10.1

(A/N: Da das zehnte Kapitel etwas länger ist, werde ich es aufgeteilt posten!)


Ich wartete einen Tag ab. Schließlich war mir klar, dass Thoan alle, die im Anwesen blieben, beauftragt hatte, auf mich aufzupassen und mich möglichst nicht aus den Augen zu lassen. Ich war nicht so naiv zu denken, er würde sich nur auf mein Wort verlassen. Sie alle, Laykin, Kirani, Cadowyn und selbst Elyse und Oteris gaben sich wirklich Mühe, ihren Auftrag so unauffällig wie nur möglich auszuführen. Ändern tat es an der Tatsache, dass ich förmlich beschattet wurde, jedoch trotzdem nichts. Also hatte ich mich dazu entschieden, mir einen Tag lang Zeit zu nehmen, um sie in Sicherheit zu wiegen, ihnen zu zeigen, dass ich nicht vorhatte, ihnen Probleme zu bereiten. Stattdessen übte ich brav an meiner mentalen Barriere, tratschte ausgelassen mit Kirani und verlor haushoch im Armdrücken gegen Oteris. Und mit jeder Stunde, die verstrich, konnte ich sehen, wie sich ihre Mienen entspannten, wie sie ausgelassener wurden und anfingen, mir zu vertrauen. Ich wusste, dass ein einziger Tag keine Berge versetzen würde, was das betraf, doch mehr hatte ich leider nicht. Thoan würde nur drei Tage weg sein und ich durfte keine Zeit verschwenden. Vielleicht würde sich mir nie wieder eine solche Gelegenheit bieten.

Seit Thoan mir an meinem ersten Tag hier das Haus gezeigt und mich herumgeführt hatte, konnte ich einfach nicht aufhören, an den Wald hinter dem Anwesen zu denken. Thoan hatte mich von Anfang an vor ihm gewarnt, mir verboten, ihn zu betreten. Doch das stachelte meine Neugier, den Drang diesen sagenumwobenen Wald der Weisheit zu erkunden, nur noch mehr an. Zunächst hatte ich nicht verstanden, was mich daran so faszinierte, doch irgendwann wurde es mir dann klar. Die Vorstellung einen Sinn in meinem Leben, in alldem, was passiert war, was ich durchgemacht hatte, zu finden, war so unfassbar verlockend, dass ich selbst die mögliche Gefahr, die mich dort erwarten könnte, in Kauf nehmen würde. Ich war sicher: Das war es wert.

Es war bereits Tag Zwei, seit Thoan gegangen war. Elyse stand mit zufriedener Miene und in die Hüften gestemmten Händen im Esszimmer und ließ ihren Blick über jeden einzelnen von uns wandern. „Und? Es war köstlich, oder? Gerade zu grandios, nicht wahr?" Sie hatte ein neues Rezept ausprobiert und sich nicht vom Fleck gerührt, bis nicht jeder Teller leergegessen war. Und ja, sie hatte recht, es war wirklich grandios gewesen. Aber das war so gut wie jedes Gericht, das sie zauberte.

„Vielen Dank, Elyse. Es war wirklich sehr lecker", sagte ich und musste sofort über ihren stolzen Gesichtsausdruck schmunzeln.

„Ich bin sowas von überfressen", murmelte Cadowyn nahezu gequält, umfasste seinen Bauch und ließ sich mit dem Gesicht auf den Tisch sinken. „Du solltest aufhören, so gut zu kochen, Elyse. Ich werde fett..."

„Mmh, so ein Mittagsschläfchen wäre grad echt nicht übel", schaltete sich nun auch Kirani ein und gähnte ausgiebig. Und genau das war mein Stichwort, der Moment auf den ich schon den ganzen Tag gewartet hatte. Das war meine Gelegenheit.

Ich streckte mich und erzwang ebenfalls ein Gähnen. „Du sagst es. Wenn keiner von euch mich braucht, würde ich diesem Wunsch jetzt gerne nachgeben." Fragend schaute ich in die Runde und rieb mir die Augen, um dem Ganzen noch ein wenig mehr Authentizität zu verleihen.

