12
Es war schon sehr spät, als Jerasq sich zu Thoans Arbeitszimmer begab und anklopfte. Er hatte seinen Freund vor einigen Stunden nach Hause kommen hören, hatte jedoch entschieden, ihn erst einmal ankommen zu lassen.
„Ja?", ertönte seine müde Stimme und Jerasq trat in das abgedunkelte Zimmer. Thoan saß auf einem der beiden beigen Sessel und sah auf. Wie immer war das Zimmer aufgeräumt, so gut, dass es nahezu leer erschien. Auf dem Schreibtisch aus dunklem Holz war nur eine Landkarte zu finden, in dem kleinen Regal dahinter standen höchstens zehn Bücher. Keine Pflanzen, noch nicht einmal ein Teppich. Innerlich schüttelte Jerasq den Kopf über ihn. Das war sehr typisch für Thoan. Er mochte es schlicht und einfach, am besten geordnet. Er brauchte ein System, das er erkennen und dem er folgen konnte. Und das spiegelte sich auch in völlig alltäglichen Dingen wider.
Jerasq ließ sich in dem anderen Sessel, genau gegenüber von Thoan nieder. Eine Weile lang schwiegen sie einfach nur und jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach.
„Wie war dein Ausflug?", fragte Jerasq schließlich. Ohne zu zögern zog Thoan einen zerknitterten Zettel aus der Tasche seines dünnen Mantels, der auf der Armlehne lag, und reichte ihn seinem Freund.
„Mehr oder weniger aufschlussreich. Als ich Allyra damals im Dacium geholt habe, hat ihr irgendjemand diesen Zettel ins Zimmer geworfen." Misstrauisch betrachtete Jerasq den Zettel. Sofort erkannte er, was es mit ihm auf sich hatte. Er nickte. „Mächtige Magie, das schaffen nicht so viele..."
„Genau. Und meinen Nachforschungen der letzten Tage nach zu urteilen, ist es am wahrscheinlichsten, dass die Nachricht von Ceszia ist."
Überrascht hob Jerasq eine Augenbraue. „Königin Ceszia? Wir reden hier schon von der gleichen Person, oder? Was hätte sie denn für einen Nutzen, Allyra diese Nachricht zu schicken? Ich hätte schwören können, dass sie noch nicht einmal von ihrer Existenz weiß." Das kleine Nachbarland Eleiwyr lebte sehr abgeschottet und interessierte sich nur selten für die Angelegenheiten anderer. Mit Königin Ceszia an der Spitze war das Reich mächtiger geworden, noch weniger auf andere Länder angewiesen. Es wurde sogar ein ganz klein wenig gefürchtet, denn jeder wusste, dass Ceszia besondere Fähigkeiten besaß.
„Ich denke auch nicht, dass Ceszia der Absender der Nachricht war. Aber ich glaube, dass sie jemandem den Dienst erwiesen und diese Nachricht verfasst hat", erklärte Thoan und kniff dabei unwillkürlich die Augen zusammen.
„Ich nehme an, du hast vor, ihr einen Besuch abzustatten?", folgerte Jerasq und behielt recht.
„Ja. Ich werde alles in die Wege leiten und wenn alles reibungslos verläuft, sollten wir in etwa zwei Wochen die Erlaubnis für einen Besuch bekommen." Erschöpft strich sich Thoan über das Gesicht. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen, von genug Schlaf konnte definitiv nicht die Rede sein. Trotzdem fiel ihm an Jerasqs steinernen, unerschütterlichen Miene auf, dass er nicht zu ihm gekommen war, um ihn nach seinen Nachforschungen zu fragen.
„Spuck's schon aus, was ist passiert?", seufzte Thoan. Jerasq rührte sich nicht und antwortete auch nicht sofort. Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er Allyra wirklich verraten sollte und allein der Umstand, dass er daran gezweifelt hatte, ob er Thoan Bericht erstatten sollte, war auf so vielen Ebenen inakzeptabel, dass Jerasq sich darüber ärgerte wie schon lange nicht mehr.
„Sie war im Wald." Obwohl Thoan seinen Gesichtsausdruck gut unter Kontrolle hatte, konnte Jerasq sehen, dass sein Freund überrascht war und nicht damit gerechnet hatte.
„Alleine?" Sein Ton war ruhig, fast gelassen. Aber jeder, der Thoan auch nur annähernd so gut kannte wie Jerasq, wusste, dass das alles nur Fassade war. Er war nicht gelassen und in seinem Inneren herrschte ganz bestimmt keine Ruhe.
„Ja. Obwohl..."
„Obwohl?"
Für einen Moment schweifte Jerasqs Blick auf die Wand hinter Thoan, an der ein Gemälde hing, die einzige Dekoration des Raumes. Auf dem Bild waren zwei Männer abgebildet. Der Ältere und Größere, der mit dem grauen, langen Bart, hatte seinen Arm um den Jüngeren gelegt. Es war jedoch kein freundschaftliches und auch kein sanftes Umarmen, im Gegenteil, die Spannung im Bild war greifbar. Die Autorität, die vom Älteren ausging, war nicht zu übersehen.
