11

Ich war geduldig. Nein, ehrlich, ich war unfassbar geduldig. Diese Eigenschaft war mir nie so deutlich an mir aufgefallen wie in letzter Zeit. Doch so dick und robust der Geduldsfaden auch sein mochte, irgendwann riss er dann doch. Still und leise, flüchtig, ja, kaum merkbar – aber er riss.

Und mein Faden war nach meinem Ausflug in den Wald nicht einfach nur gerissen. Meiner hatte sich endgültig in Luft aufgelöst, war spurlos verschwunden. Und so sehr ich auch nach ihm suchte, in der Hoffnung, ihn wieder zusammenknoten zu können, ich konnte ihn einfach nicht finden.

Nachdem ich völlig aufgelöst wieder im Anwesen angekommen war – meiner guten Orientierung sei Dank, ich hatte den Weg zurück tatsächlich gefunden – und mich glücklicherweise noch niemand vermisst hatte, war ich sofort in meinem Zimmer verschwunden und hatte mich auch nicht mehr blicken lassen. Ich hatte es mir nicht zugetraut, in einem solchen Zustand allen etwas vorzuspielen. Als mich Laykin zum Abendessen gerufen hatte, hatte ich höflich abgelehnt, mit der Begründung, ich würde mich nicht besonders gut fühlen und es vorziehen, früher schlafen zu gehen. Das war noch nicht einmal gelogen gewesen. Jedoch war nichts aus dem ersehnten Schlaf geworden, denn stattdessen hatten mich die ganze Nacht eine Schar von Vermutungen, furchtbaren Theorien und Gedanken geplagt. Das letzte Mal, dass ich eine solch unruhige Nacht gehabt hatte, war nach Nescans Tod gewesen.

Es gab vier Dinge, die mich in diesen langen Stunden am meisten beschäftigt hatten.

Zum einen die Vermutung, dass Thoan den Mörder meines Bruders kannte. Ich hatte in dem Moment zwar nicht darauf reagiert, war viel zu abgelenkt gewesen von seiner bloßen Anwesenheit, doch ich hatte nicht vergessen, wie der Kerl von dem Idioten gesprochen hatte, der mir erlaubte, den Wald zu betreten. Und wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, musste damit wohl Thoan gemeint sein. In welcher Verbindung standen die beiden und woher wusste dieser Mistkerl, dass ich bei Thoan wohnte? Wusste Thoan, dass er meinen Bruder ermordet hatte? Und wenn ja, hatte vielleicht Thoan selber etwas mit dem Mord zu tun?

Dann ließ mir die Art und Weise, wie der Halbglyth von Nescan gesprochen hatte, einfach keine Ruhe. Im ersten Moment war ich überrascht gewesen, den Namen meines Bruders aus seinem Mund zu hören, doch im Nachhinein kam mir dieser Umstand gar nicht mehr so überraschend vor. Vielleicht hatte er ihn aus meinem Kopf, aus meinen Gedanken. Das war es nicht mehr, was mich so sehr beschäftigte. Es war mehr sein Tonfall, seine gesenkte Stimme und sein Blick. Er hatte etwas Bedauerndes gehabt und ich konnte einfach nicht sagen, wie das alles zusammenhing. Hatten sie sich etwa wirklich gekannt? Ich konnte nicht behaupten, jeden Bekannten von Nescan gekannt zu haben. Theoretisch wäre es also möglich. Und würde alles nur noch verwirrender machen.

Außerdem war da noch dieser Baum und Nescan, der so lebendig vor mir gestanden und mir seine Hand entgegengestreckt hatte. Ich konnte verstehen, warum Thoan nicht wollte, dass ich den Wald alleine betrat. Er hatte recht. Ich kannte diesen Ort nicht, wusste nicht, welche Gefahren dort lauerten und wusste offensichtlich auch nicht, dass man gewisse Bäume nicht berühren sollte. Und obwohl mir das jetzt klar war, bereute ich nicht, es trotzdem getan zu haben. Es war schön gewesen, Nescan zu sehen. Schöner als ich in Worte fassen könnte. Und ich musste zugeben, der Gedanke, erneut in den Wald zu gehen und wieder diesen Baum zu berühren, war verlockender als er wahrscheinlich sein sollte.

