18


Völlig überrumpelt stützte ich mich am Türrahmen ab. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet, aber offensichtlich hatte dieser Abend nicht vor, besser zu werden. Was war das bloß gewesen? Hatte man irgendetwas in die Luft gejagt? War das, was auch immer da vor sich ging, vielleicht der Grund dafür, dass Sacros und Thoan noch nicht nach mir gesucht hatten?

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich zu konzentrieren. Eins nach dem anderen. Zuerst würde ich das Buch sicher in meiner Tasche verstauen, dann würde ich mich um den Rest kümmern und mich dem stellen, was mich unten erwartete. Was auch immer das sein mochte.

Ich schloss die Tür hinter mir, eilte die letzten Schritte zu meiner kleinen Tasche, die ich hierher mitgenommen hatte, und schob die Kleidung darin zur Seite, um dem Buch Platz zu machen. Am liebsten hätte ich sofort reingeschaut, gelesen und meine Neugier besänftigt. Denn natürlich wollte ich wissen, was dort drinstand. Was es war, das dieses Buch so wertvoll machte. Doch das musste warten.

Gerade als ich die Tasche wieder hinter einem der Sessel abstellen und so ein wenig verbergen wollte, hörte ich mit einem Mal den Tumult, der im Erdgeschoss vor sich ging. Schnelle, laute Schritte, vereinzelt Schreie und Befehle, die durcheinander gerufen wurden. Es musste schrecklich laut sein dort unten, dass selbst ich die Aufregung einen Stock darüber mitbekam.

Ich stockte. War es dann wirklich eine gute Idee, runter zu gehen? Wer wusste schon, was da los war und ob es nicht sicherer wäre, mich in meinem Zimmer zu verkriechen und abzuwarten, bis Thoan oder einer der anderen mich holte? Aber...was, wenn sie es nicht taten? Was, wenn ihnen etwas zustieß? Dieser Gedanke bereitete mir überraschenderweise große Sorgen. Ich wollte nicht, dass einem von ihnen etwas passierte. Weder Thoan noch Jerasq oder Sacros. So wütend ich manchmal auch auf ihre Geheimniskrämerei war, konnte ich dennoch nicht abstreiten, dass sie mir nicht gleichgültig waren.

Was also sollte ich tun? Hin- und hergerissen blickte ich zur Tür und wieder zu der Tasche in meinen Händen. Und gerade als ich mich entschloss, wenigstens nachzusehen, wie die Situation unten war, ertönte ein weiterer, heftiger Knall. Verständnislos zog ich die Augenbrauen zusammen, während mein Herz anfing, viel zu laut zu pochen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ein Teil des Abendprogramms sein sollte. Irgendetwas lief da schief. Und ich musste wissen was. Anderenfalls würde ich nicht einschätzen können, wie weiter zu handeln war.

Aber ich würde die Tasche mitnehmen. Ich fühlte mich nicht gut dabei, sie hier zu lassen. Momentan war ich mir nicht sicher, wer alles mein Zimmer betreten würde. Schließlich hatte ich dem Astóric versprochen, ihm sein Buch eines Tages wiederzugeben. Und ich hatte vor, dieses Versprechen zu halten.

Kurzerhand warf ich mir die Tasche über die Schulter und tauschte die hohen Schuhe, die ich trug, gegen meine Stiefel aus, die weitaus angenehmer zu tragen waren. Außerdem konnte ich darin auch viel schneller rennen. Und das erschien mir unter den gegebenen Umständen als herausragender Vorteil. So, wie sich das nämlich anhörte, würde sowieso keiner mehr darauf achten, was ich trug.

Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet und versucht hatte, mich innerlich für das zu wappnen, was mir bevorstand, zögerte ich einige Sekunden, bevor ich schließlich entschlossen die Tür öffnete.

Und in diesem Moment wurde mir eines klar: Wenn das Leben sich einmal entschied, richtig beschissen zu laufen, dann würde es das mit einer bahnbrechenden Intensität tun. Und wäre es nicht gerade mein Leben, das diese Theorie bewies, wäre ich ehrlich beeindruckt gewesen.

Erstarrt hielt ich die Luft an und rührte mich nicht vom Fleck, während meine Hand sich um den Türgriff, an dem ich mich immer noch festhielt, verkrampfte.

