19


Wenn mir jemand noch vor einigen Wochen erzählt hätte, dass ich irgendwann zusammen mit dem Mörder meines Bruders aus dem Palast in Eleiwyr fliehen würde, hätte ich gelacht...oder geweint, je nachdem. Nun stand ich aber tatsächlich neben Eathiran und starrte aus dem offenen Fenster, während mir der kühle Nachtwind eine Gänsehaut bescherte.

„Was willst du machen? Aus dem Fenster springen? Bist du völlig verrückt?!", fragte ich entgeistert. Der Boden musste mindestens zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Meter entfernt sein. So genau konnte ich das nicht einschätzen – so oder so war es aber verdammt hoch.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Eathiran mir einen amüsierten Blick zuwarf. Vielleicht hatte er ja doch noch vor, mich umzubringen...

„So verlockend die Vorstellung für dich sein muss, mich in den Tod springen zu sehen – nein, ich habe nicht vor, das zu tun", sagte er dann und hatte nicht ganz unrecht mit seiner Vermutung. Aber da ich mich dazu entschieden hatte, für die nächste Stunde meinen Hass, so gut es ging, zu ignorieren, sagte ich ihm das nicht. Stattdessen sah ich ihn fragend an.

„Sag bloß, du kannst fliegen? Hätte dich eher für den Feuerspeienden-Typ gehalten." Der Sarkasmus, der in meiner Stimme mitschwang, entging ihm nicht. Und wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, schien er doch wirklich Spaß an dieser gesamten Situation zu haben.

„Wenn du nur wüsstest, wie viel Ironie in deiner Aussage steckt..."

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und wartete darauf, dass er mich aufklärte, doch das hatte er wohl nicht vor. Denn anstatt näher darauf einzugehen, deutete er links aus dem Fenster.

„Das nennt man 'Leiter'." Und tatsächlich: Direkt neben meinem Fenster befand sich eine Leiter, die noch weiter hinauf führte – aber auch nach unten. Wenn man jedoch nicht davon wusste, war sie im Dunkeln praktisch unsichtbar.

„Danke für den Tipp", entgegnete ich trocken, nur um gleich darauf noch einmal zu überprüfen, dass meine Tasche sicher an meiner Seite und geschlossen war. Dann wollte ich auch schon ein Bein über den Rand des Fensters schwingen, als mir ein kleines, aber wichtiges Problem auffiel. Beide schauten wir auf mein Kleid, das mir relativ wenig Spielraum für ausladende Bewegungen bot.

„Oh Mann, wenn Ceszia das jemals erfährt, lässt sie mich köpfen...", murmelte Eathiran, bevor er sich hinunterbeugte und ohne auf meine Proteste zu achten, den Stoff meines Kleides auseinanderriss.

„Hast du sie noch alle?!", fragte ich empört und betrachtete ungläubig den riesigen Riss, durch den ich meine Beine zwar nun nach Belieben bewegen konnte, aber der das Kleid vollkommen verunstaltete.

„Wir haben keine Zeit für großartige Umziehaktionen. Ich will echt nicht wissen, wie lange du gebraucht hättest, um aus dem Teil herauszukommen. Außerdem", er ließ seinen Blick über meinen Körper wandern. „So sieht es viel besser aus." Mit den Schultern zuckend und mit einer Miene, die unschuldiger nicht hätte sein können, verschlug er mir doch tatsächlich die Sprache. Was für ein -

„Na los, wir müssen uns beeilen. Willst du vor oder soll ich?" Ohne ihm zu antworten, schnaubte ich nur und hievte mich dann vorsichtig auf die andere Seite, um schließlich auf der Leiter zu landen. Dabei vermied ich es tunlichst, nach unten zu sehen. Ich hatte auch so schon genug Probleme, da brauchte ich die ganze Situation nicht auch noch schlimmer für mich zu machen...

Ich begann, nach unten zu klettern. Einige Meter später sah ich, wie auch Eathiran auf der Leiter auftauchte und nun ebenfalls auf dem Weg nach unten war.

In diesem Moment schossen mir tausende Gedanken durch den Kopf. Doch die wohl wichtigsten davon waren: Würde Thoan mich finden? Oder sollte ich doch versuchen, dem Mistkerl über mir zu entwischen? Und wenn wir gerade schon dabei waren: War es denn nötig, ihm zu entwischen oder würde er mich ohne Widerrede gehen lassen?