Und zu guter Letzt gab es da noch meine mysteriöse Heilung. Der Schmerz, den ich in meinem Oberschenkel gespürt hatte, war viel zu groß gewesen, als dass er von alleine – in einer solch kurzen Zeit – hätte verschwinden können. Genau so die Schürfwunden an meinen Armen, die ebenfalls durch den Aufprall auf dem Waldboden verursacht worden waren. Ich hatte ihnen zwar keine Aufmerksamkeit geschenkt, aber sie waren da gewesen, sie hatten gebrannt. Waren es die Kräfte des Waldes gewesen, die mich geheilt hatten? Hatte ich vielleicht weitere Kräfte, von denen ich nichts wusste? Letzteres fand ich jedoch unwahrscheinlich. Immerhin war es nicht das erste Mal gewesen, dass ich mich verletzt hatte und früher hatte ich auch immer wochenlang auf vollständige Heilung warten müssen. Also gab es eigentlich nur noch eine weitere mögliche Erklärung: Nescans Mörder war so freundlich gewesen, mich von den Schmerzen zu befreien. Dieser Gedanke war so absurd, so verdammt ätzend, dass ich für einen Moment doch tatsächlich darüber gelacht hatte. Aber nur für einen Moment. Denn gleich darauf war eine Träne meinem Augenwinkel entsprungen und hatte sich zielstrebig einen Weg über meine Wange gesucht.

Und da waren wir auch schon wieder bei meiner Geduld. Oder eher bei meiner nicht vorhandenen Geduld. Thoan hatte mir zwar versprochen, mir all meine Fragen zu gegebener Zeit zu beantworten, aber langsam ging mir das Warten einfach nur noch auf die Nerven. Hier ging es in vielen Dingen offensichtlich um mich, also hatte er nicht das Recht, mich mit lausigen Ausreden hinzuhalten. Ich hatte die Wahrheit verdient. Und da Thoan noch nicht wieder zurück war, um ihn mit meiner schlechten Laune zu konfrontieren, entschied ich, die Suche nach Antworten selber in die Hand zu nehmen.

Noch vor dem Frühstück begab ich mich in die Bibliothek im Untergeschoss. Das Licht war eher spärlich und die vielen Regale ließen den Raum unfassbar eng erscheinen, dabei war er gar nicht so klein. Nur eben etwas zu klein für so viele Bücher. Dieser Raum war meine beste Chance, mehr über mich, den Wald, die Glyth und andere Dinge herauszufinden. Bücher waren etwas so Wertvolles, sie waren das pure Wissen, sie waren Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart und alles dazwischen. Ich konnte mich noch gut an die zwei Kinderbücher erinnern, die mir Vater eines Tages mitgebracht hatte. Er hatte sie bei einem Mann aus Ciraglis gegen drei Säcke Ocilischer Goldbeeren getauscht. Ocilische Goldbeeren waren unheimlich süß und sehr viel wert. Er hatte ein halbes Vermögen für diese beiden Bücher hergegeben und das nur, um mir eine Freude zu machen. Seit diesem Tag waren sie mein wertvollster Besitz gewesen. Das war eines der wenigen Dinge aus meiner Kindheit, an die ich mich noch erinnern konnte. Ich war gerade acht Jahre alt geworden, als das Dorf überfallen und in Brand gesetzt worden war. An diesem Tag hatte ich nicht nur die Bücher verloren, sondern auch meine Eltern. Nescan und ich hatten es gerade noch geschafft zu entkommen. Um ehrlich zu sein, konnte ich mich nicht mehr an allzu viel erinnern. Nur die tiefsitzende Traurigkeit war immer noch da. Mit der Zeit hatte sie sich zwar ein wenig verflüchtigt, aber war dennoch nie gänzlich verschwunden. Ich hatte nie mit Nescan über diesen Überfall gesprochen, wusste gar nicht, wer das Dorf angegriffen und damit mein Leben verändert hatte. Erst seit meinem Gespräch mit Laykin fragte ich mich, ob es vielleicht abtrünnige Glyth gewesen waren. Vielleicht würde ich es nie erfahren. Und vielleicht wäre das ein Segen.