„Manchmal frage ich mich schon, ob du es eigentlich darauf anlegst, dich in die Scheiße zu reiten oder ob du tatsächlich davon überzeugt bist, das Richtige zu tun."

Witzigerweise zählte ich in diesem Augenblick gedanklich all die Dinge auf, die heute Abend schon vorgefallen waren: Zuerst war ich in ein Zimmer eingebrochen, in dem ich unerwartet auf einen verdammten Astóric getroffen war. Dann hatte mir dieser auch noch geholfen, sodass ich nun irgendwie – so wurde mir klar – in seiner Schuld stand. Daraufhin war Ceszias Feier außer Kontrolle geraten und wahrscheinlich wurde Eleiwyrs Palast gerade angegriffen. Und währenddessen stand ich hier, nur ein Stockwerk drüber, und blickte in Eathirans dunkle, violette Augen.

Auch sonst ging es mir großartig. Danke der Nachfrage.

Als ich aus meiner Starre endlich aufzuwachen schien, schlug ich reflexartig die Tür zu. Doch kurz bevor mir das gelingen konnte, hielt der Mistkerl diese auf.

„Entweder du lässt mich freiwillig rein oder ich werde die Tür aufstoßen und du wirst dir mit hoher Wahrscheinlichkeit wehtun." Ich stemmte mich weiterhin gegen die Tür und dachte noch nicht einmal daran, diesen Mörder in mein Zimmer zu lassen. Dachte er wirklich, ich wäre so blöd?

Er seufzte. „Hör zu, ich werde so oder so reinkommen. Und wir hatten auch so schon nicht den besten Start. Also geh zur Seite, damit du mir später nicht auch noch vorwerfen kannst, dich verletzt zu haben."

Hatte der Typ ein Erinnerungs-Problem oder so?

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber den Punkt haben wir bereits abgehakt", krächzte ich, während der Druck, den er von außen auf die Tür ausübte, kontinuierlich stärker wurde.

Einige Sekunden lang schwieg er. Offensichtlich hatte er meine Anspielung verstanden. Mit Nescans Tod hatte er mir nämlich nicht nur psychischen Schmerz zugefügt. Mein Herz hatte sich jahrelang angefühlt, als würde es zerbersten vor Trauer. Und das war schmerzhafter gewesen als jede Verletzung, die ich je erlitten hatte.

„Geh zurück, Allyra. Ich meine es ernst", versuchte er es erneut. Für einen kurzen Augenblick dachte ich tatsächlich daran, zu tun, was er wollte. Es wäre nur logisch gewesen. Schließlich war mir klar, dass er deutlich stärker war als ich und es wirklich nur eine Frage der Zeit war, bis er die Geduld verlieren und die Tür aufstoßen würde. Aber ich tat es nicht. Aus Prinzip.

„Verschwinde! Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber egal, was es ist: Ich werde es dir nicht geben. Und wenn du vorhast, mich zu töten-"

Ein genervtes, lautes Schnauben unterbrach mich. „Ich werde dich nicht töten, du - ...ich will dir nicht wehtun, geht das in deinen sturen Kopf rein?! Aber da du heute wohl nicht mehr zur Seite gehen wirst, lässt du mir keine Wahl."

Keine Sekunde später wurde die Tür ruckartig aufgestoßen und ich stolperte einige Meter nach hinten. Als ich mich wieder gefangen hatte und nach vorne blickte, sah ich nur noch, wie er die Tür hinter sich schloss, einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervorholte und diesen im Schlüsselloch einmal drehte, nur um ihn dann wieder sicher zu verstauen.

Er hatte uns eingesperrt.

Sein Blick wanderte einige Male über mich, als würde er sich vergewissern wollen, dass noch alle Gliedmaßen an Ort und Stelle waren. Ich konnte ihn beruhigen: Er hatte mir nicht wehgetan. Und der Gedanke, dass er sich darum bemüht hatte, nervte mich so sehr, dass ich ihm die Sorge in seinen Augen am liebsten ausgekratzt hätte. Er hatte kein Recht dazu. Weder das Recht, sich um mich zu kümmern, noch das Recht, nett zu mir zu sein.