Die beiden Männer waren Thoan und sein Vater.
„Sie ist ihm begegnet. Er war dort und wenn man es genau nimmt, hat er ihr sogar geholfen", sagte Jerasq schließlich. Thoans Kiefer spannte sich an.
„Eathiran?" Jerasq nickte zustimmend.
„Wie konnte das passieren? Wo wart ihr alle? Ich hatte doch darum gebeten, auf Allyra zu achten!" Obwohl Thoans Formulierung auch den Glyth gegenüber von ihm einschloss, wusste Jerasq, dass der Vorwurf nicht ihm galt. Thoan wusste, dass Jerasq niemand war, der sich um so etwas kümmern würde. Dafür lebte er viel zu zurückgezogen.
„Das Mädchen ist schlauer als du denkst, Thoan. Offensichtlich wusste sie, wie sie entwischen kann."
„Dass sie nicht blöd ist, weiß ich." Er seufzte. „Was hat er zu ihr gesagt? Oder hast du nicht -"
„Ich weiß nicht, was er gesagt hat. Ich habe in ihren Erinnerungen nur gesehen, wie er sie vom Baum der Wahrheit weggerissen hat."
„Verdammt!", fluchte Thoan, schlug mit der geballten Faust auf den weichen Stoff und sprang auf, nur um von einem Ende des Raumes zum anderen zu laufen. „Und er hat sie einfach wieder gehen lassen? Was hat der Typ nur vor?!"
„Als ich sie heute früh in der Bibliothek getroffen habe, schien es ihr ganz gut zu gehen oder jedenfalls sah sie so aus. Vielleicht ein wenig unausgeschlafen, aber sonst schien alles heil zu sein."
„Oh, bitte, natürlich war alles heil. Dieser Scheißkerl hätte sie doch niemals verletzt zurückkommen lassen, wahrscheinlich hat er gehofft, die Begegnung vertuschen zu können", entgegnete Thoan aufgebracht und selbst er konnte seine Emotionen nicht mehr verbergen. Er konnte es nicht leiden, wenn etwas vor sich ging, das er nicht nachvollziehen konnte. Etwas, das nicht seinem System, seinem Plan folgte.
„Du dachtest also, er würde sie bei der erstbesten Gelegenheit zu sich holen?"
„Natürlich! Sie wissen von ihr, vielleicht sogar länger als wir. Ich hatte bisher nur gedacht, dass sie sie nicht finden konnten und wir einfach schneller waren. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Er weiß, dass sie hier bei uns ist und er unternimmt nichts. Oder er wartet auf irgendetwas und ich weiß einfach nicht...-" Thoan biss die Zähne zusammen. „Worauf wartet er, verflucht?"
Jerasq betrachtete seinen Freund und er konnte nicht sagen, wann er ihn das letzte Mal so wütend erlebt hatte. Er war nicht besorgt um ihn, dafür brauchte es viel mehr, aber trotzdem hoffte er, dass sie ihre Antworten schon bald erhalten würden. Er hoffte, dass sie sie erhielten, bevor es zu spät war.
„Vielleicht steckt gar nicht so viel dahinter. Du weißt doch, wie er ist. Er ist ein Stratege, er könnte das alles nur tun, um dich in den Wahnsinn zu treiben. Vielleicht will er dich einfach nur aus der Reserve locken."
„Du hast recht, ich weiß genau, wie er ist. Und er tut nie etwas, ohne Grund. Entweder er versucht wirklich, mich zu verunsichern oder er weiß mehr als wir. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob gerade der beste Moment ist, um sich auf Ersteres zu verlassen."
Gestresst strich Thoan weiße Strähnen seines Haares zurück und starrte nun, genau so wie Jerasq es zuvor getan hatte, das Bild von seinem Vater und sich an.
„Mir war klar, dass er früher oder später herausfinden würde, dass sie hier ist. Dass wir sie haben. Aber ich hätte definitiv mit einer anderen Reaktion gerechnet. Ich werde mich morgen mit ihr unterhalten und...ich werde herausfinden, was er ihr erzählt hat. Wir können es uns nicht leisten, sie jetzt zu verlieren."
Jerasq räusperte sich. „Hast du eigentlich vor, ihr irgendwann die Wahrheit zu sagen? Sie bis zum Ende zu belügen, stelle ich mir sehr kompliziert vor."
Thoan ließ sich Zeit mit seiner Antwort, lief stattdessen noch eine Runde im Zimmer, nur um sich dann wieder hinzusetzen. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, wie er es am besten angehen sollte, wie viel er Allyra wirklich erzählen sollte und wie viel er lieber für sich behielt. Bei einer solch heiklen Angelegenheit musste dies gut überlegt sein.
„Diese Sache mit der Wahrheit ist ein Balanceakt. Besonders bei Allyra. Ich kann sie nicht anlügen, erst recht nicht, wenn sie ihre Barriere endgültig unter Kontrolle hat. Das heißt, ich bin gezwungen, die Wahrheit zu sagen, um ihr Misstrauen nicht zu erwecken. Folglich bleibt mir nur übrig, ihr einfach nicht alles zu erzählen. Im Moment ist das der einzige plausible Weg, der mir einfällt." Allyras Fähigkeit würde vieles schwieriger machen. Doch gleichzeitig würde sie sie auch zum Ziel führen.
