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Er hätte damit rechnen müssen. Aber hin und wieder empfand selbst Eathiran die Hoffnung, dass das Schicksal ihm ein wenig gut gesonnen sein würde. Offensichtlich vergeblich. Eigentlich wollte er nur noch seine Ruhe haben, aber erstmal würde nichts daraus werden.
Er brauchte etwa zwanzig Minuten, bis er ankam und Thoan an einem der Bäume lehnen sah. Die gesamte letzte Stunde hatte der Glyth versucht, Eathirans Barriere zu durchdringen. Es hatte sich angefühlt wie ein nicht enden wollendes Pochen. Es war nicht schmerzhaft, aber verdammt nervig.
„Hast du nichts besseres zu tun?", begrüßte er Thoan und vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels.
Der Glyth hob einen Mundwinkel. „Immer wieder eine Freude, dich zu sehen, Bruder."
Eathiran hasste es, wenn der Glyth ihre Verwandtschaft erwähnte. Mehr als die mentale Verbindung, die sie hatten, hatte diese Verwandtschaft nämlich nicht hervorgebracht. Nur weil sie den gleichen Vater hatten, machte sie das noch lange nicht zu Brüdern. Dafür brauchte es mehr als nur das gleiche Blut.
„Ich denke, ich brauche nicht zu erwähnen, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruht", entgegnete er wahrheitsgemäß und wie erwartet veränderte sich Thoans Gesichtsausdruck und wurde zunehmend ernst. So war er eben, er sprach nicht lange um den heißen Brei herum.
„Du bist der Einzige, der die Verbindung zwischen Allyra und mir ebenfalls trennen kann. Wo ist sie?"
Ein Gefühl, welches stark an Genugtuung erinnerte, breitete sich in Eathirans Innerem aus. Es gefiel ihm, wenn etwas mal nicht nach Thoans Plan lief.
„Wie? Ist sie nicht bei dir?" Der Sarkasmus in seiner Stimme machte den Glyth sichtlich wütend. Vielleicht würde dieses Treffen doch amüsanter werden als erwartet. Es war schon eine Weile her, dass sie sich gegenüber gestanden hatten. Und wenn es nach Eathiran gegangen wäre, hätte es ruhig noch etwas länger dauern können. Aber dank ihrer Verbindung war es beiden möglich, über große Distanz hinweg auf den Geist des jeweils anderes zuzugreifen. Jedenfalls, wenn der andere es einem erlaubte. Unnötig zu erwähnen, dass dies recht selten der Fall war. Dieses Mal hatte Thoan ihn gerade so lange seine Gedanken lesen lassen, um Eathiran die Möglichkeit zu geben, herauszufinden, wo er sich befand.
„Was weißt du über dieses Mädchen?", fragte der Glyth und widerlegte damit Eathirans Vermutung, er würde jeden Moment auf ihn losgehen. Schade aber auch.
„Mit Sicherheit mehr als du. Und...ernsthaft? Du lässt sie bei dir wohnen, bevor du sie in den sicheren Tod schickst? Wow, selbst dir hätte ich ein wenig mehr Klasse zugetraut."
Thoans Kiefer mahlte und eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Für seine Verhältnisse sah er schon fast verwirrt aus. „Ich hätte sie nicht in den Tod geschickt."
„Das hättest du. Und wenn du glaubst, es wäre anders, dann irrst du dich." Die Worte, die Eathiran aussprach, waren eine klare Grauzone. Das sagte ihm das unerträgliche Brennen in seiner Brust. Es fühlte sich an, als würde er von innen heraus verbrennen. Nur unter enormer Anstrengung konnte er seinen Zustand verbergen. Dieser magische Eid ging ihm verdammt nochmal sowas von auf die Nerven.
„Was ist mit dir? Du hast sie doch aus denselben Gründen zu dir geholt wie ich. Also spiel nicht den Unschuldigen, Eath." Es war gut, dass Thoan das dachte. Auch, wenn Eathiran sich sicher war, dass er früher oder später die ganze Wahrheit über Allyra herausbekommen würde – je später desto besser. Welch Glück, dass das Buch, welches Allyra in diesem Moment mit absoluter Sicherheit las, ein Einzelexemplar war.
„Ich mache ihr wenigstens nichts vor." Einerseits war das eine Lüge, aber andererseits auch nicht. Er konnte einfach nicht anders, als ihr manche Dinge zu verschweigen. Wenn er ehrlich war, glaubte er, dass er ihr schon längst alles erzählt hätte, wenn es diesen bescheuerten Eid nicht gäbe. Spätestens wenn sie ihn mit ihren großen, mandelförmigen Augen angeblickt und er die Verzweiflung darin gesehen hätte. Er wäre ohne Zweifel eingeknickt.
„Du hast ihr also von allem erzählt?" Misstrauen erschien in Thoans Blick. Und das war Eathirans Stichwort. Er musste diese Zusammenkunft zum Ende bringen.
