13
Ich weiß nicht, ob ich aufgeregt hätte sein müssen. Aber ich war es nicht. Ich hatte weder Angst noch war ich nervös. Ich wusste ja bereits, dass Thoan von der ganzen Sache mit dem Wald und dem Halbglyth erfahren haben musste, also konnte mich das immerhin nicht mehr überraschen. Wenn er wollte, sollte er mich eben bestrafen, mittlerweile war ich an einem Punkt angelangt, an dem es mir egal war, was er tun würde. Das Einzige, was ich wollte, waren Antworten. Und ich war entschlossen, sie heute zu bekommen.
Bevor ich die Hand hob und anklopfte, prüfte ich noch einmal meine Barriere. Ich hatte aus meinen Fehlern gelernt und ein weiteres Mal würde mir so etwas ganz bestimmt nicht passieren. Wenn ich es verhindern konnte, würde ich keinen Glyth mehr in meinen Kopf lassen. Nicht freiwillig und auch nicht aus Unachtsamkeit. Den ganzen Morgen hatte ich wieder damit zugebracht, an meiner mentalen Mauer zu arbeiten, bis Elyse irgendwann in mein Zimmer gekommen war und mir gesagt hatte, dass Thoan mich in seinem Arbeitszimmer erwartete.
Ich klopfte.
„Komm rein." Ich öffnete die Tür und nahm mir ein paar Sekunden Zeit, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Er sah fast genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Sehr...zurückhaltend.
„Setz dich, Allyra", sagte Thoan und deutete auf einen der Sessel, die in der Nähe des großen Schreibtisches standen. Kurz überlegte ich, ob ich absichtlich seine Anweisung ignorieren und stehen bleiben sollte, entschied mich dann aber dagegen. Er würde es heute schon schwer genug mit mir haben.
Er stellte sich vor mich und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Tisch hinter sich an. Eine Weile lang sagte er nichts mehr und ich hatte den Eindruck, dass er überlegte, wie er am besten anfangen sollte. Sein Blick war auf den Boden vor ihm gerichtet.
„Wieso hast du's getan? Neugier? Wolltest du dich auflehnen?" Er sah zu mir auf. „Hast du den Drang, dich unbedingt in Gefahr bringen zu müssen?"
Er hörte sich nicht wütend an, nein, im Gegenteil, er war überraschend ruhig und entspannt. Als würde er gerade über das Wetter reden. Ich musste zugeben, dass mich das ein wenig irritierte. Ich war zwar an seine gefasste Art gewöhnt, trotzdem hatte ich mit mehr gerechnet. Mit mehr Zorn und Verärgerung, wenigstens mit leicht schlechter Laune. Doch selbst davon merkte ich nicht wirklich was.
„Hm, vielleicht ein bisschen von allem", antwortete ich, zuckte unschuldig mit den Schultern und konnte ein kleines, ironisches Lächeln einfach nicht zurückhalten. Irgendwie stimmte es ja.
Es wäre mir fast entgangen, doch ich hatte gerade noch das kurze Zucken seiner Augenpartie beobachten können. Aha. Da war es ja. Es reizte ihn eben doch. Und wenn ich ganz ehrlich war, freute mich das sogar ein wenig. Selbst diesen unerschütterlichen Glyth konnte man mit genug Anstrengung aus dem Konzept bringen.
„Was brauchst du noch? Du hast einen Ort zum Leben, ein Bett zum Schlafen, Personen, die dich mögen und dich ins Herz geschlossen haben", er sah weg und schluckte. „Ich habe dir ein Zuhause geboten, also, warum stellt dich das nicht zufrieden? Alles, was ich verlangt habe, war, dass du dich an ein paar wenige Regeln hältst. Dass du dich nicht in Gefahr begibst!"
Fassungslos blickte ich ihn an. „Meinst du das ernst? Wenn ich etwas verstanden habe, dann, dass das hier ganz bestimmt nicht mein Zuhause ist. Und Personen, die mich mögen?! Meinst du Elyse? Sie mag jeden. Bei dir hingegen habe ich noch nicht so viel davon zu spüren bekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin dir so verdammt gleichgültig und dann frage ich mich, wieso du mich überhaupt hierher gebracht hast, wenn es wirklich so ist. Willst du meine Fähigkeit ausnutzen, weil das etwas ist, das ihr Glyth nicht könnt?!"