„Geh ruhig, du musst dich ausruhen für unsere nächste Runde Armdrücken am Abend", grinste Oteris und machte eine wegwerfende Geste in Richtung der Tür, als Zeichen, dass ich mich ruhig auf mein Zimmer begeben konnte. Auch wenn der Glyth anfangs etwas Misstrauen mir gegenüber gezeigt hatte, mittlerweile merkte ich, dass auch er immer mehr auftaute. 

„Ich freue mich schon drauf. Dieses Mal lasse ich dich nicht so einfach gewinnen", versicherte ich ihm grinsend, stand auf und verließ den Raum. Doch kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, verflog jede vorgespielte Müdigkeit. Langsam, darauf bedacht, nichts und niemanden zu übersehen, sah ich mich in der Eingangshalle um, doch konnte glücklicherweise weder einen der anderen Angestellten ausmachen, noch sonst irgendjemanden. Ich hatte natürlich nicht vergessen, dass sich hier irgendwo noch ein Glyth aufhalten musste – Jerasq. Ich war ihm bisher noch nicht begegnet, anscheinend war er eher der zurückgezogene Typ. Und es war mir ganz Recht, wenn dieses Treffen auch nicht an diesem Tag stattfinden würde.

Ein letztes Mal sicherte ich mich ab. Und dann...dann schlich ich mich durch den Hinterausgang, der auf die Terrasse führte, nach draußen. Kurz zögerte ich, als ich den Wald erblickte, der nun direkt vor mir lag. War das wirklich eine gute Idee? Ich war ziemlich sicher gewesen, dass es eine war, doch nun, da ich es tatsächlich tat und gegen Thoans Regeln verstieß, beschlichen mich leise Zweifel. Vielleicht hatte er mich angelogen und er konnte sehr wohl spüren, ob ich mich entfernte? Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass er gelogen hätte. Und hatte er damals im Dacium nicht auch gesagt, er könne erahnen, wenn ich auch nur vorhatte, zu verschwinden? Vielleicht war das alles nur ein Test?

Ich seufzte.

In den letzten Jahren hatte ich selten etwas getan, das ich tun wollte. Immer ging es nur um andere. Nie um mich und meine Wünsche.

Verdammt, ich hatte es mir verdient. Einen Tag, ein paar Stunden, in denen ich nicht tun würde, was andere von mir verlangten. Und morgen würde sowieso alles wieder wie gewohnt zugehen. Ich würde mich an die Regeln halten und es würde sein, als wäre mein heimlicher Abstecher in den Wald nie passiert.

Mit diesem Gedanken lief ich los. Und bereits nach einigen Schritten in den Wald kam es mir vor, als hätte er mich vollkommen umschlungen. Ich konnte nicht anders als die völlig unterschiedlichen Bäume zu bewundern. Die einen hatten eine so unfassbar dunkle Rinde, dass sie schon nahezu schwarz erschien. Andere dagegen eine so weiß wie Thoans Haare. Es gab Bäume die ragten so weit nach oben, dass ich ihre Spitze nur erahnen konnte, auf andere hätte ich mit Leichtigkeit klettern können. Die Blätter hatten die verschiedensten Formen und ich glaubte jede einzelne Schattierung der Farbe Grün finden zu können. Es war atemberaubend.

Ich wusste nicht wie lange ich einfach nur geradeaus lief und meine Umgebung bewunderte. In diesem Moment machte ich mir auch keine Gedanken darüber, wie ich wieder zurückfinden würde, schließlich kannte ich mich kein bisschen aus. Doch das war mir zu diesem Zeitpunkt völlig egal. Viel zu sehr wurde meine Aufmerksamkeit von der Schönheit um mich herum eingenommen. 

Irgendwann erreichte ich schließlich eine Art Lichtung und blieb stehen. Mein Atem stockte für einen kurzen Moment, als ich den wunderschönen, riesigen Baum entdeckte, der als einziger mitten auf der sonst baumfreien Fläche stand. Er sah, ja, mächtig aus. Im Gegensatz zu allen anderen Bäumen, die ich bisher gesehen hatte, konnte ich in seinen Blättern ein leichtes Blau schimmern sehen. Zu schade, dass ich einen bewölkten Tag erwischt hatte. Gerne hätte ich diese Schönheit im Schein der Sonne bewundert.

