| 2 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬
Ich hatte schon gewusst, warum ich lieber abbrechen wollte. Die schrille Stimme unserer Lehrerin hallte unangenehm im Zimmer wider und spätestens nach einer halben Stunde gab ich den Versuch ihren Erklärungen über Analysis zu folgen auf. Das war einfach nichts für mich.
Besonders nervig waren aber all die Blicke.
Mein Onkel hatte die Schule bereits über mich informiert, woraufhin die Lehrer angewiesen wurden, mich in Ruhe zu lassen und gleichzeitig im Auge zu behalten. Auch hinterfragte niemand, warum mitten im Jahr jemand Neues dabei war. Ich war einfach nur ein Typ, der das letzte Schuljahr wiederholen musste, weil etwas Tragisches dazwischen gekommen war. Damit hatte ich das Mitleid aller sicher. Danke, Owen!
Erschöpft hatte ich meinen Kopf seitlich auf dem Tisch abgelegt und beobachtete meine fleißige Tischnachbarin.
Letztlich hatten sich meine Vermutungen über Ruby bestätigt. Sie war schlau. Beziehungsweise eine gute Schülerin. Konzentriert folgte sie dem Unterricht, strich sich dabei immer wieder Locken hinter die Ohren, die scheinbar nicht zu bändigen waren, und schrieb so schnell mit, dass sie die Lehrerin mittlerweile eingeholt haben müsste. Fakt war, sie gab sich Mühe und war diszipliniert.
Und vielleicht konnte ich genau das zu meinem Vorteil nutzen.
Schließlich hatte mein Onkel hohe Erwartungen und die Schule hatte ich schon damals in New York halb aufgegeben. Mit ihrer Hilfe könnte es aber vielleicht doch noch werden. Dann würde mein Onkel sich zufriedengeben und endlich mein Motorrad in Ruhe lassen.
„Willst du gar nicht mitschreiben?", kam es irgendwann flüsternd von Ruby.
Träge richtete ich mich wieder auf. „Nicht wirklich. Ich versteh hier eh nur die Hälfte." Ich konnte die Idee in ihren grünen Augen schon aufblitzen sehen, bevor sie überhaupt den Mund aufmachte. „Ich könnte dir doch helfen!", schlug sie vor und duckte sich sofort leicht, da ihre Lautstärke nicht wirklich angemessen war.
Grinsend legte ich den Kopf schief und stützte ihn auf meiner Hand ab. „Und wenn du an mir verzweifelst?"
„Das wird schon nicht passieren", hielt sie dagegen und hielt mir die Hand hin, „Ich werde dich soweit unterstützen wie ich kann und du gibst dir einfach nur Mühe, deal?"
Nur schwer konnte ich das aufkommende Schmunzeln zurückhalten. „Und was hast du dann davon?" Für einen Moment perplex blinzelte sie mich einfach nur an, bis sie mit einem Lächeln, das viel zu aufrichtig war, entgegnete, „Ich habe einfach so ein Helfersyndrom", leise fing sie an zu kichern, „Das ist wie bei so einem Hundewelpen, den man auf der Straße findet, dem hilft man einfach." Ich zog die Augenbrauen hoch. „Du siehst mich also als einen Hundewelpe?"
„Was? Nein, ich-" Fast schon vertraut schlug sie mir leicht gegen den Arm als sie mein Grinsen sah. „Ist auch egal, was ist nun?"
„Klingt nach einem guten Deal." Vor allem, weil es für mich nur Vorteile gab. Also wollte ich einschlagen.
Doch Ruby zog im letzten Moment zurück. „Warte! Wovon sprechen wir hier genau? Von Nachhilfe in Analysis? Nachhilfe in Mathe? Oder Nachhilfe in... " Zögernd sah sie mich an. „Naja... wie weitreichend wäre denn dein Angebot?", fragte ich unsicher. Ihr Blick daraufhin fast schon fassungslos. Letztlich fasste sie sich aber. „Okay, wir tasten uns einfach vor und-"
„Miss Farrell, wären sie so freundlich ihre Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zu widmen?", wurden wir von der schrillen Lehrerin unterbrochen und gerade noch rechtzeitig konnte ich ein Augenrollen unterdrücken. Ich liebte Motorradfahren, aber dass ich mir das alles dafür antat war schon ein hartes Stück.
Und das noch ein fucking Jahr lang.
Natürlich war Ruby daraufhin nur noch auf den Unterricht fixiert und ließ mich links liegen, weswegen ich meinen Kopf wieder, diesmal mit der anderen Seite, auf den Tisch legte. Dafür hatte ich nun die Aufmerksamkeit eines blonden, am Fenster sitzenden und dezent... mürrischen Jungen. Sein Blick wollte mich scheinbar erdolchen, so finster und verachtend verzog er das Gesicht.