Ich trat zu einem der Regale und strich ehrfürchtig über die Buchrücken. Manche Titel verstand ich nicht, denn einige der Bücher waren noch in der alten Sprache der Glyth geschrieben, jedenfalls war es das, was ich vermutete. Früher hatten die Glyth als auch die Astóric, ein Volk mit besonderen physischen Fähigkeiten, ihre eigenen Länder gehabt. Beide Völker hatten ein überaus friedliches und gutes Verhältnis zu den Menschen in Ocilien gehegt. Es war Handel betrieben und Verständnis gezeigt worden und so gut wie nie hatten die Glyth oder die Astóric ihre besonderen Fähigkeiten ausgenutzt, um den Menschen zu schaden. Nur untereinander war es bei den beiden Völkern immer wieder zu Streitigkeiten gekommen. Vor etwa zweihundert Jahren war schließlich ein Krieg ausgebrochen, der verheerende Folgen für die Glyth gehabt hatte. Weder die Astóric noch die Glyth waren je ein großes Volk gewesen. Doch nach dem Krieg war die Anzahl der noch lebenden Glyth erschreckend geschrumpft. Die Astóric hatten gewonnen und hatten auch mehr Glück gehabt, was ihre Verluste betraf, wobei auch viele von ihnen den Tod gefunden hatten. Nach dem Krieg hatten sich die drei Völker zusammengeschlossen und lebten seitdem gemeinsam im heutigen Ocilien. Während die Glyth sich dem Gesetz des Ocilischen Volkes unterordneten, blieben die Astóric ein autonomes Volk.

Während ich mich langsam immer weiter vorarbeitete, fiel mir schließlich eines der Bücher besonders auf. Es war grau und sah schlicht aus und der Titel hatte mich neugierig gemacht: ,Worte einer verlorenen Seele'. Vielleicht nahm ich das Buch in die Hände und schlug es auf, weil ich mich gerade auch so fühlte. Wie eine verlorene Seele. Man konnte schließlich nie wissen, wo man auf den nächsten guten Ratschlag stoßen könnte.

Das erste, was die leicht vergilbten Seiten zierte, war eine Widmung.

Für dich, S. 

Weil meine Seele ohne dich verloren ist.

Es war nirgends der Name des Autors zu finden und das machte es noch viel spannender, die nächsten Seiten aufzuschlagen.

Du warst ein Flüstern,

ein hauchdünnes Wispern des Schicksals,

so leise, dass ich es kaum verstand.

Du nahmst mir den Atem mit all deiner Schönheit,

du nahmst mir das Denken,

sonst wär' ich gerannt.

Ich schaffte es nicht, das Gedicht weiterzulesen. Denn als plötzlich die kratzige, tiefe Stimme aus einer Ecke des Raums ertönte und mich zusammenzucken ließ, musste ich einen Aufschrei unterdrücken.

„Interessante Wahl. Was war es? Die verlockende, graue Farbe oder doch der Titel?"

Ich sah mich mit geweiteten Augen um, bis ich den Mann entdeckte, der es sich in einem der dunkelgrünen Sessel in der Nähe bequem gemacht hatte. War er schon die ganze Zeit hier gewesen? Ich brauchte kein zweites Mal hinzusehen, um sagen zu können, dass er ein Glyth war. Und da ich ihm noch nie zuvor begegnet war, vermutete ich, dass es sich um Jerasq handeln musste.

Ich räusperte mich, bevor ich antwortete. „Ich denke...beides."

Seine kieferlangen, dunkelbraunen Haare trug er offen und das dunkle Leinenhemd betonte seine breiten Schultern. Er betrachtete mich. Und irgendetwas an seinem Blick ließ mich frösteln. Ich fühlte mich, als könnte er alles sehen. Alles, was ich war und alles, was ich nie sein würde. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so klein gefühlt hatte. Und dabei stand ich, während er saß.