„Also, was willst du? Ich wäre gerne in der Lage, in Ruhe zu schlafen, ohne deine penetrante Anwesenheit an meiner Barriere."
„Du weißt genau, was ich will. Und ja-" Er stieß sich von dem Baum ab und lief einige Schritte nach rechts. „Ich weiß auch, dass du sie mir nicht überlassen wirst. Ich kenne deine kleinen Spielchen gut genug."
„Großartig. Warum bin ich dann hier?"
Sie waren nicht zusammen aufgewachsen und man merkte, dass Thoan die Erziehung ihres Vaters genossen hatte. Er war ihm in so vielen Aspekten ähnlich, dass es manchmal sogar etwas unheimlich wirkte. Vom Aussehen mal abgesehen. Früher hatte es Eathiran gestört, dass er seinem Vater in keinster Weise ähnelte. Mittlerweile war er für das Erbe seiner Mutter aber mehr als nur dankbar. Sie hatte ihn geliebt, mit allem, was sie besessen hatte. Von seinem Vater konnte man nicht das Gleiche behaupten.
„Ich will wissen, warum du es nicht früher getan hast. Heute hattest du natürlich die perfekte Gelegenheit, während diese Idioten alles ins Chaos gestürzt haben. Aber ich weiß von eurer Begegnung hier. Als sie den Baum der Wahrheit berührt hat."
Natürlich wusste er davon. Eathiran fragte sich, ob Allyra ihm wohl freiwillig von diesem Tag erzählt hatte.
„Wo bleibt der Reiz, wenn du nicht wenigstens in der Nähe bist, wenn ich sie zu mir hole?" Das war völliger Blödsinn. Es hätte vielleicht in einem anderen Kontext der Wahrheit entsprochen, aber nicht, wenn es um Allyra ging. Als sie damals doch wirklich so töricht gewesen war und alleine den Wald betreten hatte, hatte er spätestens beim Baum der Wahrheit keine Wahl mehr gehabt als einzugreifen. Er hatte ihre Gedanken gelesen, er wusste, dass der Baum ihr Nescan gezeigt hatte. Und er wollte sich nicht ausmalen, in welche Erklärungsnot er gekommen wäre, wenn sie noch mehr gesehen hätte. Und obwohl er sie dann in ihrem aufgelösten Zustand alleine gelassen hatte, war er doch nie weggegangen. Er hatte geduldig in den Schatten darauf gewartet, dass sie den Weg zurück fand und nicht noch irgendeine Dummheit anstellte.
Bei der heutigen Rettungsaktion hatte er sie nun mal mitnehmen müssen, es hatte keinen anderen Weg gegeben. Er hatte sich nicht darauf verlassen können, dass Thoan oder einer der anderen sie rechtzeitig finden würden. Dieses Risiko war er nicht bereit gewesen einzugehen.
„Ein Mistkerl wie eh und je, was?" Ein Lächeln, welches Eathiran die Hand in seiner Manteltasche zur Faust ballen ließ, zierte Thoans Gesicht.
„Muss in der Familie liegen", beherrschte er sich und lächelte zurück.
Manchmal fragte Eathiran sich, wie es wohl gewesen wäre, einen echten Bruder zu haben. Und eine Schwester. Kirani war zwar bei weitem nicht Thoan, aber sie hing an ihm. Schon immer. Und das hatte es von Anfang an unmöglich gemacht, eine geschwisterliche Beziehung zu ihr aufzubauen. Nicht, dass Eathiran je die Möglichkeit gehabt hatte, es zu versuchen.
„Ich weiß zwar nicht, was du mit ihr vorhast, kleiner Bruder, aber du solltest dich in Acht nehmen. Sie ist neugierig. Und misstrauisch."
„Zurecht. Besonders, wenn man mit Glyth unter einem Dach wohnt", erwiderte er auf Thoans unnötige Warnung. Er wusste, dass der Glyth versuchen würde an Allyra heranzukommen. Es war nur eine Frage der Zeit, er würde sich wie immer einen Plan zurechtlegen und dann abwarten, bis er seine Chance sah. Aber jetzt, da Thoan wusste, dass er Interesse an Allyra hatte, konnte Eathiran das nicht mehr zulassen. Er würde alles dafür tun, um den Glyth von dem Mädchen fernzuhalten. Denn sollte sie Thoan erneut in die Hände fallen, würde dieser es verdammt kompliziert machen, auf Allyra aufzupassen. Und das war auch so schon kein leichter Job. Darauf konnte Eathiran getrost verzichten.
„War das alles oder möchtest du noch etwas loswerden?", fragte er dann und versuchte dabei, den ungeduldigen Ton in seiner Stimme zu unterdrücken.
„Wir hätten zusammenarbeiten können. Das könnten wir immer noch." Eathiran lachte auf. Das konnte der Kerl doch nicht ernst meinen.
„Die Chance auf eine Zusammenarbeit hast du schon vor vielen Jahren verspielt. Und das weißt du genau so gut wie ich."
