20
Im Osten grenzte Elár an den Wald der Weisheit. Das letzte Mal, als ich diesen betreten hatte, war ich tränenüberströmt zu Thoans Anwesen zurückgekehrt. Und nun war ich wieder von den faszinierenden Bäumen umgeben, während ich versuchte, mit Eathiran Schritt zu halten. Wir hatten nicht mehr viel gesprochen, seit er die Verbindung zwischen Thoan und mir gelöst hatte, was bestimmt schon eine Stunde her sein musste. Der Glyth musste es längst gemerkt haben. Ich wusste zwar nicht, wie es sich anfühlte, mich zu spüren, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Umstand, dass er es nicht mehr konnte, spurlos an ihm vorbeigegangen war. Ob er wütend war?
„In etwa zwanzig Minuten sollten wir eine kleine Hütte erreichen. Dort können wir erst einmal unterkommen", riss mich Eathiran plötzlich aus meinen Gedanken. Ich war so überrascht und bereits so gewöhnt an die Stille zwischen uns, dass ich einen Moment brauchte, um seine Worte zu verarbeiten.
„Wem gehört sie?", fragte ich, eigentlich nur um mir Zeit zu verschaffen. Ich wusste nicht, wie ich auf dieses Angebot oder was auch immer seine Aussage über die Hütte gewesen war, reagieren sollte. Ich wollte eigentlich nicht länger als nötig in seiner Nähe bleiben und er hatte mir versichert, dass ich tun und lassen konnte, was auch immer ich wollte, sobald wir aus der Gefahrenzone heraus waren. Aber...wohin sollte ich gehen? Ich kannte mich ja noch nicht einmal in diesem verfluchten Wald aus, ganz zu schweigen davon, dass ich sowieso nicht wüsste, was mein Ziel wäre. Jetzt hatte ich weder ein Zuhause noch etwas, was dem nahe kommen könnte.
„Sie gehört niemand bestimmtem. Es ist eine Art Rückzugsort, von dem nur gewisse Leute wissen." Ein Rückzugsort also. Bestimmt gab es dort ein Bett und es war wärmer als hier draußen. Und vielleicht würde sich sogar etwas zu Essen in dieser Hütte finden. Es war verlockend. Verdammt verlockend.
Und als ich schon kurz davor war, der Versuchung nachzugeben, blieb ich stehen.
„Ich denke, wir sind weit genug vom Palast entfernt. Ich werde ab jetzt alleine weitergehen", gab ich bekannt und es gelang mir nicht so ganz, das leichte Zittern in meiner Stimme zu verbergen. Ich war nicht sicher, was ich in diesem Moment mehr verabscheute: Die Tatsache, dass er mein Feind war oder das Gefühl, welches mich beschlich, als ich daran dachte, den Rest der Nacht an irgendeinem magischen Baum zu kauern und mich halbtot zu frieren.
Er blieb stehen und drehte sich nur langsam zu mir um. Mit hochgezogener Augenbraue sagte er: „Das ist dein gutes Recht. Aber – wenn ich fragen darf – was hast du vor? Wo willst du hin?"
Nein, verdammt nochmal, er durfte nicht fragen!
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht", entgegnete ich also schnippisch und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Er sollte sich gefälligst aus meinen Angelegenheiten heraushalten. Auch ohne seine penetrante Anwesenheit gab es bereits genug Probleme in meinem Leben.
„Lass mich raten: Du hast keine Ahnung, wo du hin sollst. Die Vorstellung von einem Dach über dem Kopf ist mehr als verlockend, aber du willst die Chance nicht ergreifen, weil du dann weiterhin meine Gesellschaft ertragen müsstest." Er lehnte sich, nun ebenfalls mit verschränkten Armen, gegen einen der Bäume in seiner Nähe und ein aufgesetztes Lächeln zierte seine Lippen. Es erreichte seine Augen nicht. „Korrigiere mich doch bitte, sollte ich mich irren."
Er war ein Mistkerl. Ein noch viel größerer, als ich es je für möglich gehalten hätte.