Wenn Nescan mich in diesem Moment sehen hätte können...ich war nicht sicher, ob er enttäuscht oder einfach nur traurig gewesen wäre. Ich hatte mich doch tatsächlich mit dem Feind verbündet und konnte einfach nicht fassen, dass ich nicht standhaft genug hatte sein können, um das zu vermeiden.

„Es ist wirklich erstaunlich", hörte ich ihn mit gedämpfter Stimme sagen, als uns nur noch wenige Meter vom Boden trennten. „Bei unserer letzten Begegnung war deine Barriere ein Witz...jetzt aber würde ich mich wirklich schwertun, in deinen Kopf zu gelangen. Da hat wohl jemand geübt."

Ich ignorierte den Umstand, dass er mir gerade offenbart hatte, dass er erneut versucht hatte, meine Gedanken zu lesen. Stattdessen ließ ich einen missmutigen Laut hören und antwortete: „Ich habe gelernt, dass Vertrauen in dieser Welt ein großes Privileg ist. Besonders in einer Welt, in der jeder Zweite denkt, er hätte das Recht, es sich in meinem Kopf gemütlich zu machen." Als mich kein Meter mehr von dem Gras unter mir trennte, sprang ich ab. Während ich mich umsah, sagte ich noch: „Also lass es verdammt nochmal sein."

„Manchmal muss ich keine Gedanken lesen, um zu wissen, was jemand denkt. Und du" - er neigte seinen Kopf wissend zur Seite - „überlegst gerade, ob ich dich gehen lassen würde."

Verflucht, wie hatte er das erraten? Wobei...so verwunderlich war es eigentlich gar nicht. Natürlich würde ich darüber nachdenken, Abstand von ihm zu gewinnen...das sollte selbst ihm klar sein. Also konnte ich ihm auch ruhig alles sagen.

„Du bist nah dran...aber um genau zu sein, habe ich darüber nachgedacht, ob es sich lohnt, zu gehen oder ob ich doch lieber darauf warten sollte, dass Thoan mich findet. Allzu lange sollte es eigentlich nicht dauern..."

Für einen kurzen Moment sah er so aus, als würde er schon etwas erwidern wollen, als er dann doch noch einmal stockte und leicht seine dunklen Augenbrauen zusammenzog.

„Was genau meinst du mit 'es sollte nicht allzu lange dauern'?"

Mit den Schultern zuckend, antwortete ich: „Es gibt da diese nervige Sache zwischen ihm und mir-" Dann klappte mir der Mund zu. Ich sollte ihm das nicht erzählen. Es ging ihn überhaupt nichts an. Ich sollte ihn ignorieren und versuchen, selber zu Thoan und den anderen zu finden. Das wäre definitiv schlauer. Jedenfalls schlauer, als ihm irgendwelche persönlichen Dinge über mich zu erzählen. Was war nur in mich gefahren?!

„Moment..." Erkenntnis spiegelte sich in seinen Augen wider. Und ich verfluchte mich dafür. „Er hat dich an sich gebunden, oder?"

Mein Mund verzog sich zu einer schmalen Linie. Wieso war der Typ eigentlich so verdammt neugierig? Ich wusste ja mittlerweile, dass sein ständiges Auftauchen irgendetwas mit mir zu tun hatte, aber solange ich nicht wusste, was genau es war und warum mein Bruder dafür sterben musste, sollte er sich gefälligst mit seinen Fragen zurückhalten.

Seine Hände verschwanden in den Taschen seines schwarzen, offenen Mantels, bevor er anfing, vor mir hin und her zu laufen.

„Weißt du, was witzig ist?", fragte er plötzlich. Der Unterton, der dabei in seiner Stimme mitschwang, gefiel mir ganz und gar nicht.

„Du jedenfalls nicht...", entgegnete ich trocken und wollte das Schmunzeln, das er auf seinen Lippen trug, verschwinden sehen. Doch zu meinem Leid vertiefte es sich nur.

„Es ist witzig, dass ich, abgesehen von Thoan selbst, der Einzige bin, der dir mit diesem kleinen Überwachungsproblem helfen kann."

Was? Er konnte die Verbindung zu Thoan trennen?!

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war die Gelegenheit, auf die ich die ganze Zeit über gewartet hatte. Endlich hatte ich einen Weg, um nicht mehr an den Glyth gebunden zu sein. Das könnte meine Chance sein, wieder völlige Freiheit zu erlangen. Nur...wollte ich das überhaupt? Ging es mir nicht gut bei Thoan und den anderen?

