meiner Hose, damit sie nicht direkt sahen, dass ich keine guten Absichten hatte. Dann atmete ich tief durch, überprüfte ein letztes Mal meine Barriere und öffnete dann die Tür.

Ohne zu zögern und den Blick direkt auf meine beiden neuen, besten Freunde gerichtet, trat ich nach draußen. Zuerst schienen sie überrascht zu sein, dann legte sich ein zufriedener Ausdruck auf ihre Gesichter. Doch auch dieser hielt nicht lange an. Denn noch bevor ich mehr als fünf Schritte tun konnte, glitten ihre Blick zur Seite und das Weiten ihrer Augen brachte mich dazu, stehenzubleiben.

„Willst du dich umbringen? Geh sofort wieder rein!", zischte eine tiefe, kratzige Stimme. Mein Atem stockte bei diesen Worten. Und im gleichen Moment, in dem ich zur Seite sah, legte sich eine große Hand auf meinen Bauch und drückte mich nach hinten. Zwei tosende Stürme, die ich selbst im Dunkeln der Nacht erkennen konnte, blickten verärgert zu mir herab. „Und komm bloß nicht auf die dumme Idee, herauszukommen, bevor ich dich hole."

Wie benommen stolperte ich nach hinten, bis ich wieder in der Hütte stand und nach einem letzten Blick auf seinen breiten Rücken, die Tür zuschlug.

Verfluchte Scheiße.

Ich hatte nicht erwartet, ihn so schnell wiederzusehen. Um ehrlich zu sein, war ich mir nicht mal sicher gewesen, ob ich ihn überhaupt jemals wiedersehen würde. Doch nun war er hier und half mir mit meinem unschönen Problem. Das glaubte ich jedenfalls. Ich schüttelte den Kopf, um aus der Schockstarre zu erwachen, die mich bei seinem Anblick gepackt hatte. Dann lief ich die wenigen Schritte zum Fenster und beobachtete das Geschehen.

Ein dunkelbrauner Mantel, ähnlich wie der von Eathiran, umspielte seine Gestalt und die Strähnen seines Haares folgten vereinzelt dem leichten Wind, der aufgekommen war.

Seelenruhig, fast schon entspannt, kam er den magisch Begabten näher, blieb dann aber in ausreichendem Abstand zu ihnen stehen. Ich konnte nicht hören, was sie sagten, aber an der Bewegung ihrer Münder erkannte ich, dass sie sprachen.

Mir fiel durchaus auf, dass den Magiern das Lachen gehörig vergangen war. Ihre ernsten Mienen und die Haltung, die sie einnahmen, waren eindeutig: Sollte es nötig sein, waren sie bereit, gegen ihn zu kämpfen. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Jetzt verletzten sich die Leute auch noch, um an mich heranzukommen. Das war doch ein schlechter Witz.

Und obwohl mir bewusst war, dass es wohl oder übel zu einer Auseinandersetzung kommen würde, erwartete ich nicht, dass es so schnell vonstatten gehen würde. In dem einen Moment unterhielten sie sich noch und im anderen hoben beide Begabten ihre Hände und richteten sie gegen den Astóric.

Und dann passierte etwas, das mich aufkeuchen ließ.

Eine gigantische Feuerwand erhob sich aus dem Nichts und versperrte mir daraufhin die Sicht auf die Magier. Sie war mindestens fünfzig Meter lang. Damit hatte ich nicht gerechnet. Der Astóric hielt eine Hand, mit der Handfläche nach oben, vor sich ausgestreckt und kontrollierte das Werk vor uns. Ich wusste nicht, ob ich Bewunderung, Angst oder beides auf einmal empfand. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Dieser Mann sah nicht nur mächtig aus, er war es auch. Und dann dachte ich an unsere erste Begegnung. Er hatte nicht nur Macht über die Dunkelheit, er beherrschte das Feuer. Als ich mich damals in Thoans Anwesen in der Bibliothek umgeschaut und einige Bücher über Glyth und Astóric gelesen hatte, war zwar nichts dabei gewesen, das mir bei meinen Fragen weitergeholfen hätte, aber ich hatte dennoch einige Informationen sammeln können. Unter anderem, dass die Elemente Feuer und Wasser die seltensten waren, die die Astóric kontrollieren konnten. Überhaupt war es ein Wunder, wenn mehr als ein Astóric in einer Generation auf die Welt kam, der Macht über ein Element in sich trug. Wer war dieser Kerl nur, dass er solche Kräfte besaß?