„Was willst du hier?", zischte ich aufgebracht und trat noch einen Schritt nach hinten, obwohl das wahrscheinlich nicht nötig gewesen wäre. So ungern ich das auch zugab, mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass er mir nichts tun würde. Er hatte schon viel zu oft die Gelegenheit dazu gehabt. Das hieß, dass es ihm um irgendetwas anderes gehen musste. Und ich wollte wissen, was es war. Denn offensichtlich hing es in irgendeiner Weise mit mir zusammen, sonst wäre er kaum hier aufgetaucht – wie auch immer er hierher gekommen sein mochte.

„Was ich hier will?" Er sah sich im Zimmer um, bevor er auf eines der großen Fenster zulief und nach draußen sah. Er schien tatsächlich etwas gehetzt zu sein.

„Dein Leben retten", fügte er dann hinzu, bevor er murmelte: „Was denn sonst..."

Ein ironisches Auflachen entwich mir. Das sollte wohl ein schlechter Witz sein.

„Offensichtlich hast du eine ganz persönliche – für niemand anderen verständliche – Definition von 'Leben retten'. Bisher hast du mein Leben nämlich nur zerstört", entgegnete ich und versuchte noch nicht einmal den feindseligen Unterton in meiner Stimme zu verbergen.

Ich sah mich um, während er es nicht für nötig hielt, mir zu antworten und stattdessen immer noch damit beschäftigt war, aus unterschiedlichen Winkeln aus den Fenstern zu starren.

Mein Blick fiel auf den leeren Teller auf dem Tisch neben mir. Nach dem Frühstück hatte Yila den schmutzigen Teller abgeräumt und gleich darauf einen neuen, sauberen hingestellt. Und gleich daneben das silberne Besteck. Das silberne Messer.

Es war scharf, das wusste ich. Natürlich nicht so scharf wie ein Dolch oder ein Schwert, aber scharf genug, um jemanden damit verletzen zu können.

Ich konnte nicht anders. Alles in mir schrie nach Rache. Ich musste zugeben, für einen Moment erschreckte es mich, zu was ich fähig zu sein schien. So wollte ich nie werden. Und doch hatte er mich dazu gemacht.

Ich griff nach dem Messer, langsam, unauffällig. Und dann zögerte ich nicht, dachte nicht noch einmal darüber nach. Diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen. Wer wusste schon, ob sich jemals wieder eine solche Situation ergeben würde? Er war direkt vor mir und seine Aufmerksamkeit war nicht auf mich gerichtet. Er würde es nicht kommen sehen.

Mein Kopf war wie leergefegt. Ich stürmte auf ihn zu und nach wenigen Schritten hatte ich ihn bereits erreicht. Noch bevor ich bei ihm angekommen war, hatte ich ausgeholt und zielte nun direkt auf seinen Hals.

Das nächste, was ich wahrnahm, war der eiserne Griff um mein Handgelenk und der klirrende Klang, als das Messer auf den Boden fiel. Mit der anderen Hand umfing er meinen Oberarm.

Ich erstarrte.

Er war viel zu schnell gewesen. Wie hatte er das nur gemacht?!

Ruckartig zog er mich näher an sich heran. So nah, dass unsere Nasenspitzen nur fingerbreit von einander entfernt waren.

Und dann fiel mir der feine, kleine Schnitt an seiner Wange auf. Ich hatte ihn also doch erwischt.

„Hör mir jetzt gut zu." Er beugte sich noch ein paar Millimeter vor und so konnte ich gar nicht anders, als in seine Augen zu blicken, die mir eine ungewohnte Gänsehaut bescherten. Er war zu nah. Viel zu nah. „Du verschwendest kostbare Zeit. Dort unten sind Leute, die dich töten werden, wenn sie dich finden. Also reiß dich verdammt nochmal zusammen, wenigstens für die nächste Stunde." Dann sagte er nichts mehr, sondern sah mich nur an. Sein Atem ging schwerer, als er sollte, und ich sah, dass er schluckte, während sich das wenige Blut, das dem Schnitt entwischen konnte, einen Weg über sein Gesicht suchte. Er war angespannt.

Dann, als hätte ihn jemand daran erinnert, dass er keine Zeit hatte, schob er mich nach hinten und ließ mich los.

