| 23 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

Mein Herzschlag wurde ungewollt schneller, mein Umfeld um mich herum entfernte sich und alle Geräusche wurden leiser. Ich nahm die Realität kaum noch war und mein Brustkorb zog sich zusammen, was mir Angst machte. Dazu erinnerte mich das silberne Messer viel zu sehr, an die Nacht, die ich eigentlich vergessen wollte.

Das Sirenengeräusch kam immer näher und ich sah in das blutige Gesicht meines Vaters, welches komisch nach hinten verdreht war. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund zu einem geraden Strich verzogen, aber er regte sich nicht mehr. Meine Mutter konnte ich nicht sehen, der Sitz war im Weg. Der Mercedes hatte sich durch den Überschlag deutlich verbogen und ich wurde halb erdrückt.

Das Atmen fiel mir schwer und ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, die aber durch den Schreck und durchs Adrenalin gedämpft wurden. Ich spürte Nässe an meinem Rücken und der Blutgestank drang in meine Nase, gemischt mit dem von Benzin. Das helle Leder des Autos war mit roten Flecken versäht und kleinen Glasscherben, da die Fenster zersprungen waren.

Meine Augenlider wurden langsam schwer und ich wollte nicht länger gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfen. Der Mond schien durch das kaputte Fenster und blendete mich, weswegen ich die Augen zusammenkniff. Wann waren die Rettungskräfte da? Und wer hatte sie überhaupt gerufen?

Plötzlich war alles weg. Ruckartig wurde ich zurück in die Wirklichkeit geschmissen und sah wieder auf das Blatt und das Messer in meiner Hand.

Bis heute wusste ich nicht, wer den Rettungswagen gerufen hatte, es war niemand anderes da. Doch er kam zu spät. Meine Eltern waren schon tot. Ich hingegen war nur schwer verletzt. Übrig von dem Unfall war nur eine Narbe am Rücken, die von einem Tattoo überdeckt wurde und meine bescheuerten Panikattacken, die durch verschiedene Dinge ausgelöst werden konnten.

„Miles? Ist alles in Ordnung?", fragte mich Jackson und schnell drehte ich meinen Kopf zu ihm.

Ich nickte. „Alles gut."

„Sicher?" Seine Stimme klang misstrauisch und sein leicht besorgter Blick bohrte sich in mich. Kurz keimte Wut in mir auf. Ich wollte nicht so schwach und angreifbar wirken. Das war ein ätzendes Gefühl. Ohne ihm zu antworten, nahm ich das Messer und zog es schnell und flach über meine Handinnenfläche. Der Schnitt wurde sofort rot und als das Blut an meinen Fingern hinablief, drückte ich meinen Daumen auf die untere Ecke. Ein Beweis für meine Mitgliedschaft und Treue.

Der rote Abdruck gab mir ein bestätigendes Gefühl und ich atmete einmal tief durch. Das Blut, welches noch immer von meiner Hand tropfte, befleckte den Tisch und ich trat einen Schritt zurück. Das Messer legte ich daneben.

Auf einmal griff Jackson nach meiner blutenden Hand, ohne die Wunde zu berühren und hielt sie hoch. Die Menge fing an zu jubeln und einige hielten ihre Becher hoch. Dann wurde ich in eine Umarmung von Jackson gezogen.

„Willkommen, bei der Hydra, Miles", meinte er, nachdem er mich wieder von sich gedrückt hatte. „Du bist jetzt ein Teil von uns. Und so, wie du uns die Treue erweist, so erweisen wir dir auch die Treue."

Sogar Nero klopfte mir flüchtig auf die Schulter und verzog die Mundwinkel zu einem verschmitzten Grinsen. Das Gefühl, allein zu sein, war von da an weg. Ich hatte eine neue Familie, nur im anderen Sinne.

Nero überreichte mir ein weißes Tuch, welches ich um meine Hand wickelte. Sie schmerzte etwas, doch es war kein Vergleich mit der Freude, die ich empfand. Ich bekam nur am Rande mit, wie Jackson seine Rede beendete. Dann ging ich hinter Nero und Jackson runter zu den anderen. Die meisten hatten sich wieder ihren Gesprächen, dem Alkohol und dem Essen gewidmet. Trotzdem kamen einige auf mich zu und stellten sich mir auch direkt vor. Ich zählte schon gar nicht mehr mit.

Irgendwann setzte ich mich erschöpft auf eine der Bänke, die draußen standen und stieß erleichtert die Luft aus. Mein Blick ging hoch in den Himmel. Die Sonne war schon untergegangen und es wurde dunkel. Zudem hatte die Musik wieder angefangen.

„Du hast es echt durchgezogen", ertönte Ryans Stimme neben mir.

Überrascht drehte ich meinen Kopf zur Seite und erblickte den Grünäugigen neben mir auf der Bank. „Ja, hast du denn gezweifelt?"