Etwa dreißig Sekunden hielt er die Wand aufrecht, bevor er langsam, sehr langsam, seine Hand drehte und sie dann ruckartig zur Faust ballte. Die Wand verformte sich zu tausenden Feuerstrahlen, die nun gleichzeitig nach vorne stürmten. Es war so hell, dass ich nicht alles erkennen konnte, aber als einige Sekunden später die Strahlen verschwanden, waren auch die Magier nicht mehr zu sehen. Ich war nicht sicher, ob sie vom Feuer vertrieben wurden oder nur ein Häufchen Asche von ihnen übrig geblieben war. Und obwohl ich wusste, dass sie mir nichts Gutes hatten tun wollen, hoffte ich doch, dass nicht Letzteres der Fall war.

Ich musste aus dieser Hütte raus. Mit einem Mal fehlte mir die Luft zum Atmen. Alles, was gerade passiert war, überwältigte mich auf eine Weise, die ich nicht kannte.

Ich stürmte nach draußen und blieb einige Schritte hinter dem Astóric stehen.

Ohne sich umzudrehen, fragte er: „Welchen Teil von ›bleib in der verdammten Holzkiste, bis ich dich hole‹  hast du nicht verstanden?"

Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte, doch das war auch gar nicht nötig, denn bevor ich dazu kam, den Mund zu öffnen, ertönte eine weitere, nur allzu bekannte Stimme.

„Ein bisschen viel Trara für zwei Minderbegabte, findest du nicht?"

Eathiran trat zu uns und das Erste, was er dann tat, war seinen Blick über mich schweifen zu lassen, als würde er jede Stelle nach Verletzungen überprüfen wollen. Ich war unversehrt. Und hatte noch nicht einmal das Messer, welches immer noch im Bund meiner Hose steckte, benutzt.

„Wo zum Henker warst du? Unsere Pseudo-Heldin hier wollte sich gerade umbringen gehen, als ich aufgetaucht bin", entgegnete der Astóric mit wütendem Unterton, blieb jedoch ruhig.

„Das...das stimmt überhaupt nicht!", verteidigte ich mich kleinlaut, aber weder den einen noch den anderen schien mein Protest zu interessieren.

„Auch ich muss mich um gewisse Dinge kümmern, kann ja nicht jeder monatelang verschwinden und jemand anderem seinen ganzen Mist überlassen, nicht wahr?" Eathiran verschränkte die Arme vor der Brust und ich bekam dieses unangenehme Gefühl, das man hatte, wenn man zwischen zwei streitenden Personen stand und sich völlig fehl am Platz fühlte.

„Und trotzdem muss ich alles ausbaden, kaum bin ich wieder da." Die beiden Männer starrten sich an und als Eathiran dann plötzlich auf den Astóric zuging, dachte ich schon, es sei vorbei mit ihrer Beherrschung. Doch stattdessen...umarmten sie sich. Der Astóric klopfte Eathiran auf den Rücken und lachte.

„Schön, dass du noch unter den Lebenden weilst, Eath."

Ich war baff. Einfach nur baff. Entweder ich hatte irgendetwas verpasst oder ich besaß einfach nur kein Verständnis für Männer und ihre Eigenarten.

„Ich hatte ja keine Wahl", sagte Eathiran daraufhin und schielte dabei kurz zu mir herüber. Na, wenn das mal kein Wink mit dem Zaunpfahl war...

Sie ließen sich los und standen sich nun grinsend gegenüber. Doch dann wurde Eaths Gesichtsausdruck wieder ernster.

„So sehr es mich auch freut, dich zu sehen – was tust du hier, Crave?"

Eine ausgesprochen gute Frage. 

◇◇◇

JA, LEUTE! EINE AUSGESPROCHEN GUTE FRAGE!😂

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top