| 4 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬
Träge schleppte ich mich aus dem Bus heraus und steuerte auf den Schulparkplatz zu. Ich spürte den Schlafmangel und die Anstrengung der nächtlichen Fahrt noch tief in den Knochen und generell nahm ich meine Umgebung nur halb wahr.
Aber ich bereute nichts. Die Fahrt war es definitiv wert gewesen.
Denn sie hatte mir etwas anderes gegeben. Etwas, das viel wichtiger war. Hoffnung, Freude und ein bisschen Aufregung. Die Sehnsucht nach dem Motorradfahren war ungeheuer groß und ich hatte nicht vor sie wieder zu unterdrücken. Nein, ich war regelrecht süchtig danach. Und ich würde dem Verlangen nicht widerstehen. Das wollte ich nicht länger.
Jedoch sehnte sich mein Herz auch nach etwas anderem. Nach Gemeinschaft.
Ich wollte Freunde, mit denen ich dieses Gefühl teilen konnte. Ich wollte Zugehörigkeit und Annahme. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie ich dies bekommen könnte. Jedoch würde das nicht einfach werden.
Seufzend ließ ich meinen Blick über den Parkplatz und die etlichen Schüler schweifen. Ruby würde wieder von ihrem Bruder gebracht werden und das war meine Chance. Meine Anlaufstelle. Ryans Kumpel mit der Ducati hatte ich letzte Nacht geschlagen. Zwar nur in einem furchtbar kleinen, inoffiziellen Rennen, aber das Gefühl wollte ich unbedingt wieder haben. Wir kannten uns nicht und dennoch hatte er mir vergangene Nacht das Gefühl der Einsamkeit genommen, völlig unbewusst.
Das Motorradfahren verband uns. Und wenn wir keine Freunde werden konnten, dann wenigsten Rivalen.
Langsam betrat ich den Parkplatz, wartete auf das vertraute Geräusch der Motoren und hoffte einfach, dass Ryan mein Weg in ihre Freundesgruppe war. Auch, wenn ich mich dafür mit dem Arschloch von gestern arrangieren musste.
Eine knappe Minute später wurde mein Warten belohnt und mehrere Supersportler fuhren auf den Parkplatz, hielten wenige Meter neben mir in den einzigen freien, nebeneinanderliegenden Parklücken. Nur dieses Mal waren sie zu dritt. Ryan, der Mann mit der Ducati und jemand mir völliges Unbekanntes mit einer hellblauen 1000er GSX Suzuki. Ihre Verkleidung zierten äußerst dünne, silberne Rosen, die mit Stacheln übersäht waren, und am Tank prangte derselbe verschnörkelte Aufkleber, den Ryan und der Ducati-Typ hatten.
War das so ein Gruppending von denen?
Der Fahrer hingegen hatte einen weißen Helm und trug nur ein... Shirt? Beim Motorradfahren?
Ruby schwang sich von der Maschine ihres Bruders herunter und zog sich den schwarzen Helm vom Kopf, ehe sie sich durch ihre roten Locken fuhr, die gefühlt überall waren. Auch Ryan zog sich den Helm herunter, die anderen jedoch warteten auf die Weiterfahrt, machten lediglich ihre Motoren aus.
Und ich? Ich lief einfach mal zu ihnen hin.
Mit jedem Schritt fühlte ich mich jedoch unwohler, vor allem, weil nun die Blicke von Ryans Begleitern auf mir ruhten, die mich durch ihre Visiere hindurch anstarrten, während Ruby sich die Haare richtete und den Helm an ihren Bruder übergab.
„Hey, Miles!" rief sie fröhlich als sie mich entdeckte und kam mir entgegen. Für einen Moment haderte ich mit mir wie ich sie vor den Augen ihres Bruders begrüßen sollte, außerdem kannten wir uns erst seit gestern, aber sie umarmte mich einfach. Völlig entspannte drückte sie sich kurz an mich, ehe sie sich wieder von mir löste und mit dem Kopf zum Gebäude nickte. „Wollen wir?", fragte sie als wollte sie schnellst möglich vom Parkplatz weg.
Etwas überrumpelt nickte ich, gab meine Hoffnung auf ein kurzes, erstes Gespräch mit den Fahrern auf und wollte ihr schon folgen, als wir zurückgerufen wurden.
„Hey, wartet mal kurz!"
Ich wusste irgendwie sofort, dass es Ryan war. Diese durchdringende Stimme, die einen dezent aggressiven Touch hatte, konnte nur von einem besorgten Bruder kommen. Der junge Mann hatte sich bis eben noch mit seinen Kumpels unterhalten, war mittlerweile aber abgestiegen und kam auf uns zu.
Optisch hatte er bis auf die Augenfarbe nichts mit Ruby gemeinsam. Seine dunkelbraunen Haare waren frei von Locken und er hatte nicht eine einzige Sommersprosse.
Ruby hingegen seufzte nur laut aus und ließ für einen Moment den Kopf hängen. Vermutlich wusste sie bereits, dass ihr Bruder uns nicht einfach gehenlassen würde, und wollte sich und mir dieses Gespräch ersparen.
Doch auch, wenn ich nicht wusste, was er wollte, kam es mir ganz recht.