Dieser Gedanke war mir schon am ersten Tag gekommen. Ja, einige Glyth konnten vielleicht Gedanken lesen, deine Gefühle spüren und noch viel mehr, doch theoretisch konnte jeder es schaffen, einen Glyth in die Irre zu führen. Dafür brauchte es nur genug Übung. Denken konnte man vieles, es musste aber nicht immer stimmen. Und Gefühle konnten einem nun mal nicht alles über einen verraten. Viel - aber nicht alles. Außerdem gab es da auch noch die Barriere, die einen Glyth aussperren konnte. Meine Fähigkeit dagegen konnte man nicht umgehen, völlig egal, wie viel man dafür trainierte. Selbst Thoan nicht mehr, seit ich meine mentale Mauer aufstellen konnte und er nicht mehr in der Lage war, mich in meinen Entscheidungen zu beeinflussen. Mir lag die Wahrheit zu Füßen und das war jedem klar, der davon wusste.
„Ist das dein Problem? Du denkst, du seist mir gleichgültig?" War das Überraschung...Verwunderung, die da in seinen Augen aufblitzte? Oder interpretierte ich das völlig falsch und er fand alles, was ich sagte, einfach nur lächerlich?
Die Vermutung, dass ich ihm nichts bedeutete, war tatsächlich vorhanden und in einem gewissen Maße störte sie mich auch. Warum auch immer. Doch sie war nicht der Grund gewesen, weshalb ich in den Wald gegangen war.
„Also ist es so? Dann sag mir, warum ich hier bin", verlangte ich erneut und versuchte standhaft zu bleiben. Ich wollte Antworten und ich hatte mir geschworen, sie heute zu bekommen.
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Offensichtlich brachte ich ihn an seine Grenzen und dabei hatte das Gespräch erst begonnen.
„Warum musst du mir zwingend etwas bedeuten, damit ich dir helfe?"
„Das ist also deine Erklärung? Du wolltest mir helfen und mich aus dem Dacium holen? Komm schon, Thoan. Deine verdammten Ausreden kannst du dir sonst wohin-"
„Hüte dein Zunge, Lyra. Ich bin geduldig mit dir, wirklich sehr geduldig. Aber du solltest es nicht auf die Spitze treiben."
„Nein, ich glaube, ich bin die Einzige hier, die wirklich geduldig ist. Von Anfang an hast du mir versprochen, mich über alles aufzuklären und jetzt warte ich bereits seit einer halben Ewigkeit, aber du hast seit meiner Ankunft noch nicht einmal ein Gespräch mit mir geführt, das mehr als zehn Worte beinhaltet hätte!"
Gestresst strich er sich durch die Haare und seine Kiefermuskeln spannten sich sichtlich an.
„Deine Gabe ist einzigartig. Und natürlich war sie einer der Hauptgründe, warum ich dich aus dem Dacium geholt habe." Er sagte die Wahrheit. „Eine solche Fähigkeit verleiht Macht und bei einem solch kleinen Volk wie unserem ist Macht wertvoller als jedes Vermögen dieser Welt."
„Also wollt ihr mich ausnutzen? Ist das der Grund?"
Er seufzte. „ Wir wollen, dass du zu uns gehörst. Eine von uns bist." Wieder die Wahrheit. Doch dieses Mal entging mir nicht, dass er bei seinen Antworten geschickt vorging. Er sagte Dinge, die er zwar so meinte, doch ging dabei gleichzeitig nicht direkt auf meine Fragen ein. Ich blieb misstrauisch.
„Was ist das hier eigentlich, dieses 'uns'? Ich meine dich, Laykin, Cadowyn, Kirani und so weiter. Ist das hier einfach nur eine freundschaftliche Lebensgemeinschaft? Oder hat dieser Zusammenschluss hier einen tieferen Zweck?", fragte ich als nächstes.