„Um ehrlich zu sein, schon etwas", gab er zu und lachte kurz. „Wäre aber nicht das erste Mal, dass ich mich in einem Menschen getäuscht hab..." Er ließ den Rest unbeendet. Doch dann wurde sein Blick ernster und eindringlich musterte er mich. „Was wird jetzt aber aus Ruby?"

„Was soll mir ihr sein?"

Ryan verdrehte die Augen. „Du weißt, was ich meine. Ich dachte du hättest Interesse an ihr?"

„Hab ich auch", erklärte ich und sah wieder gerade aus, da ich seinem Blick nicht standhielt.

Mein Nebenmann verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich an den Tisch. „Du bist jetzt aber ein Mitglied, Miles. Ruby fängt nichts mit einem Mitglied der Hydra oder einer anderen Gang an. Das wird sich so schnell auch nicht ändern."

„Es gibt für alles ein erstes Mal", entgegnete ich deutlich selbstbewusster als ich mich fühlte. Es würde sicherlich nicht leicht werden, aber in der Hydra war ich nun, da hatte ich jetzt Zeit für Ruby.

„Ja, aber jeder Mensch hat Prioritäten." Seine grünen Augen stachen in meine Braunen. „Was sind deine?" Gute Frage. Ich wusste es selbst nicht so genau. Ryan deutete mein Schweigen richtig, denn er fuhr fort. „Wenn du deine Prioritäten kennst, dann kannst du Ruby vielleicht verstehen. Aber solange, du dich noch nicht einmal selber kennst, wirst du ihre Entscheidung nie nachvollziehen können."

Verwirrt sah ich ihn an. „Ich versteh nicht ganz."

„Dachte ich mir schon." Ihm entwich ein leises Lachen. „Weißt du, Ruby wird mich vermutlich umbringen, wenn ich dir das jetzt erzähle, aber ich finde, es wäre besser, wenn du es weißt." Noch immer klang seine Stimme belustigt, aber der Ernst seiner Worte war spürbar. „Ruby ist was Typen angeht sehr misstrauisch. Immerhin hat sie eine gescheiterte Beziehung mit Jackson hinter sich. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weswegen sie nichts mit der Hydra zu tun haben will."

„Jackson und Ruby?!", rief ich ungläubig aus. Ryan zuckte bei meiner schrillen Stimme leicht zusammen und nickte kaum merklich. „Wie ging das denn?"

Er schüttelte leicht den Kopf. „Das muss sie dir selber sagen. Es hat mich nur gewundert, dass sie wieder jemanden an sich heranlässt. Sie scheint dir zu vertrauen. Und eins kann ich dir sagen, wenn du sie verletzen solltest, dann bist du dran. Ich kann dir das Leben hier zur Hölle machen." Geschlagen seufzte er. „Andererseits braucht sie jemanden, der für sie da ist und der sich glücklich macht. Und solltest du dieser jemand sein, dann hast du auf jeden Fall meine Unterstützung."

„Danke, nur, du bist doch ihr Bruder, solltest du da nicht für sie da sein?", wagte ich vorsichtig zu fragen.

Sein Blick und Ausdruck wurden weicher und ich konnte einen glasigen Schimmer in seinen Augen erkennen. „Nein, sie ist eher für mich da. Unsere Beziehung zueinander ist mehr als kompliziert. Und ich allein, hab Schuld daran." Er schluckte und sah schließlich zu mir. „Sollte das also etwas Ernstes mit euch werden, kümmere dich gut um sie."

„Das werd ich", versicherte ich ihm. „Aber daraus wird wohl nichts mehr. Du hast selbst gesagt, sie fängt nichts mit einem Gangmitglied an." Ich seufzte schwer.

„Wie du schon sagtest, es gibt für alles ein erstes Mal", entgegnete er nur und lachte leicht.

Ich wollte gerade etwas sagen, als ein sturzbesoffener Matt zu uns kam. „Hey Bros, was macht ihr denn hier?"

„Nichts", kam Ryan mir zuvor.

Matts Blick wechselte von Ryan zu mir und wieder zurück, dabei war er mehr als nur verwirrt. „Naja, ist ja auch egal. Wollt ihr auch was?", wollte er wissen und hielt uns seinen Becher hin. Seine Fahne roch ich wahrscheinlich noch aus Kilometern und angewidert rümpfte ich die Nase.

„Nein danke, ich trink keinen Alkohol", gab ich sofort preis und hob abwertend die Hände. Ryans komischen Blick ignorierte ich. Außerdem musste ich ja noch irgendwie nach Hause kommen. Und seit dem Unfall hatte ich einfach eine starke Abneigung gegen Unaufmerksamkeit im Straßenverkehr.

„Na schön. Du?", fragte Matt nun an Ryan gewandt und sah ihn mit seinen Bernsteinaugen fröhlich an.

