Eine Reise
Rund zwölf Meilen von Liverpools Stadtkern entfernt liegt die 6.000 Einwohner fassende Stadt West Kirby. Es ist ein beschauliches Örtchen mit einigen Märkten, drei Schulen, genauso wenigen Kirchen und einem Fußballverein, der nicht mal in der sechsthöchsten Spielklasse Englands spielt. Alle zwei Stunden fährt ein kleiner Bus die wenigen Fahrgäste nach Liverpool und wieder zurück. Nur wenige Touristen verirren sich nach West Kirby und wenn sie es tun, dann garantiert wegen der tollen Lage direkt am Meer. Dieses wird allerdings von einem Baggersee, dem Marine Lake, vom Ufer abgeschottet. Jedenfalls ist leicht herauszuhören, dass West Kirby keine besonders aufregende Stadt wäre, in denen besondere Dinge geschehen oder besonders interessante Menschen lebten. Denkt man dies allerdings, wird einem während eines Gesprächs in einem der Pubs mit einem Einheimischen schnell ein anderer Eindruck vermittelt.
„Nun ja, unsere kleine Stadt ist sicher kein Touristenmagnet oder, Gott bewahre, ein Ort, an dem Verrückte leben", würde man hören, „aber draußen an der Caldy Road, direkt an der Bushaltestelle, führt eine Einfahrt in ein unscheinbares großes Einfamilienhaus. Der Garten wird von einer dichten Hecke umschlossen, wirkt aber gut gepflegt." Die Geschichte würde so weitergehen, dass dieses Haus von außen einen völlig normalen Eindruck machte, aber die Bewohner gewiss Aufmerksamkeit auf sich zögen. Das liege daran, würde der Einheimische sagen, während er ein Schluck Bier tränke, dass sie so besonders unauffällig seien, und zwar im Negativen. Noch nie hätte jemand die Familie öfter als einmal im Monat hinausgehen sehen. Keine Wocheneinkäufe, keine Ausflüge, kein Arbeitsweg am Morgen und Nachhauseweg am Abend. Selbst der Sprössling der Blishwicks, er müsste um die zehn sein, konnte je gesehen werden, wie er in Uniform zur Schule ginge. Er schien auch keine Freunde zu haben, also musste er wohl zu Hause unterrichtet werden. Und das in West Kirby, wo die Schulen alles andere als überfüllt waren oder einen schlechten Ruf erlitten! Nachdem der Einheimische diese Geschichte zu Ende erzählt hätte, würde er einen Penny für das Bier dalassen und gehen. Die Gedanken des Zuhörers wollte er nicht mit anhören, der sollte sich seine ganz eigene Meinung dazu bilden. Allerdings gab es einen geheimen Trick, um noch mehr zu erfahren: Nur eine Person war in den letzten paar Jahren, in denen die Blishwicks das gut verborgene Haus in der Caldy Road bewohnt hatten, in den Garten gekommen. Der alte irische Postbote Oisin Teachtaire konnte sich an jedes Haus in West Kirby erinnern, gefragt wurde er jedoch, wenn überhaupt, immer nur nach dem mit der Nummer 47. Nach einem kurzen Stirnrunzeln würde dann die nächste Geschichte losgehen.
„Caldy Road 47, das berühmteste Haus der Stadt, hä? Eigentlich gibt es nicht viel zu berichten. Sobald man die immergrüne Hecke passiert hat, steht man in diesem riesigen Garten, der frisch riecht und aussieht. Die kümmern sich da ziemlich gut drum, im Sommer blühen immer die buntesten Blumen, im Winter sind es Nadelbäume, deren Blätter nie sterben. Das Haus selbst sieht aus wie jedes andere Einfamilienhaus in der ganzen Merseyside. Rotbrauner Backstein, Erkerfenster im Erdgeschoss und normale, weitläufige im oberen Stockwerk. Ach ja, riesiger Schornstein nicht zu vergessen. Was man durch die Fenster sehen kann? Altmodische Einrichtung. Holz, Holz und noch mehr Holz und viele Kerzen. Sind wohl keine Freunde der Elektrizität, diese Blishwicks, nicht? Ach ja, die Tapeten. Alles, was man sehen kann sind ganz viele Blumen und das nicht nur auf den Wänden. Eigentlich an allen Fenstern, jaja. Sonst kann ich nichts sehen." Und damit würde sich Mr. Teachtaire wieder seiner Post zuwenden und nur noch mit einem reden, wenn man Post abzugeben oder abzuholen hätte. Damit wäre die Reise beendet, außer man hatte den Mumm, die arme Familie Blishwick zu besuchen, nur um herauszufinden, ob sie wirklich normale Menschen oder irgendwelche Kreaturen waren. Und so töricht oder unverschämt war nun wirklich niemand.