„Ryan-", wollte Ruby anfangen, wurde jedoch sofort von ihrem Bruder unterbrochen. „Wolltest du uns einander nicht vorstellen?", fragte er und verzog dabei die Mundwinkel zu einem aufgesetzten Lächeln. „Ich habe schließlich schon viel von dir gehört, Miles", grinste er mit einem Seitenblick zu seiner Schwester, die beschämt den Kopf wegdrehte und in seiner Gegenwart plötzlich äußerst schüchtern wirkte.
„Dann kennst du mich ja scheinbar schon." Ich versuchte mich an einem Lächeln. „So in etwa. Ich bin Ryan, aber das weißt du save auch schon." Er legte für einen Moment den Kopf zur Seite, musterte mich. Und dieser Blick ging mir durch und durch. Das hier war keine Freundschaftsanfrage. Er wollte mich abchecken.
Und bevor das Ganze hier noch unangenehmer wurde, wollte ich lieber schnell das Eis brechen.
„Schönes Motorrad übrigens."
Überrascht zog er die Augenbrauen hoch und unweigerlich erhellte sich sein Blick, ehe er selbst nach hinten zu seiner grünen Ninja sah. Oh ja, richtiges Thema.
„Danke!" Dieses Mal war sein Lächeln echt. „Ist zwar schon zwei Jahre alt, aber sie ist schöner als die neuen Modelle, wenn du mich fragst." Das verschmitzte Grinsen hatte beinahe etwas Vertrautes. „Interessierst dich wohl dafür?" „Yeah, bin auch eine Weile gefahren." „Stark", kommentierte er nur. „Und was?" „Yamaha."
Aus irgendeinem Grund wollte ich jedoch nicht mehr ins Detail gehen. Mein Rivale von letzter Nacht war in potenzieller Hörweite und ich genoß das Gefühl als einziger zu wissen, wer der jeweils andere war. Er hatte letztlich keine Ahnung, dass ich es war.
Ryan nickte nur. „Cool." Dann wanderte sein Blick zu Ruby. „Hey Schwesterherz, lässt du mich und Miles noch kurz allein, das Motorradzeug interessiert dich doch sonst nicht und du willst doch auch nicht zu spät kommen, oder?"
„Ryan, bitte lass-", setzte sie wieder an, doch ein weiterer Blick des Braunhaarigen ließ sie verstummen. Entschuldigend verzog sie das Gesicht, ehe sie zum Schulgebäude lief und uns allein ließ. Und sämtliche Wärme und entspannte Atmosphäre nahm sie gleich mit sich.
Denn kaum war sie weg, wurde Ryans Miene eisern und sein Blick lauernd.
„Versteh mich nicht falsch, Miles", seine Stimme hatte einen seltsamen Ton, während er einen Arm um meine Schultern legte und mich somit etwas nach unten drückte, wahrscheinlich voller Absicht. „Du bist vielleicht echt ein cooler Typ, aber Ruby ist meine kleine Schwester und sie hat gestern regelrecht von dir geschwärmt. Und heute holst du sie direkt am Parkplatz ab... Das geht irgendwie bissel schnell. Ich glaub du weißt, worauf ich hinaus will."
Sein grüner Blick fand den meinen. „Ich habe kein Problem damit, wenn sie dir bei den Schulsachen hilft. Nur... überleg dir besser genau wie du mit ihr umgehst und was du willst. Denn eins sag ich dir, tust du ihr weh, dann muss ich dir weh tun. Und das lässt sich vermeiden." Sein aufgesetztes Lächeln war wieder da. „Soweit verstanden?"
Ich nickte. „Klar." Mehr konnte ich nicht wirklich sagen.
„Na dann." Zufrieden richtete er sich wieder auf, ließ mich los, klopfte mir fast entschuldigend auf die Schulter und schlurfte zurück zu seiner Maschine. „Viel Spaß in der Schule!"
Völlig perplex beobachtete ich nur wie er seine Freunde in ihrem Gespräch unterbrach und sie anschließend den Parkplatz wieder verließen. Der Typ auf der Suzuki musste dabei natürlich noch mit einem Wheelie angeben, der die restlichen Schüler, die noch draußen waren, kurzzeitig zum Jubeln brachte.
Was war das denn gerade? Hatte er mir allen Ernstes gedroht? Klar, er wollte seine kleine Schwester beschützen, aber musste er gleich so übertreiben?
Kopfschüttelnd richtete ich meinen Rucksack und versuchte mich zu entspannen. Zwar wusste ich zum Glück wohin ich musste und mein Ziel ein Gespräch aufzubauen hatte ich auch erreicht, aber irgendwie hatte all das einen negativen Beigeschmack. Und dann waren da noch diese Aufkleber. Zumindest ein Teil davon war bei allen dreien gleich gewesen, wenn auch anders gefärbt.
Urplötzlich kam mir der Gedanke an ein Gangzeichen.
Doch den verwarf ich schnell wieder. Das war sicher nur eine Berufskrankheit meines Onkels mit der ich mich angesteckt hatte. Er würde sowas auch immer direkt vermuten. Schließlich war es kein Geheimnis, dass die Polizei in letzter Zeit verstärkt mit Gangkriminalität und auch Straßenrennen zu tun hatte.
Was es auch war, ich würde es schon noch herausfinden.
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