„Und wenn du das nächste Mal versuchst, mich zu verletzen oder mich zu töten – dann mach es richtig."

Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und sah erneut aus dem Fenster.

„Ich verstehe es nicht", kam es flüsternd aus meinem Mund, während ich wie benommen auf seinen Rücken starrte. Selbst ich hörte, wie verzweifelt ich klang.

Ohne sich umzudrehen, fragte er: „Was?"

„Ich verstehe nicht, warum das alles passiert." Ohne mein Zutun sammelten sich Tränen in meinen Augenwinkeln. Doch das merkte ich kaum. „Du hast meinen Bruder getötet. Du hast mir damit alles genommen, was mir noch geblieben war. Und du weißt genau, dass ich dich hasse. Also verstehe ich einfach nicht, warum du das alles tust. Warum nimmst du mir zuerst das, was ich am meisten liebe, um mir dann Jahre später das Leben zu retten? Wer bist du?" Meine Stimme zitterte.

Er hielt in seinen Bewegungen inne, während er sich auf dem Fenstersims abstützte, und ich sah, wie seine Muskeln sich anspannten. Der leise Laut, der ihm daraufhin entwich, hörte sich...gequält an. Er strich sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar, dessen Farbe mit der Dunkelheit draußen nahezu zu verschmelzen schien.

„Manchmal muss man einiges in Kauf nehmen, um etwas zu erreichen." Er machte eine schwerwiegende Pause. „Auch wenn es Hass ist."

Dann entschied er sich wohl doch noch, sich zu mir zu drehen. Mit ernstem Gesicht sah er mich an und in seinen Augen spiegelten sich so viele Emotionen wider, dass ich nicht erkennen konnte, was wirklich in ihm vorging.

„Ich bin es nicht, der alle Entscheidungen trifft. Glaub mir."

Bevor ich antworten oder auch nur in irgendeiner Weise auf seine überraschenden Worte reagieren konnte, glitt sein Blick von mir auf die Tür hinter uns. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und von einem Moment auf den anderen war es so, als hätte dieses kurze Gespräch nie stattgefunden.

„Wir müssen los. Sie sind bereits auf dem Weg nach oben", stellte er kühl fest, nur um sich daraufhin umzudrehen und eines der Fenster zu öffnen.

„Ich soll mit dir gehen?!", fragte ich überfordert und wusste selber nicht, was ich tun sollte. Er hatte gesagt, sie würden mich töten - es war die Wahrheit gewesen. Und mit ihm hätte ich vielleicht eine Chance, dem zu entkommen. Auch wenn er der Letzte war, dem ich die Möglichkeit geben wollte, mir zu helfen.

„Wie wäre es, wenn wir die Diskussionen auf später verlegen? Hast du alles, was du brauchst?", entgegnete er und sah mich erwartungsvoll an.

Tief durchatmend fasste ich einen Entschluss. Ich würde mich dafür verfluchen und wahrscheinlich würden mich die Schuldgefühle gegenüber Nescan von innen heraus auffressen. Aber ich sah einfach keinen anderen Ausweg.

Schnell schaute ich mich um, bis mein Blick schließlich auf die Tasche mit dem Buch fiel, die mir vorhin auf den Boden gefallen war. Sofort beeilte ich mich und griff nach ihr, bevor ich mich wieder zu Eathiran stellte und ihn entschlossen ansah. „Ja."

„Gut", nickte er zufrieden und deutete dann aus dem Fenster. „Dann hoffe ich mal, du hast keine Höhenangst." 

◇◇◇

Hallöchen.
Das hier ist das letzte Kapitel für dieses Jahr. Ich hoffe, ihr hattet alle Spaß mit dieser Geschichte die letzten Monate. Um einen kleinen Anhaltspunkt zu haben: Wir sind gerade ungefähr bei der Hälfte des Buches. Also...jedenfalls wenn alles so läuft, wie ich es plane. (Lol sind wir ehrlich: wahrscheinlich nicht.)

Und ich will mich auch hier noch für die über 20k Reads bedanken! Und für all die Kommentare und Votes! Vielen Dank, ihr Lieben!🎀

Ich wünsche schon mal allen, die feiern, frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!🌚

Eure Karo♡

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