„Ich würde nicht mit ihnen unter einem Dach wohnen, wenn ich sie nicht zu meinen Freunden zählen würde. Jerasq, Cadowyn und ich sind gemeinsam aufgewachsen. Und Kirani natürlich auch. Laykin und Oteris sind später dazugekommen. Solche Zusammenschlüsse sind seit dem Krieg, von dem du bestimmt schon mal gehört hast, eine gängige Sache bei den Glyth. Die Anzahl der Überlebenden war so gering, dass es schwer wurde, alleine klarzukommen, in einem Land, in dem man eine klare Minderheit bildete. Also entstanden kleine Dörfer oder eben solche Lebensgemeinschaften wie diese, um sich gegenseitig unterstützen zu können. Und mittlerweile ist das etwas völlig Normales, auch wenn das Volk der Glyth wieder ein wenig an Größe zugenommen hat."
Heute ließ ich meiner Gabe ganz besonders viel Raum. Ich wollte die Wahrheit und nichts anderes. Glücklicherweise hatte sich Thoan wohl dazu entschieden, mir diese endlich zu geben.
„Gut. Was hat es mit meiner Gabe auf sich? Du scheinst mehr darüber zu wissen als ich. Also weih mich ein", fuhr ich direkt fort, doch der Glyth legte den Kopf schräg und hob belustigt eine Augenbraue.
„So läuft das hier nicht, Kleines", sagte er. „Du wolltest doch ein richtiges Gespräch, oder etwa nicht? Dann wirst du aber ganz bestimmt nicht die Einzige sein, die Fragen stellt." Er umschloss mit beiden Händen den Rand des Tisches hinter sich. „Ich bin dran."
Damit nahm er mir zugegebenermaßen etwas den Wind aus den Segeln. Ich hatte mir das Ganze anders vorgestellt. In meinem Kopf hatte sich das so abgespielt, dass ich dieses Mal den Ton angeben würde. Anscheinend konnte ich das nun aber vergessen.
Mit durchdringendem Blick fixierte er mich. „Erzähl mir von deiner Begegnung mit dem Mischblut."
Ich schluckte. Verdammt, das war das Letzte, worüber ich mit ihm reden wollte. Er hätte sich wirklich kein schlechteres Thema aussuchen können. Aber eigentlich war es ja zu erwarten gewesen.
„Was soll ich da groß erzählen? Ich habe ihn zufällig im Wald getroffen."
„Ihr habt gesprochen. Worüber?"
Thoan ließ mich nicht für eine Sekunde aus den Augen, als würde er versuchen, jede Regung meines Gesichts aufzufangen. Vielleicht war das ja seine ganz persönliche Methode herauszufinden, ob ich log oder nicht. Ich entschied, sie erst einmal nicht auf die Probe zu stellen.
„Er war nicht begeistert darüber, dass ich mich alleine im Wald aufhielt", erzählte ich wahrheitsgemäß und strich mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr.
Thoan schnaufte verächtlich. „Ich hasse es, ihm zustimmen zu müssen, aber es war töricht von dir. Besonders die Aktion mit dem Baum der Wahrheit. Du hättest ihn nicht so leichtfertig berühren dürfen." Der Baum der Wahrheit also. Jerasq hatte ihm ja so einiges erzählt, Details schien er nicht ausgelassen zu haben. Ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie die beiden sich über mich unterhalten hatten. Das musste ein interessantes Gespräch gewesen sein. Schade, dass sie mich nicht zu ihrem Plauderstündchen eingeladen hatten. Jetzt fühlte ich mich doch glatt ein wenig ausgeschlossen.
„Ja, das ist auch mir mittlerweile klar. Hättest du mir mehr erzählt, wäre das vielleicht nicht passiert", warf ich ihm vor und hatte dabei nicht das leiseste, schlechte Gewissen.
Die Augen wachsam zusammenkneifend, fragte er: „Was hat er dir gezeigt? Der Baum, meine ich?"
Klar, jetzt sollte ich ihm auch noch über Nescan berichten und am besten auch noch darüber, dass das Mischblut, wie sie ihn nannten, sein Mörder war. Er wollte alles wissen, einfach alles. Doch nicht mit mir.