Was auch immer sein Problem war, es war mir herzlich egal. Ich schloss einfach die Augen.
Aufatmen konnte ich erst als wir nach mehreren Stunden das Gebäude wieder verließen und auf die Parkplätze zusteuerten. Ruby hatte mir in der Zwischenzeit noch weitere hochinteressante Dinge über das Schulleben hier erzählt, ehe wir vom Thema abgekommen waren und sie mir das Einzige erzählte, was bei mir auch hängen geblieben war.
Nämlich, dass ihr Bruder Ryan eine 400er Kawasaki fuhr.
Und damit hatte sie mich. Wenn auch mein Engagement für das Knüpfen neuer Freundschaften nach wie vor nicht hoch war, diesen Ryan würde ich schon gern kennenlernen. Und eben dieser würde seine Schwester gleich abholen.
„Hat er sie schon lang?", wollte ich wissen und quetschte Ruby förmlich darüber aus. Entweder bemerkte sie mein gesteigertes Interesse nicht oder aber sie gab dem keine große Bedeutung. „Naja, schon etwas. Vielleicht zwei Jahre?" Sie zuckte mit den Schultern.
„Farbe?" „Grün."
„Und hat er-" „Miles!" Lachend blieb Ruby stehen. „Ich habe keine Ahnung. Ich kenn mich damit nicht aus und wir reden auch nicht darüber."
Enttäuscht stieß ich die Luft aus und wollte mit etwas anderem beginnen, als ein lautes, tiefes Motorengeräusch meinen Gedankengang unterbrach. Wenig später fuhren auch schon zwei vollverkleidete Motorräder auf den Schulparkplatz und hielten nebeneinander in einer der engen Parklücken.
„Ah, da ist er."
Ich hörte ihr aber nur am Rande zu. Natürlich wusste ich wer er war. Die grüne Kawasaki Ninja hatte deutlich mehr schwarz an der Verkleidung als erwartet, einen Storm GP-C Auspuff, war unten mit goldenen Aufklebern verziert und sah generell... weniger durchschnittlich aus. Mehr konnte ich zwar von der Entfernung nicht erkennen, aber ich wusste schon jetzt, dass da jemand Geld, Ahnung und Liebe für das gewisse Etwas hatte.
Aber, sein Kumpel erst!
Die leuchtend rote Farbe der Ducati 1098 war so auffällig, dass man sie unmöglich übersehen konnte. Offensichtlich frisch gewaschen und Eigentum eines vermutlich reicheren Besitzers. Dieser hatte seinen Helm abgenommen und ließ seinen Blick über das Gelände wandern. Kurzrasierte, schwarze Haare, ein leichter Bart, breite Schultern und ein so arroganter Blick als würde ihm die ganze Stadt gehören.
„Okay, ich muss los", meinte Ruby als ihr Bruder mit dem mitgebrachten Helm winkte.
„Warte!", hielt ich sie auf. „Kann ich deine Nummer haben?" Damit würde es einfacher werden sich zwecks Schule abzusprechen und es würde unsere neubeginnende Freundschaft festigen.
„Klar, Moment." Schnell zog sie ihr Handy aus der Tasche, um mir die Nummer anzusagen.
Ich konnte derweil nicht anders als mir die Motorräder näher anzusehen. Dabei ignorierte ich ganz bewusst die strenge Musterung, der wir unterzogen wurden. Schließlich erregte es die Aufmerksamkeit eines Bruder, wenn man mit seiner Schwester sprach und Nummern austauschte. Sein schwarzhaariger Kumpel auf der Ducati hingegen ließ seinen Blick schon wieder weiterwandern.
„Also dann, bis morgen", lächelte mich Ruby ein letztes Mal an bevor sie mit erhobener Hand zu ihrem Bruder lief, der sich mittlerweile von seiner Maschine geschwungen hatte und ihr entgegenkam.
Mein Blick immer noch sehnsuchtsvoll auf den Zweirädern.
Plötzlich rempelte mich jemand von hinten an, stieß mir die Schulter schmerzhaft in den Rücken. Erschrocken fuhr ich herum und sah mich dem Jungen von heute Früh gegenüber. Sein Blick noch verachtender als vorhin.
„Alter, was ist dein Problem?!"
„Du bist mein Problem", gab er mir die nichtssagende Antwort und schlenderte stattdessen mit einem letzten sauren Blick ebenfalls zu den Motorrädern.
