10.2

Ich hätte schreien müssen. Um mein Leben flehen müssen. Ich hätte um mich schlagen, versuchen müssen, mich aus seinem Griff zu befreien. Stattdessen konnte ich aber einfach nur in diese Augen blicken und nichts tun. Es war, als würden sie mich gefangen halten, als würden sie mir jedes Fünkchen Kraft entziehen.

„Du erinnerst dich", ertönte seine tiefe, dunkle Stimme. Ich hatte ihn nie sprechen gehört, hatte ihn nur gesehen, wie er meinen Bruder erstochen hatte. Er hatte ihm das Messer in die Brust gerammt und ich war dagestanden und hatte nichts dagegen tun können, hatte es noch nicht einmal versucht. Diesem Mann nun auch eine Stimme zuordnen zu können, fühlte sich merkwürdig an. Es war fast so, als würde damit eines der fehlenden Teile, die sich im Endeffekt zu einem großen Ganzen zusammensetzen würden, ergänzt werden.

Was tat er hier? Hatte er mir aufgelauert? Wollte er zu Ende bringen, was er vor zehn Jahren nicht geschafft hatte?

Plötzlich ließ er mich los, erhob sich und trat einige Schritte von mir weg. Verwirrt und immer noch leicht benebelt setzte ich mich auf. Als ich ihn dann da, nur einige Meter entfernt, vor mir stehen sah, legte sich schließlich doch noch ein Schalter in mir um. Der Schalter, der anscheinend für rationales Verhalten zuständig war. Ich rückte, immer noch auf dem Boden sitzend, weiter von ihm weg, wollte mehr Abstand zwischen uns bringen. Der Schmerz in meinem Bein, der wohl durch den Aufprall auf dem Boden verursacht worden war, bestätigte mir, dass es keinen Sinn hatte, wegzulaufen. Wenn er mich einholen wollen würde, wenn er mir etwas antun wollte, dann würde er es innerhalb weniger Sekunden schaffen. Ich wäre nie im Leben schnell genug, um ihm zu entwischen. Seine Statur sprach dafür, dass er trainiert war, dass er keine Probleme haben würde, mich einzufangen und auch mir einen Dolch ins Herz zu stoßen. Da konnte ich genau so gut hierbleiben und versuchen, dem Ende so würdevoll wie nur möglich entgegen zu treten.

„Ich habe nicht vor, dich zu töten oder dich zu verletzen", sagte er auf einmal und diese verfluchte Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Das war die Stimme eines Mörders. Warum sagte er das überhaupt? Er hätte alles sagen können, doch nichts würde mich je dazu bringen, ihm zu trauen. Ich wusste, wozu er fähig war. Immerhin hatte ich es mit eigenen Augen gesehen. Warum also versuchte er, mich in Sicherheit zu wiegen?

„Weil es keinen Grund für dich gibt, Angst vor mir zu haben."

Ich schluckte. Von wegen keinen Grund. Er hatte mir das Wichtigste auf dieser Welt weggenommen. Er war der Grund für meine Einsamkeit. Für das Leid und die Schuld, die auf meinen Schultern lasteten.

Es gab also sehr wohl einen Grund, Angst vor ihm zu haben. Und doch war es nicht die Angst, die gerade die Oberhand in meinem Inneren übernahm.

Es war der tiefsitzende Hass, der nun in all seiner Grausamkeit aufblühte.

„Keine Sorge, ich habe auch nicht gerade damit gerechnet, dass du bei meinem Auftauchen in Freudentränen ausbrechen würdest."

Ich war drauf und dran zu einer Antwort anzusetzen. Doch dann hielt ich inne.

Ich hatte seit unserem Aufeinandertreffen noch kein einziges Wort von mir gegeben und doch beantwortete er mir meine Fragen und ging auf meine Gedanken ein.

Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn schockiert an, konnte die Überraschung, die mich überwältigte, nicht verbergen.

Er konnte meine Gedanken lesen. Und in diesem Moment zuckte doch tatsächlich einer seiner Mundwinkel nach oben. Sofort dachte ich an die Kiste, an das Bündel an Gedanken und Gefühlen, an die hinterste Ecke meines Bewusstseins.

„Dann haben sie dir ja anscheinend doch etwas Nützliches beigebracht", kommentierte er abschätzig meine mentale Barriere, die ich nun mit aller Macht aufrecht zu erhalten versuchte. In diesem Moment war ich dankbar dafür, dass ich gestern und heute noch so viel an ihr gearbeitet hatte.