„Er hätte mir etwas zeigen sollen?", runzelte ich überzeugend die Stirn. „Hm. Dazu ist es wohl nicht gekommen, kaum habe ich meine Hand auf die Rinde gelegt, ist der Halbglyth erschienen und hat mich von dem Baum weggerissen." Ob er mir glaubte? Ich konnte es nicht erkennen, viel zu undurchdringlich war sein Gesichtsausdruck. Hatte Jerasq ihm womöglich auch von meinem Schrei erzählt? Von den offensichtlichen Schmerzen, die ich verspürt hatte? Diese Unterhaltung hier war ein sehr schmaler Grat, auf dem ich mich bewegte. Ein verdammt schmaler.
„Halbglyth...", murmelte Thoan plötzlich und strich sich nachdenklich über sein markantes Kinn. „Welches, deiner Meinung nach, anderes Blut fließt denn noch in ihm?"
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet und verstand auch nicht, worauf er damit hinauswollte. „Er ist halb Glyth und halb Mensch. Ist das wichtig?", entgegnete ich verunsichert und konnte beobachten, wie ein spöttisches Grinsen sich auf seine Lippen legte.
„Weißt du, manchmal scheinst du mir doch tatsächlich ein wenig naiv zu sein. Bei deiner Vergangenheit, die bestimmt kein Kinderspiel war, hätte ich das nicht erwartet." Ich schluckte, als ich die leise, doch offenkundige Beleidigung in seinen Worten erkannte. Aber bevor ich etwas Bissiges erwidern konnte, kam er mir zuvor.
„Der Mann, mit dem du dich so reizend im Wald unterhalten hast, Allyra, ist ein halber Astóric."
Meine Überraschung konnte ich nur schwer verbergen. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass diese Möglichkeit auch bestand. Und mit diesem Wissen wurde mir nun auch so einiges klar. Jetzt passte alles zusammen.
„Er kann-" Ich schluckte. „Er kann Verletzungen heilen, oder?" Die Astóric hatten besondere physische Fähigkeiten. Ich hatte schon von welchen gehört, denen Feuer nichts anhaben konnte und von welchen, die übernatürlich stark waren. Aber natürlich gab es noch viele weitere Gaben und das Heilen musste eine davon sein.
„Da kann wohl jemand eins und eins zusammenzählen. Ich bin zutiefst beeindruckt." Es schien ihn nicht zu überraschen, dass ich wusste, was genau der Astóric konnte. Das störte mich. Ich konnte so einfach nicht einschätzen, wie viel er wirklich wusste, wie viel er sich nur zusammengereimt und worüber er überhaupt keine Ahnung hatte. Auf diese Weise war es schwer, die Oberhand zu behalten.
Ich sagte nichts mehr. Die ganze Zeit hatte ich gehofft, dass es nicht er gewesen war, der mich geheilt hatte. Dass eine der anderen Möglichkeiten eintreten würde. Und obwohl es mich nicht mehr wirklich schockierte – immerhin hatte ich es ja ein wenig befürchtet – spürte ich das brennende Gefühl der Schuld in meiner Brust aufflammen. Ich konnte nichts dafür und doch fühlte ich mich schuldig dafür, dass Nescans Mörder mir geholfen hatte.
„Ich hoffe, das war dir eine Lehre. In Zukunft erwarte ich, dass du dich an meine Regeln hältst." Wieder schwieg ich und wartete, bis er fortfuhr. „Außerdem wollte ich dich darüber informieren, dass wir in zwei Wochen Eleiwyr einen Besuch abstatten. Um genau zu sein, der Königin. Was das versprochene Training deine Gabe betreffend angeht, ich habe es nicht vergessen. Wir werden es nur ein wenig aufschieben. Ich glaube, heute hast du keine besonders große Motivation mehr." Sein Ton hatte etwas Abschließendes. Offensichtlich erachtete er unser Gespräch als beendet. Ich erhob mich und ging zur Tür, um wieder auf mein Zimmer gehen und über all die neuen Informationen nachdenken zu können. Auch über den angekündigten Besuch bei Königin Ceszia.
Doch als ich die Tür bereits geöffnet hatte und endlich gehen wollte, blieb ich noch einmal stehen. Ohne mich zu Thoan umzudrehen, fragte ich: „Kennt ihr euch gut? Du und das Mischblut?"
Eine Weile kam keine Antwort. Und als ich schon dachte, er hätte mich vielleicht nicht gehört oder sich dazu entschieden, mich zu ignorieren, vernahm ich das leise Durchatmen.
„Wir sind...flüchtige Bekannte."
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