Überrascht sah ich ihm hinterher. Was war das denn?! Er kannte mich doch noch nicht einmal! Und ich hatte ihm auch überhaupt nichts getan. Für einen Moment debattierte ich mit mir selbst, ob es nicht schlau wäre ihm zu folgen und ihn zur Rede zu stellen, doch da war er bereits bei Ruby und ihren beiden Begleitern angekommen und schlug Ryan vertraut auf die Schulter.
Na toll, offensichtlich kannten sich die beiden.
Da wäre es mehr als dumm als Fremder aufzutauchen und ihn zur Schnecke zu machen. Und Ruby dürfte das auch nicht gefallen.
Also wandte ich mich ab und suchte die Bushaltestelle auf, die Ruby mir zuvor gezeigt hatte. Tag eins von weit über 100 war somit geschafft. Yeah! Ich hatte jetzt schon keine Lust mehr. Auch im Bus wurde meine Laune bei all den anderen Leuten nicht unbedingt besser. Aber was tat man nicht alles für ein bisschen Familienfrieden.
Zuhause angekommen schmiss ich mich müde auf mein Bett. Endlich.
Unweigerlich wanderten meine Gedanken wieder zu Ruby. Sie war wirklich ein tolles Mädchen, hübsch, fröhlich, freundlich und vor allem hilfsbereit. Mit ihrer Hilfe würde ich meinen Onkel schon besänftigen können. Lief die Schule, dürfte ich vielleicht auch wieder Motorrad fahren. Auf meine Weise. Zumindest hoffte ich, dass er das Thema dann darauf beruhen ließ.
Den restlichen Nachmittag und Abend verbrachte ich mit Zocken oder sah Fern. Irgendwie musste ich ja die Zeit totschlagen. Und mein Onkel kam nicht nach Hause, machte sicher wieder Überstunden und ließ mich allein.
Nur konnte mich irgendwann selbst die Technik nicht mehr bei Laune halten.
Und so führte mich mein Weg hinaus. Nach draußen in unsere Einfahrt. Vor dem Garagentor hielt ich an, unentschlossen ob ich es öffnen sollte oder nicht. Seit dem Unfall war ich nicht ein einziges Mal gefahren. Dabei war es nicht ausschließlich die Angst, viel mehr der Zeitmangel, ein voller Kopf und ein unglaublich strenger Onkel. Aber jetzt... Er war nicht da und irgendwann musste ich ja mal herausfinden, ob ich noch fahren konnte.
Seine Bedenken waren an sich ja berechtigt. Ich hatte immer mal wieder Alpträume, Flashbacks und Atemnot, die damit einherging. Aber ich hatte nie einen Versuch gestartet wieder zu fahren. Dementsprechend konnte keiner wissen, ob es schiefgehen würde. Und abgesehen davon hatte der Unfall nichts mit dem Motorrad zu tun gehabt.
Also öffnete ich einfach das Garagentor und sah mich sofort dem schönsten Fahrzeug gegenüber, was die Menschheit je entwickelt hatte.
Einer dunkelblauen Yamaha YZF R6.
Sie hatte eine blaue Verkleidung, mit schwarzen und weißen Akzenten, eine goldene Telegabel, blaue Felgen und dazu einen Akrapovic Auspuff. Ich liebte einfach den Sound.
Das Motorrad war ein Geschenk meiner Eltern zum 16. Geburtstag gewesen. Die Tatsache, dass ich somit eine zeitlang schwarz fuhr, hatte sie nicht wirklich interessiert. Und den Fakt, dass ich regelmäßig Rennen fuhr, für den Adrenalinkick und um mir etwas dazu zu verdienen, wussten sie nicht.
Meine Hand spielte mit dem Zündschlüssel in meiner Tasche und langsam holte ich ihn heraus. Ich drehte ihn mit den Fingern und sah ihn genau an. Eigentlich hatte ich mir geschworen vorerst nicht zu fahren, um Stress mit meinem Onkel zu vermeiden, aber die Begegnung heute auf dem Parkplatz hatte eine starke Sehnsucht geweckt.
Eine Fahrt würde schon okay sein.
Die Vorfreude kündigte sich mit einem nervösen Kribbeln an und ich spürte bereits mein Herz schneller schlagen. Also ging ich zu ihr, ließ den Motor an, zog mir den Helm über, der wie immer meine Haare zerstörte und mein Gesicht einquetschte, und schwang mich auf sie. Das Gefühl meiner Hände in den Handschuhen und der schweren Motorradjacke wohlvertraut. Der Sound wie Musik in den Ohren. Und das Brummen des Motors beruhigend und aufregend zugleich.
Oh, wie ich das vermisst hatte.
Ein letztes Mal atmete ich tief durch, klappte den Ständer hoch, das Visier runter, und verließ die Garage.
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