„Raus aus meinem Kopf", fauchte ich. Er sah auf mich hinab und ich konnte seinen Gesichtsausdruck einfach nicht deuten. Konnte nicht sagen, was er dachte oder empfand. Doch als ich in diesem Moment förmlich spürte, wie meine Barriere eingerissen, wie sie Stück für Stück überbrückt und mein persönlichstes Eigentum gestohlen wurde, wusste ich es. Er wollte mich quälen, wollte mit mir spielen und ließ mir noch nicht einmal den winzigen Schutz, den ich mir aufgebaut hatte.

„Sie ist zu schwach. Du musst mehr daran arbeiten, jeder Glyth wäre in der Lage durchzudringen", sagte er mit feststellendem Unterton, den Kopf dabei leicht schräg legend. Und als er die Glyth erwähnte, wurde mir klar, dass auch er einer sein musste. Deswegen konnte er meine Gedanken lesen. Irgendwo, in der hintersten Ecke meines Gedächtnisses, erinnerte ich mich an Thoans Worte, als ich ihn auf dem Weg zu seinem Anwesen gefragt hatte, ob es Glyth gab, die Gedanken lesen konnten. Keine, mit denen du zu tun haben wirst.

Er hatte sich geirrt.

„Nicht ganz. Nur mein Vater war ein Glyth", klärte er mich erneut auf, ohne, dass ich meine Frage laut auszusprechen brauchte.

Ich betrachtete ihn. Sein schwarzes Haar, dessen Strähnen ihm teilweise in die Stirn fielen, seinen ausgeprägten Kiefer und die dunkelvioletten Augen, die ich bei einem anderen vielleicht als faszinierend empfunden hätte. Er hatte sich kaum verändert. Ja, er war älter geworden, das sah man, immerhin waren zehn Jahre vergangen, doch all die Dinge, die ihn für mich so einprägend machten, waren unverändert.

Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es wohl wäre, dem Mörder meines Bruders eines Tages gegenüber zu stehen. Ihm in die Augen blicken zu können. Hatte oft überlegt, was ich tun oder was ich sagen würde. Und nun, da diese Begegnung doch tatsächlich stattfand, wusste ich überhaupt nicht mit ihr umzugehen. All die Gedanken, all die Überlegungen waren umsonst gewesen. Ja, ich wollte ihm am liebsten das gleiche Schicksal bescheren wie Nescan, wollte meinen Bruder rächen, ich wollte ihm so vieles antun. Doch anstatt es zu tun oder es wenigstens zu versuchen, stellte sich mir eigentlich nur eine einzige Frage, die ich nach einiger Zeit der angespannten Stille nicht mehr zurückhalten konnte.

„Warum?", flüsterte ich und ich war mir nicht sicher, ob er mich hören konnte. Doch im Grunde war das sowieso egal, er wusste genau, was ich sagte, was ich dachte und was ich wollte.

„Du solltest nicht hier sein. Ich dachte, er würde mehr auf dich Acht geben. Hat dieser Idiot dir tatsächlich gestattet, in den Wald der Weisheit zu gehen? Alleine?" Fragend hob er eine Augenbraue und ich konnte den gereizten Unterton deutlich heraushören. Er wich meiner Frage aus, gezielt und ohne es zu verbergen.
„Du solltest zurückgehen."

„Nein", entgegnete ich mit fester Stimme, einer, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte in dieser Situation. Gleichzeitig sammelten sich Tränen in meinen Augen. Es war nicht so, dass ich nicht von ihm weg wollte oder nicht wusste, dass ich lieber die Gelegenheit ergreifen und verschwinden sollte. Ich blieb, weil ich das Gefühl hatte, dem Sinn, dem Grund hinter all dem Leid, endlich unfassbar nahe zu sein. Und ich hätte es mir nie verziehen, wäre ich einfach gegangen. Es hätte mich genauso beschäftigt wie die Sache mit Nescan. Damals war ich auch weggerannt. Dabei hätte ich gerade an diesem einen Tag bei ihm bleiben müssen. „Ich werde erst gehen, wenn du mir gesagt hast, warum. Warum hast du ihn getötet? Warum bist du hier? Warum weißt du, wo ich mich aufhalte? Und warum tötest du mich nicht?" Zum Ende hin brach meine Stimme. All die Gefühle, die sich jahrelang angestaut hatten, suchten sich nun einen Weg an die Oberfläche.