„Hör auf, so zu tun, als würdest du mich kennen. Du hast keine Ahnung, was ich will, was mich stört und wo ich hingehen kann!", keifte ich ihn an.
„Ich kenne dich besser, als du dir vorstellen kannst, Allyra. Und ich weiß, dass du keinen Ort hast, an den du gehen und sicher sein kannst, dass dir nichts passiert. Zu Thoan wirst du nicht zurückkehren, das kann ich mir nicht vorstellen. Und ins Dacium? Würdest du das wirklich wollen?"
Mein Kiefer mahlte. All seine Worte, alles, was er sagte, entsprach der Wahrheit. Er war wirklich überzeugt davon, mich zu kennen. Und das machte mich so wütend.
„Im Dacium hat wenigstens niemand meinen Bruder ermordet."
Ich wusste nicht warum und wieso gerade jetzt, aber ich konnte ihm ansehen, an den Veränderungen seiner Gesichtszüge, dass das, was ich gesagt hatte, das Fass zum überlaufen brachte. Ich verstand nur nicht, wieso dieses Fass überhaupt existierte.
Er stieß sich ab und kam mit geballten Fäusten einige Schritte auf mich zu. „Du weißt überhaupt nicht, wovon du sprichst, Mädchen. Seit meinem zehnten Lebensjahr ist mein gesamter Lebensinhalt deine Sicherheit, dein Leben und auch sonst alles, was mit dir zu tun hat, verdammt nochmal!"
Bevor ich auch nur annähernd begreifen konnte, was er meinte, sprach er auch schon weiter.
„Nichts, was ich je getan habe, war mit der Absicht, dir zu schaden! Aber jetzt gerade...jetzt gerade denke ich tatsächlich zum ersten Mal darüber nach, dich in diesem verfluchten Wald stehen zu lassen und deinem Schicksal zu überlassen!"
Er fluchte und wandte den Blick ab, während ich nur verwirrt dastand und ihn anstarrte. Ich wusste nicht, ob es mich mehr schockierte, dass er seine stets ruhige und kontrollierte Art zum allerersten Mal in meiner Anwesenheit abgelegt hatte oder dass jedes seiner Worte der Wahrheit entsprach.
Und obwohl mir das durchaus bewusst war, sagte ich aus reinem Reflex: „Ich glaube dir nicht."
Entrüstung spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck, als er seine Augen wieder auf mich richtete. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Allyra. Wir wissen beide, dass du spürst, dass ich die Wahrheit sage. Also hör doch endlich auf, dir krampfhaft einreden zu wollen, dass ich der Böse bin."
„Ich habe es gesehen", flüsterte ich und ich konnte mir gut vorstellen, wie ich in diesem Moment aussehen musste. Verstört beschrieb es bestimmt nicht schlecht.
„Was?", fragte er und runzelte die Stirn.
Es war lange her und doch sah ich die Bilder immer noch vor meinem inneren Auge. „Wie du Nescan getötet hast. Ich habe das Blut gesehen. Den Dolch. Und dich."
Ich hörte, wie er ausatmete und beobachtete, wie er die Hand hob, nur um dann mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken zu umschließen. Seine Augen waren geschlossen und ich wusste, dass er in den Sekunden, in denen er nicht antwortete, versuchte, sich zusammenzureißen.
„Ich verstehe das", sagte er dann. Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. „Ich verstehe, dass du glaubst zu wissen, was passiert ist. Aber, Allyra, du hast keine Ahnung."
„Dann sag es mir. Du versuchst mich hier davon zu überzeugen, all das anzuzweifeln, woran ich seit über zehn Jahren glaube. Das ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst. Wenn ich also wirklich keine Ahnung habe, wie du sagst, dann sag mir die Wahrheit. Sag mir, was wirklich passiert ist!"
Er zögerte. Betrachtete mich. Und Bedauern flackerte in seinem Blick auf. Tiefes, ehrliches Bedauern.
„Ich kann nicht."
Er machte zwei Schritte auf mich zu. Aber als er einen weiteren machen wollte, entschied er sich doch dagegen und blieb wieder stehen.