Langsam ging ich auf den Baum zu und lächelte, als ich endlich direkt vor ihm stand. Von Nahem erschien er noch viel größer, sein Stamm viel gewaltiger. Seine dunkle Rinde war glatt, es war nicht eine Delle, Einkerbung oder Ähnliches zu finden. Es war fast schon magisch. Und irgendetwas an ihm zog mich an. Lockte mich, meine Hand auf die Rinde zu legen, darüber zu streichen.

Und ich tat es, ohne auch nur zu zögern. 

Zuerst passierte gar nichts. Ich spürte einfach nur die Wärme, die er ausstrahlte auf meiner Handfläche und genoss das angenehme Gefühl. Doch als ich meine Hand schließlich wieder zurückziehen wollte, konnte ich nicht. Es ging nicht. Ich dachte ich würde verrückt werden, als ich meine Hand einfach nicht von dem Baum nehmen konnte. Und bevor sich die Panik endgültig in mir ausbreiten konnte, schrie ich auf. Ein stechender Schmerz durchlief meinen Körper und ließ mich den Kopf zurückwerfen. Mein Herz pochte in einem unregelmäßigen Rhythmus, ich konnte förmlich spüren, wie es das Blut durch meinen Körper pumpte. Bei Recáh, ich konnte es hören.

Ich schaffte es nicht, erneut zu schreien. Stattdessen wurde es dunkel. So unglaublich dunkel. Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden, doch nein, ich war ganz sicher bei Bewusstsein. Tausende Gedanken, von denen kein einziger klar war, durchströmten meinen Kopf. Was war nur los? Was passierte da mit mir? 

Dann, ganz plötzlich, wurde es totenstill. Jeder einzelne der lauten Gedanken verstummte.

Denn auf einmal stand er vor mir. Ich konnte ihn deutlich sehen. Sein Lächeln, die kleinen Grübchen, die sich immer bildeten. Sein zerzaustes Haar. Er streckte mir eine Hand entgegen, bot sie mir an.

Nescan.

Ein friedliches Gefühl durchströmte mich. Es war schön. So schön.

In diesem Moment fühlte es sich an, als hätte er mich nie verlassen. Als hätte ich ihn nie verlassen. Er stand nicht weit weg von mir, trug die Sachen, die er zuletzt angehabt hatte. Ich hatte ihn so lange nicht mehr gesehen. Und neben dem schönen Gefühl, das ich verspürte, bildete sich eine tiefe Traurigkeit. Ich hatte sein Gesicht schon lange nicht mehr so deutlich in Erinnerung gehabt. Und nun war er da. Bei mir. Mit dem liebevollsten Ausdruck, den ich je gesehen hatte, nickte er mir zu. Wollte er, dass ich mit ihm ging? Wohin? Wollte er -

Den letzten Gedanken konnte ich nicht mehr zu Ende führen. Denn das nächste, was ich realisierte, war, dass ich schmerzhaft auf den Waldboden geschleudert wurde. Alle Luft wurde aus meinen Lungen gepresst. Meine Sicht war verschwommen und ich wusste nicht, wo oben und unten war. Ich wusste nicht, was vor sich ging. Und...wo war Nescan?

Ich hustete und tastete um mich herum, nur um nach einigen Sekunden schließlich zu realisieren, dass da jemand über mir war. Jemand hatte mich von dem Baum weggerissen. Ich musste mehrere Male blinzeln und mein Husten zurückhalten, um mich auf die Person über mir konzentrieren zu können. Erst konnte ich nur Schemen erkennen. Dunkle Haare, markante Gesichtszüge...war das Oteris? Ich schüttelte leicht den Kopf, als meine Sicht langsam klarer wurde.

Und dann sah ich sie. Augen - dunkelviolette Augen. Sie sahen mich direkt an, waren so nah, dass ich selbst die schwarzen Sprenkel in der Iris erkennen konnte.

Ich kannte sie, hätte sie nie vergessen können.

Denn diese Augen hatten mein Leben zerstört. 

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