„Das sind eine Menge Fragen", entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er einige Schritte auf mich zu machte. „Entscheidend ist jedoch, ob du die Antworten wirklich hören möchtest? Manchmal ist Unwissenheit ein Geschenk, das man nicht so leichtfertig von sich weisen sollte."

„Ein Geschenk?", spottete ich. „Es ist eine Strafe. Eine quälende Strafe. Also sprich nicht davon, als wüsstest du, was ich seit dem Tag, an dem du meinen Bruder getötet hast, durchmachen muss!" Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihn in Stücke gerissen. Was glaubte er, sich herausnehmen zu können? Er war ein Mörder, ein elender Mörder.

Für einen Moment wandte er den Blick ab und hätte ich ihm das zutrauen können, hätte ich gedacht, er würde es nicht mehr ertragen mich anzusehen. Doch das war unmöglich, das war mir bewusst. 

„Du musst zurück. Und betritt nie wieder so leichtfertig diesen Wald." Als er sich umdrehte und es aussah, als würde er drauf und dran sein, zu gehen, wollte ich ihn bereits aufhalten. Er konnte nicht einfach verschwinden und mich so zurücklassen. Ich brauchte diese Antworten. Verdammt, diese stetige Ungewissheit nahm mir die Luft zum Atmen.

Doch überraschenderweise wandte er sich von allein nochmal an mich.

„Hör auf, dich selbst zu quälen. Wäre Nescan jetzt hier, würde er sagen, dass es nicht deine Schuld ist. Nichts, was passiert ist, ist deine Schuld." Er machte eine kurze Pause. „Also hör endlich auf, dich in Selbstmitleid zu ertränken."

Fassungslos sah ich ihm hinterher, wie er immer mehr von den Bäumen des Walds verschlungen wurde. Und dann war er weg.

Mein Herz pochte so laut, dass ich glaubte, es würde jeden Moment aus meiner Brust springen. Adrenalin strömte durch meine Adern.

Er hatte seinen Namen gesagt. Er wusste, wie er hieß. Und wie er von ihm gesprochen hatte. So, als hätte er ihn gekannt. So, als sei Nescan ein Bekannter gewesen, vielleicht sogar ein Freund. Er hatte von ihm gesprochen, als würde er genau einschätzen können, was Nescan gedacht oder getan hätte.

Ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Mir war schlecht. Anstatt meine Fragen beantwortet zu bekommen, waren nur noch mehr dazugekommen.

Ich wusste nicht, wie lange ich noch auf dem Waldboden saß und vor mich hin starrte. Irgendwann schüttelte ich den Kopf – ich musste mich zusammenreißen. Es wurde Zeit, dass ich zurückging. Vielleicht hatten die anderen schon längst gemerkt, dass ich nicht da war. Etwas wacklig erhob ich mich, blieb einige Sekunde stehen, warf einen letzten Blick auf den geheimnisvollen Baum und wandte mich dann zum Gehen.

Es brauchte bestimmt um die zwanzig Schritte, bis es mir auffiel.

Der Schmerz in meinem Bein war verschwunden. Die Schürfwunden an meinen Armen waren nicht mehr zu sehen. Es war, als wären die Verletzungen durch den Aufprall nie dagewesen.

Aus irgendeinem Grund sammelten sich bei dieser Feststellung erneut Tränen in meinen Augen. Hatte der Mörder mich geheilt? Oder waren mir unbekannt Kräfte des Walds dafür verantwortlich? Vielleicht hatte ich das ja auch von ganz alleine getan?

Völlig egal, was davon stimmte – keine Möglichkeit war gut. Denn entweder hatte der Mann, den ich auf dieser Welt am meisten hasste, mir gerade geholfen oder die Liste an Dingen, die ich nicht wusste und von denen mir, verflucht nochmal, keiner etwas erzählte, wurde länger.

Ich weinte, weinte aus ganzem Herzen. Und während ich versuchte, nicht wieder auf die Knie zu sinken, wurde mir etwas Entscheidendes klar.

Thoan hatte recht gehabt. 

Unheimlicher Schmerz, die Begegnung mit meinem toten Bruder, die viel zu schnell wieder vorbei war, das Auftauchen seines Mörders, tausende neue Fragen...

Ich hätte diesen Wald nie betreten sollen.

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