„Ich habe dich gar nicht bemerkt. Ich hoffe, ich habe nicht gestört", sagte ich schließlich, um mich von dem unangenehmen Gefühl zu befreien. Er legte den Kopf leicht schräg und ich glaubte, seinen Mundwinkel kurz zucken zu sehen. Vielleicht hatte ich es mir auch einfach nur eingebildet.

„Wolltest du hier etwas Bestimmtes finden? Oder war es Langeweile, die dich hergebracht hat?"

Ich schluckte. „Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft...-" Ich sah auf den Boden und wusste nicht, ob ich ihm wirklich die Wahrheit sagen oder lieber bei einer kleinen, unschuldigen Lüge bleiben sollte. „Ich hatte gehofft, ein paar Antworten zu finden", hielt ich es schließlich etwas Allgemeiner.

„Antworten, hm?" Er deutete auf das Buch in meinen Händen. „Kein schlechter Anfang. Gedichte enthalten oft viel mehr, als man auf den ersten Blick sehen kann."

Gedichte...er kannte das Buch also, hatte es vielleicht sogar schon mal gelesen.

„Kannst du es weiterempfehlen?", lächelte ich einseitig und wedelte mit dem Buch in der Luft herum.

Sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal weicher. „Ja. Es war das Lieblingsbuch einer Person, die mir viel bedeutet."

Ich runzelte die Stirn. „War? Hat sich was geändert?"

„Ja...so könnte man es sagen." Er richtete seinen Blick auf das Buch und für einen Moment sah er aus, als würde er mit den Gedanken abschweifen. Ich dachte, er würde noch etwas hinzufügen, doch stattdessen bildete sich eine schwere Stille, die er erst nach einigen, langen Sekunden unterbrach.

„Wie viel bedeutet dir Loyalität, Allyra?" Ich war überrascht, als er meinen Namen sagte. Natürlich war mir irgendwie klar, dass er wusste, dass ich hier wohnte und bestimmt hatte er auch schon mal mit einem der anderen über mich gesprochen – trotzdem hatte ich es nicht erwartet.

„Ich denke, Loyalität ist seltener als manche denken. Ich meine, wahre, echte Loyalität. Wenn man also das Privileg hat, eine solche genießen zu können, sollte man das zu schätzen wissen." Ich zuckte mit den Schultern.

„Weise Worte", entgegnete er mit nachdenklichem Ausdruck. Dann erhob er sich und erst da wurde mir bewusst, wie groß er eigentlich war. Er überragte mich um mindestens einen Kopf.

„Dann wirst du hoffentlich verstehen, warum ich es ihm sagen muss."

Verwirrt sah ich ihn an. „Was meinst du?" Mein Herz klopfte laut in meiner Brust, während mich ein ungutes Gefühl beschlich.

„Ich meine deinen Ausflug in den Wald." Er machte eine kurze, bedeutungsschwere Pause. „Und deine Begegnung mit dem Mischblut." Das waren seine letzten Worte, bevor er die Bibliothek verließ, ohne, dass ich etwas sagen oder tun konnte.

Erst da fiel mir auf, dass ich meine Barriere vollkommen vernachlässigt hatte, sie war das komplette Gespräch über nicht vorhanden gewesen. Und welche Fähigkeit auch immer Jerasq besaß, er hatte sie ungestört an mir anwenden können. Und nun würde er alles Thoan erzählen.

Wer weiß, vielleicht hätte ich ihm nachlaufen und ihn darum bitten müssen, es nicht zu tun. Doch seine Frage über Loyalität sagte mir bereits alles, was ich wissen musste. Egal, was ich tun oder was ich sagen würde, es würde nichts an seinem Entschluss ändern. Immerhin war er so fair gewesen, mir zu sagen, dass er mich verraten würde.

Das war der Moment, in dem ich endlich wieder aufzuwachen schien. Ich hatte mich so sehr an die Glyth gewöhnt, hatte einige von ihnen sogar wirklich gern. Doch jeder von ihnen hätte genauso gehandelt wie Jerasq es nun tun würde. Und das durfte ich nie wieder vergessen.

Wir waren keine Freunde.

Und dieser Ort war nicht mein Zuhause. 

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