Doch sein Freund schüttelte mit dem Kopf. „Nein Bro, irgendeiner muss dich ja noch nach Hause fahren. Und du solltest besser auch aufhören. Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist", antwortete Ryan mahnend und Matt gab mit einem frustrierten Stöhnen nach. So stand Ryan auf und unser Gespräch war damit beendet. Er nahm Matt wieder mit in die Halle, vermutlich um ihn nach Hause zu fahren und das, obwohl die Nacht noch nicht einmal richtig angefangen hatte.

Schulterzuckend stand ich ebenfalls auf und machte mich auf die Suche nach Jackson oder irgendjemand anderen den ich kannte. Mein Blick glitt durch die Menge. Ryan und Matt waren nicht die Einzigen, die schon gegangen waren. Matts Enduro stand noch da, also hatte Ryan ihn mitgenommen.

Dann fand ich endlich den weißen Haarschopf von Nero. Ihn konnte man einfach nicht übersehen. Mit den gefärbten Haaren fiel er auf, wie eine Ballerina im Scheinwerferlicht. Zwar mochte er mich nicht besonders und ich ihn auch nicht, aber er war momentan mein einziger Anhaltspunkt. Also ging ich möglichst selbstsicher zu ihm. Doch kurz bevor ich bei ihm war, lief er auf einmal los und verließ die Halle, dabei sah er sich immer wieder nervös um.

Trotz meiner inneren Stimme, die dagegensprach, folgte ich ihm. Er kam hinter der Halle zum Stehen und zückte auch gleich sein Handy. Anschließend diskutierte er wild und sah ziemlich gereizt aus, nur konnte ich nichts verstehen.

„Miles, hier bist du!" Zwei Hände legten sich auf meine Schultern und ich zuckte stark zusammen.

Sofort drehte ich mich um und sah in Jacksons graugrüne Augen. „Jackson, äh ja..." Ich presste die Lippen aufeinander und spannte mich an.

„Was machst du eigentlich hier?", verlangte er zu wissen und sah sich um. Doch Nero war schon weg.

„Ich hab ein wenig frische Luft gebraucht", log ich und Jackson gab sich damit zu frieden. „Und was machst du hier?", stellte ich als Gegenfrage, um von mir abzulenken.

Grinsend legte er einen Arm um meine Schultern und lenkte mich wieder in Richtung Halle. „Ich hab dich gesucht und ich wollte eine rauchen", sagte er ohne zu zögern.

Er hatte mit Sicherheit bemerkt, dass ich mich komisch verhielt, aber er ignorierte es. Stattdessen zündete er sich eins dieser stinkenden, luftverpestenden Dinger an und steckte es sich in den Mund. Ich konnte dabei nur angeekelt zusehen und versuchte mein Husten zu unterdrücken.

„Du wirst schon bald eine Gelegenheit bekommen dich zu beweisen", meinte er plötzlich euphorisch. Fragend sah ich zu ihm. „Wir werden uns an den Serpens rächen, indem wir einen der besten Drogenkunden für uns gewinnen. Das wird ein großer finanzieller Schaden für sie und ein großer Gewinn für uns."

„Zwei Fliegen mit einer Klappe", murmelte ich und wandte den Kopf wegen des Rauchs ab.

Er lachte kurz auf. „Ja, und hier kommst du ins Spiel." Ich zog die Augenbrauen hoch und wartete darauf, dass er sich genauer erklärte. „Du wohnst im Gebiet der Serpens und sie kennen dich noch nicht als Mitglied der Hydra. Du wirst dich als Kunde ausgeben und in Erfahrung bringen, wann die nächste Lieferung ist und an wen sie geht." Er machte eine kurze Pause. „Den Rest erledigen wir und den Plan werde ich noch für alle bekannt geben. Am Samstag ist dann Showtime. Wenn du das hinkriegst, bekommst du auch den hier", meinte er und hielt mir den schwarzen Hydra Aufkleber unter die Nase.

Meine Augen wurden groß und zufrieden nickte ich „Geht klar."

„Alec wird dich morgen 10:30 Uhr wieder abholen, dann besprechen wir den Rest." Er klang zufrieden und den Aufkleber steckte er wieder ein.

Plötzlich kam mir ein wichtiger Gedanke. „Was ist mit Schule?"

„Was soll damit sein? Du gehörst jetzt einer Gang an, Miles. Schule ist von jetzt an zweitrangig. Merk dir das", entgegnete er mit einer gewissen Strenge und ergeben nickte ich. „Es wäre besser, wenn du jetzt nach Hause gehst, es ist schon nach 2 Uhr und Alec ist auch schon weg." Geschockt riss ich die Augen auf und wollte gerade los, da hielt Jackson mich am Arm fest. „Ich begleite dich, schließlich muss ich dir noch etwas zeigen."

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