Dann erinnerte ich mich wieder daran, was ich mir selber einst ins Gedächtnis gerufen hatte: Wir waren keine Freunde. Und das Anwesen des Glyths war auch nicht mein Zuhause. So sehr ich mir das auch wünschte. Aber Jerasq hatte mir das Gegenteil bewiesen. Diese Verbindung, die Regeln, wie sie alle aufpassten, dass ich bloß nicht verschwand...all das machte mich mehr zu einer Gefangenen, als ich zugab. Als ich mir versuchte, einzureden.

„Wenn du es willst, werde ich die Verbindung zu Thoan lösen." Er blieb stehen und sah mir nachdrücklich in die Augen. „Unter einer Bedingung."

Natürlich hatte er eine Bedingung, wie hätte es auch anders sein können? Und obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, ihm die Genugtuung zu geben und nachzufragen, war die Versuchung – die Aussicht auf Freiheit und Selbstbestimmung – einfach zu groß.

„Was willst du?", fragte ich also und kniff misstrauisch die Augen zusammen.

Er blieb stehen und sein Blick wurde ernster. „Ich löse die Verbindung. Dafür kommst du freiwillig mit mir und gibst mir somit die Möglichkeit – was wirklich die deutlich unkompliziertere Variante für mich wäre – dich aus diesem Schlamassel herauszuholen."

„Erstens: Was hätte ich davon? Im Grund würde ich doch nur einen unnötigen Aufpasser gegen einen anderen eintauschen. Und zweitens", entgegnete ich und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. „Was hättest du davon?" Damit wären wir nämlich wieder bei der großen Frage nach dem Warum angekommen.

„Erstens: Es geht mir im Moment nur darum, dich hier wegzuschaffen und in Sicherheit zu bringen. Während wir hier nämlich dieses nette Pläuschchen halten, kommen diejenigen, die für dieses Chaos verantwortlich sind, dir immer näher. Was du also nach meiner erneuten Rettungsaktion tust, ist dir überlassen." Er sagte die Wahrheit. Er hatte wirklich nicht vor, mich gefangen zu nehmen oder sonst etwas. Es ging ihm tatsächlich nur darum, mir zu helfen. Diese Erkenntnis löste Verwirrung in mir aus – damit hatte ich ganz und gar nicht gerechnet.

„Und zweitens: Du würdest nicht glauben, wie oft ich mir diese Frage bereits selbst gestellt habe. Also lass uns keine Zeit verschwenden und einfach darauf hoffen, dass wir beide irgendwann einmal eine Antwort erhalten werden."

Er kam auf mich zu und streckte langsam, so als wolle er meine Reaktion abwarten, eine Hand aus. Als ich nicht zurückwich und auch keinen Einwand von mir gab, legte er sie auf meine Schulter. Sofort verkrampfte ich mich. Nicht vor Angst und auch nicht, weil es unangenehm war oder weil ich es als verstörend empfand, dass er mich berührte. Sondern aus Scham. Weil es mir nichts ausmachte. Diese Hände hatten den Dolch geführt, der meinem Bruder den Tod gebracht hatte. Und ich ließ seelenruhig zu, dass sie mich anfassten. Und ich wusste, dass es daran lag, dass er Zweifel in mir weckte. Irgendetwas schien einfach nicht zusammenzupassen. Der Tod meines Bruders machte keinen Sinn, vor allem nicht, wenn sein Mörder mir krampfhaft das Leben retten wollte. Es musste einfach mehr dahinterstecken.

Und dennoch: Ich hasste mich dafür.

„Also, was sagst du? Bereit, dich zu befreien?", flüsterte er und sah mir dabei unnachgiebig in die Augen.

Wenn ich jetzt darauf einging, gab es kein Zurück mehr. Ich würde nicht einfach so wieder zu Thoans Anwesen zurückkehren und tun können, als hätte ich ihn nicht übergangen. Ich musste an Laykin und an Kirani denken...an Elyse und Cadowyn, ja, selbst an Oteris. War ich wirklich bereit, all das aufzugeben, nur wegen einer Verbindung, die mich einen Bruchteil meiner Freiheit kostete? Vielleicht irrte ich mich und die Glyth könnten doch irgendwann zu einer Art Familie für mich werden. Und das obwohl Jerasq mich an Thoan verraten hatte. Obwohl sie mir so wenig anvertrauten. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit.