„Ich will es dir sagen. Aber ich kann es nicht."
„Lass mich raten", spottete ich. „Zu meiner eigenen Sicherheit?"
An seiner Tonlage, an der Art, wie er es sagte, wusste ich, dass seine nächsten Worte eine viel tiefere Bedeutung hatten, als ich es mir vorstellen konnte.
„Nicht nur zu deiner." Natürlich wollte ich wissen, wen er meinte, doch ich entschied mich, nicht weiter nachzufragen. Ich glaubte nicht daran, dass er mir wirklich antworten würde.
„Du musst mir etwas geben. Etwas, woran ich mich festhalten kann, Eathiran", entgegnete ich also stattdessen. Es war das erste Mal, dass ich seinen Namen aussprach. Daran, wie er seine Kiefermuskeln anspannte, erkannte ich, dass auch er es bemerkt hatte.
„Ich weiß nicht, was ich dir noch sagen soll. Ich bin nicht dein Feind. Ich versuche nur, dir zu helfen!" Das war nicht genug. So sehr ich es auch wollte, es reichte einfach nicht aus. Nicht, um weiterhin an seiner Seite zu bleiben. Dafür hatte das Leben mich schon viel zu oft verraten.
„Warum hast du Nescan getötet?" Das war die Mitte, die wir die ganze Zeit über umkreisten und sie doch nie erreichten. Und solange das der Fall war, würde sich nichts ändern.
Er seufzte. „Ich-", setzte er an und legte dann für einen Moment den Kopf in den Nacken. Was auch immer es war, ich konnte sehen, dass es ihn quälte. Warum also sagte er mir nicht einfach die Wahrheit? Wovor nur wollte er mich schützen? „Ich habe es getan, weil es keinen anderen Weg gab."
Eine Lüge.
Die erste, die ich aus seinem Mund hörte. Und sie brannte in meinem Inneren, wie keine andere Lüge es je zuvor getan hatte.
„Es gab einen. Es gab einen anderen Weg und doch hast du dich für den Tod entschieden. Warum?"
„Es gab keinen Weg, der sicherer für dich gewesen wäre."
„Also musste Nescan für meine Sicherheit mit dem Leben bezahlen?"
Eathiran antwortete nicht. Er sah mich an, aber machte keine Anstalten, etwas zu erwidern. Manchmal war keine Antwort, Antwort genug. Doch in diesem Fall war es etwas anderes. Diese Stille sollte nicht seine Antwort ersetzen.
„Warum sagst du nichts?", fragte ich, nun um einiges aufgebrachter. „Was versuchst du, so verbittert vor mir zu verheimlichen?!"
So schnell, dass ich es nicht kommen sah, war er vor mich getreten und packte mich an den Oberarmen. Er stellte sicher, dass ich ihn ansah, bevor er sagte: „Allyra, hör mir zu. Du musst endlich aufhören, mir diese Fragen zu stellen." Als ich den Blick abwenden wollte, schüttelte er mich. „Sieh mich an. Du musst mir zuhören! Ich kann es dir nicht sagen, verstehst du?!" Sein Griff wurde fester. „Ich kann nicht!"
Und dann verstand ich es tatsächlich.
Erkenntnis durchflutete mich.
„Ein magischer Eid...", flüsterte ich und sein Blick sagte mir alles, was ich wissen musste.
Es war nicht nur eine blöde Floskel. Nein, das, was er sagte, meinte er wortwörtlich.
Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der unter einem magischen Eid stand, jedenfalls nicht wissentlich. Aber ich hatte davon gehört. Es gab ein paar wenige magisch Begabte, so wie zum Beispiel Königin Ceszia, die in der Lage waren, einem einen magischen Eid aufzuerlegen. Gerüchten zufolge war es daraufhin weder möglich, über den Grund des Eids zu sprechen, noch darüber, dass man überhaupt einen auferlegt bekommen hatte. Es war eine Zwickmühle.