Es gab Momente, in denen er sich wünschte, es wäre anders. In denen er sich wünschte, man könnte alles noch irgendwie auf die Reihe kriegen, doch noch irgendwie Familie werden. Aber das war reines Wunschdenken. Sein Stolz, sein Verstand und sein Herz würden das niemals zulassen. Nicht in diesem Leben.
„Wenn deine Mutter-"
Es gab viele Dinge, die Eathiran ihm ständig durchgehen lassen hatte. Aber wenn dieser Glyth seine Mutter erwähnte, dann war das etwas anderes. Dann wurde es persönlich. Mehr als nur persönlich. Und bei diesem einen Thema konnte Eathiran sich nicht beherrschen.
Mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit hatte er sich vor Thoan aufgebaut und packte diesen am Kragen.
„Wage es nicht, über sie zu sprechen. Nicht du." Seine Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. Aber die Drohung war nicht zu überhören.
„Oh, ein wunder Punkt?" Thoan wusste genau, was er da tat. Und das war auch der einzige Grund, warum Eathiran die Zähne zusammenbiss und seinen Halbbruder losließ. Es war nur Provokation, die der Glyth anstrebte. Am liebsten hätte Eathiran ihn geschlagen. Ihn umgebracht. Aber diese Genugtuung würde er ihm nicht geben. Er gönnte es ihm nicht im Geringsten.
„Verschwinde. Und bei Recáh, wag es ja nicht so schnell wieder in meiner Nähe aufzutauchen", keifte er also stattdessen, drehte sich um und lief zurück.
„An deiner Stelle würde ich aufpassen, was ich sage. Ich glaube nicht, dass Recáh deine Wünsche erhören wird, besonders nicht, wenn sie weiß, was du mit dem Erbe ihrer Tochter vorhast."
Ein letztes Mal blieb Eathiran stehen. „Und genau das ist das Problem. Du kennst mich einfach viel zu schlecht."
Dann ging er, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er wusste, dass diese Begegnung ihn nicht so aufregen sollte, aber sie tat es. Es machte ihn wütend, dass Thoan sich immer wieder einmischen musste. Besonders in Angelegenheiten, die Eathiran am Herzen lagen. Es wäre so viel einfacher, wenn der Glyth nie von Allyra erfahren hätte. Aber was war schon einfach in seinem Leben?
Und Allyra...sie war so...so viel mehr als er erwartet hatte. Seit vielen Jahren begleitete er sie mit gewissem Abstand durch ihr Leben, aber sie nun so kennenzulernen, mit ihr zu sprechen, zu erfahren, was sie dachte, war etwas ganz anderes. In all den Jahren hatte er es meist vermieden, in ihrem Kopf zu wühlen und ihre Gedanken zu lesen. Er hatte es stets als falsch empfunden, als Eindringen in eine Zone, die er nicht betreten durfte. Also hatte er es nur getan, wenn er es für nötig gehalten hatte.
Dass sie ihn hasste, war ihm schon klar geworden, als sie ihn mit großen Augen angesehen und dabei beobachtet hatte, wie er Nescan einen Dolch in die Brust gerammt hatte. Sie war damals so schnell weggerannt, so schnell verschwunden, dass es ihn eine ganze Stunde gekostet hatte, sie wiederzufinden. Sie war zusammengekauert in einer dunklen Straßenecke gesessen und hatte nicht geweint. Erst als es Nacht wurde, hatte er ihr Schluchzen wahrgenommen. Und es hatte ihn zerrissen, ihn so vieles anzweifeln lassen. Aber er hatte Anweisungen, die er nicht missachten durfte. Auch zu ihrer Sicherheit.
Als er zwanzig Minuten später endlich wieder in der Nähe der Hütte war und sich schon auf eine Portion Schlaf freuen wollte, wurde ihm ein gewaltiger Strich durch die Rechnung gemacht.
Denn statt der Ruhe, die er erwartet hatte, der friedlichen Umgebung, die er sicher gewesen war, aufzufinden, kam alles ganz anders.
Der Zauber der Hütte war aufgehoben worden. Doch das war noch gar nicht das, was ihn am meisten beunruhigte und in höchste Alarmbereitschaft versetzte.
Es waren die beiden magisch Begabten, die krampfhaft versuchten gegen die gigantische Feuerwand anzukommen, die sich vor ihnen erhob und die Hütte schützte. Es war sinnlos, sie würden nicht durchdringen können, das wusste Eathiran nur zu gut. Vorher würde das Feuer sie verschlingen.
Und es gab nur einen, der eine solche Macht und Kontrolle über dieses Element besaß und sich auf der anderen Seite der Wand befand.
Wenn Eathiran gedacht hatte, die ganze Sache sei bereits kompliziert, hatte er sich geirrt.
Jetzt wurde es kompliziert.
◇◇◇
Huch, haben wir da etwa unseren "feuerspeienden" Typen? :P
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