„Trotz der Gefahr, dass dein Hass auf mich noch größer werden könnte...ich denke nicht, dass Kontrolle, Beraubung von Selbstbestimmung und Verrat die Definition von Familie sind."

Ich hatte meine Barriere fallen lassen. Unbewusst. Aber vielleicht gewollt.

„Vielleicht ist es aber das meiste an Familie, was ich je bekommen werde", entgegnete ich leise und bemühte mich, den Blick nicht von ihm abzuwenden.

„Das weiß ich nicht. Aber so wie du über...deinen Bruder sprichst, denke ich, dass du schon mal erfahren hast, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Das ist mehr, als viele andere von sich behaupten können..."

In diesem Moment ignorierte ich es, dass er über Nescan sprach. Damit würde ich mich morgen befassen. Oder an irgendeinem anderen Tag, sollte ich lebend aus diesem ganzen Chaos herauskommen.

„Tu es", sagte ich schließlich und sah ihm mit Nachdruck in die Augen, deren violette Farbe in der Dunkelheit nur zu erahnen war. So ungern ich es auch zugab, er hatte recht. Und meine Zweifel und mein Zögern waren nur das Ergebnis meiner Schwäche. Schon bei unserer Begegnung im Wald hatte Eathiran mir gesagt, ich solle aufhören, mich in Selbstmitleid zu ertränken. Er hatte verdammt nochmal recht. Es reichte. Es musste endlich aufhören. Ich wollte nicht mehr das Mädchen sein, dass nicht stark genug war, schwierige Entscheidungen zu treffen. Ich hatte Fehler gemacht, aber ich würde nicht einen weiteren begehen, nur, weil ich Angst hatte, einsam zu sein. Jahrelang hatte ich alleine überlebt und ich würde es weiterhin tun, wenn nötig.

„Sicher?", fragte er noch einmal nach, als könnte er mir ansehen, dass nicht mal eine Spur von echter Sicherheit in meinem Inneren zu finden war.

„Ja. Tu es", wiederholte ich. Er sah mich noch einmal prüfend an, bevor er nickte und ich die Augen schloss.

„Na gut. Lass deine Barriere unten."

Und dann spürte ich es. Es fühlte sich an, als würde etwas nach meinem Geist greifen. Es war warm. Und sanft. Es suchte nach etwas und als es es kurze Zeit später fand, griff es danach. Mit einer Unnachgiebigkeit, die mich keuchen ließ.

„Da haben wir dich ja...", hörte ich Eathiran murmeln, bevor es auch schon vorbei war und er sich nach einem kurzen, ruckartigen Ziehen in meinem Inneren zurückzog. Meine Schulter ließ er nicht los.

„Hey, alles ok?", fragte er und langsam öffnete ich wieder die Augen. Ich fühlte mich genau so wie zuvor, weswegen ich ihn abwartend ansah.

„Ich habe sie getrennt. Jetzt wird er dich nicht mehr so einfach aufspüren können." Ich lauschte seinen Worten und Erleichterung überkam mich, weil er die Wahrheit sagte. Gleichzeitig hörte ich an seinem Unterton, dass er Thoan recht feindselig gegenüber stand und fragte mich, ob Erleichterung das richtige Empfinden war. Vielleicht hatte ich gerade den zweitgrößten Fehler meines Lebens begangen und freute mich auch noch darüber. Vielleicht waren sie alle mein Feind. Vielleicht aber, schätzte ich den ein oder anderen völlig falsch ein.

Als ich an Eathirans Blick erkannte, dass er schon wieder meine Gedanken mitbekam, zog ich meine Barriere hoch. Das war genug gewesen für einen Tag. Ab jetzt musste ich noch viel vorsichtiger sein. Denn nun war ich endgültig auf mich alleine gestellt und hatte niemanden, dem ich vertrauen konnte. Ich hoffte, dass Letzteres wenigstens nicht auf mich selber zutraf.

Ich rief mir noch einmal meinen Entschluss ins Gedächtnis: Kein Selbstmitleid mehr. Keine Schwäche.

Und dann richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf Eathiran.

„Und jetzt?"

„Jetzt", sagte er und sah sich um, bevor er einen kurzen Blick nach oben zu meinem Zimmer warf. „Jetzt sollten wir dringend verschwinden." 

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