„Als sie heute in der Bibliothek war, hat sie sich ein Buch ausgesucht. Aus diesem riesigen Haufen an Geschichten und Erzählungen hat sie sich ein einziges herausgegriffen", erzählte Jerasq und schweifte vom Thema ab. Er hatte das Gefühl, es jemandem erzählen zu müssen. Er wollte es einfach loswerden. „Worte einer verlorenen Seele. Jivas Lieblingsbuch."
Bei Jivas Namen horchte Thoan auf. Er wusste, wie viel diese Frau seinem Freund bedeutet hatte. Immer noch bedeutete.
„Sie hat es voller Neugier aufgeschlagen und ...und so fasziniert jedes Wort in sich aufgenommen, man konnte es ihr richtig ansehen."
Wenn Thoan jemals wahre Liebe gesehen hatte, dann war es bei Jerasq und Jiva gewesen. Manchmal war er sogar etwas neidisch gewesen, dass sein Freund eine solche Frau an seiner Seite gehabt hatte, eine, die ihn angehimmelt hatte. Eine Frau, die sein Freund vergöttert hatte.
„In diesem Moment hat sie mich so sehr an sie erinnert, weißt du? Dieser Glanz in ihren Augen, diese Sanftheit im Umgang mit dem Buch..." Jetzt, da er es aussprach, wusste Jerasq, was ihn dazu gebracht hatte, an seinem Entschluss, Thoan von der Sache mit dem Wald und Eathiran zu erzählen, zu zweifeln. Jiva hätte er niemals verraten.
„Wenn ich könnte, würde ich sie dir zurückbringen", sagte Thoan und schaffte es nicht, dabei zu lächeln.
„Wenn man sie zurückbringen könnte, hätte ich es schon längst getan. Ich würde alles für sie hergeben." Er sah zu Thoan und für einen Moment blitzte Belustigung in seinem Blick auf. „Selbst dich, mein Freund."
Thoans Mundwinkel zuckte. „Ich bin nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht sogar selber hergeben würde, wenn diese Möglichkeit bestünde."
Eine angenehme Stille breitete sich aus und für einige Minuten wagte es keiner von ihnen, sie zu durchbrechen. Manchmal konnte Stille viel mehr aussagen als Worte je in der Lage wären.
„Sei morgen nicht zu hart zu ihr. Versuche, dich in ihre Lage zu versetzen. Irgendein Fremder, dazu noch ein Glyth, reißt sie aus ihrem gewohnten Umfeld und plötzlich muss sie sich an seine Regeln halten, ob sie will oder nicht."
„Pha", spottete Thoan und verdrehte die Augen. „An meine Regeln halten? Also davon hab' ich jetzt noch nicht so viel gemerkt, um ehrlich zu sein."
Schmunzelnd fuhr Jerasq fort. „Sieh es doch mal so: Ja, sie hat sich dir widersetzt und trotz deines Verbots den Wald betreten. Aber offensichtlich nicht, um wegzulaufen oder sonst etwas. Höchstwahrscheinlich war es reine Neugier. Sie ist in den Wald gegangen mit dem Ziel wieder zurück zu kommen. Und das hat sie auch getan. Es hätte auch anders kommen können." Jerasq wusste auch nicht so recht, warum er den Drang verspürte, Allyra zu verteidigen. Er konnte nicht immer alles nur auf ihre Ähnlichkeit mit Jiva schieben.
„Mach dir nicht in die Hosen, ich werde einfach nur mit ihr reden. Und ja, ist ja gut, ich werde auch versuchen, mich zu beherrschen und so freundlich wie möglich zu sein." Jerasqs Gesichtsausdruck verriet, was er von Thoans Versprechen hielt. Er wusste genau, dass Thoan aufbrausend sein konnte, auch, wenn er sich meist zurückhielt.
„Was? Glaubst du mir etwa nicht? Du kannst dich dann ja bei ihr erkundigen und sie danach fragen, wie nett ich gewesen bin." Dieser Vorschlag implizierte, dass Jerasq sich wieder mit ihr unterhalten müsste. Und der Glyth war sich nicht sicher, ob er das wirklich wollte.
Er erhob sich , trat zur Tür und griff nach der Klinke.
„Ich glaube, ich belasse es dabei, dir zu vertrauen."
◇◇◇
Hallöchen 🌚
An dieser Stelle sind nun die 30.000 Worte überschritten🎉
Bald haben wir schon etwa ein Drittel der Geschichte durch :')
Was mich mal interessieren würde: Also ihr wisst ja, dass es in meinen Büchern immer einen (oder mehrere) love interest gibt 🌚 Bisher ist glaube ich aber noch nicht 100% klar, wen es in dieser Geschichte treffen wird...also was denkt ihr? 😁 Bin schon sehr gespannt auf eure Vermutungen! Lasst eurer Fantasie ruhig freien Lauf :P
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