Eathirans Augen sagten mir so viel mehr, als es Worte je könnten. Verzweiflung, Wut, Erleichterung, Hoffnung...all diese Emotionen und Empfindungen spiegelten sich dort wider.
Und dann dachte ich an das, was er zuvor zu mir gesagt hatte: Ich bin es nicht, der alle Entscheidungen trifft.
Aber...änderte das alles irgendetwas?
„Komm mit mir. Nur so lange, bis du einen sicheren Ort gefunden hast. Ich werde dir nichts tun." Er drückte sanft meine Arme. „Bitte."
Ich war überfordert, maßlos überfordert. Nichts machte mehr Sinn. Und ich hatte das Gefühl, dass es nur noch schlimmer werden würde, egal, was ich tat und wofür ich mich entschied.
Natürlich versuchte ich immer noch, daran festzuhalten, dass der Mann vor mir meinen Bruder ermordet hatte. Schließlich war es das, was ich für die Wahrheit gehalten hatte. Vielleicht waren es auch der Hass und die Wut, die daraus resultiert hatten, die mir letztendlich dabei geholfen hatten, alleine zu überleben. Doch es wäre auch gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich keine Zweifel an der ganzen Sache bekam. Irgendetwas stimmte da nicht und bisher hatte ich noch keinen Weg gefunden, herauszufinden, was es war.
Aber ich wollte es wissen. Es würde mir keine Ruhe lassen, nicht einen einzigen Tag lang.
„Ich werde gehen, wenn ich es möchte und du wirst mich nicht davon abhalten", stellte ich noch einmal klar. Es war mir wichtig, dass wir uns bei dieser Sache einig waren. Ich wollte nicht zu einer Gefangenen werden.
„Du kannst gehen, wann immer du es für nötig hältst. Aber es wäre schön, wenn du mir trotzdem die Möglichkeit gibst, dich erstmal in Sicherheit zu bringen."
In diesem Moment, als er mir so nah war und mich mit dieser tiefen Sorge ansah, fragte ich mich, was wohl gewesen wäre, wenn wir uns nicht durch den Tod meines Bruders kennengelernt hätten. Wenn ich ihn nicht für Nescans Mörder gehalten hätte. Sondern einfach nur für den schönen Mann, der er war.
Wahrscheinlich hätte mein Herz dann vor Aufregung gepocht, so wie es dieses verräterische Organ auch in diesem Augenblick tat. Und vielleicht wäre ich sogar verlegen geworden bei seinem charmanten Lächeln, das er immer wieder so gekonnt auf seinen wohlgeformten Lippen trug.
Doch das war unwichtig. Denn ich hielt ihn nun mal für einen Mörder. Und bisher hatte nichts diese Vermutung widerlegt. Also war jeder Gedanke, jeder Herzschlag und jede Empfindung, die etwas anderes vermuten ließ, falsch. Alles davon war nur ein weiterer Tropfen im See der Schuld.
„Gerade wünschte ich wirklich, du würdest wenigstens für eine Sekunde deine Barriere fallen lassen", murmelte Eathiran und das kleine, nahezu unscheinbare Schmunzeln, das sein Gesicht zierte, wäre mir fast entgangen. „Manchmal kann ich dich lesen wie ein offenes Buch. Aber dann gibt es wieder Momente wie diesen, in denen ich einfach nicht einschätzen kann, was du denkst."
Und obwohl ich der Meinung war, dass das auch besser so war, tat ich ihm den Gefallen und ließ ihn in meinen Kopf.
„Ich hoffe, es gibt zwei Betten in deiner Hütte. Sonst musst du auf dem Boden schlafen."
◇◇◇
Hallö. It's me.
Und es tut mir leid, dass es zur Zeit nicht so oft neue Kapitel gibt, aber...well...besser als nichts, oder? :D
Hoffe natürlich, ihr hattet wieder Spaß beim Lesen! Mit diesem Kapitel sind wir übrigens schon deutlich über die 50.000 Wörter-Grenze drüber. Das ist schön, findet ihr nicht auch? Hihi.
Also dann, bis zum nächsten Kapitel!
Eure Karo♡
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