Obwohl es schon neun Uhr abends war, lange nach der Schlafenszeit Edwards, wuselte der zierliche Junge aufgeregt durch sein Zimmer. Verzweifelt suchte er nach einem dunkelgrünen Pullover, seinem absoluten Lieblingskleidungsstück, welches er aber einfach nicht finden konnte. Auch die siebte Schublade seines großen Schranks wurde frustriert zugeknallt und der Junge, der tatsächlich elf und nicht zehn Jahre alt war, fuhr sich verwirrt durch seinen strohblonden Scheitel. Wo kann dieser verdammte Pulli nur stecken, ich habe ihn doch gestern noch gesehen, dachte er. Eddie, wie er lieber genannt werden wollte, brauchte dieses Oberteil wirklich dringend, denn morgen würde er in sein neues Internat gehen und das garantiert nicht ohne seinen Lieblingspullover!
Hier muss schon wieder unterbrechen werden, denn diese Schule, die gerade erwähnt wurde, hat es nicht verdient, wie jede beliebige Hochschule Großbritanniens behandelt zu werden. Hogwarts ist nämlich nicht wie jede beliebige Schule, sie ist für wahrhaftig besondere Kinder. Und damit kommen wir der Lösung um das Rätsel der Blishwicks sehr nahe. Besondere Kinder meint nämlich wirklich Besondere und nicht schwer Erziehbare. Die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei nimmt nur junge Zauberlehrlinge auf, so verrückt es auch klingen mag. Die Blishwicks sind nämlich eine reine Zaubererfamilie. Auch Edwards Eltern und deren Eltern und wiederum deren Eltern hatten allesamt Hogwarts besucht. Nachdem dies also geklärt wäre, schauen wir wieder auf den jungen Eddie, der seinen Pullover immer noch nicht gefunden hat.
„Mum?", rief er verzweifelt in den Flur hinaus, „Mum, kannst du mal herkommen?" „Ja", antwortete Mrs Blishwick und schon steckte sie ihren Kopf in Eddies Zimmer, „Was ist denn, mein Schatz?" „Ich suche meinen grünen Pullover. Und zwar schon seit einer Ewigkeit! Weißt du, wo er ist?", fragte der Blondschopf. Anstelle einer Antwort zog seine Mutter ihren Kopf zurück und ging ganz in das Zimmer. In ihren verschränkten Armen lag ein Wäschestapel und ganz oben drauf- „Da ist er ja!", rief Eddie glücklich und sprang von seinem Bett auf, um sich seinen Pulli zu schnappen.
Er umarmte seine Mutter herzlich, die sich wieder einmal fragte, ob ihr Baby wirklich schon elf Jahre alt war und schon morgen sein erstes Schuljahr in Hogwarts antreten würde. Er sah nicht nur wesentlich jünger aus, als er war, sondern verhielt sich oft auch noch so. Das lag mit Sicherheit daran, dass Eddie noch nie einen wirklichen Freund hatte, der ihn aus der Mutterzone in die Selbstständigkeit der Pubertät holen konnte. Doch das würde hoffentlich bald geschehen. Eddie, jetzt mit seinem grünen Pullover in der Hand, hatte sich auf sein Bett gesetzt und schaute jetzt ziellos in seinem Zimmer umher. Obwohl seine Mutter die dunkelblauen Augen ihres Sohnes nicht sehen konnte, spürte sie, dass sie leer waren, nah an der Grenze zur Traurigkeit. Sie seufzte, legte den Kleiderstapel auf einer Kommode ab und setzte sich auf das Bett, das unter dem Gewicht zweier Menschen bedrohlich quietschte.
„Was bedrückt dich, Eddie?", fragte sie mit sanfter Stimme und drückte den mageren Jungen an ihre Schulter. Ihre Hände fuhren durch das Haar und brachten so den Scheitel durcheinander. Eddie atmete tief durch, ließ seine Hände genau einmal auf seine Schenkel klatschen und begann dann zu erzählen. „Es ist einfach, ich war noch nie so lange alleine und ich meine richtig alleine. Freunde hatte ich wegen unserer Fähigkeiten ja nie welche und morgen fahr ich ganz allein nur mit anderen Kindern auf ein Internat. Mama, was ist, wenn die sofort merken, dass ich ein Loser bin?" „Hey, mein Schatz, sag sowas nicht! Du bist kein Loser, nur weil du keine Freunde hast und ein wenig kleiner bist als der Durchschnitt, hörst du? Auf Hogwarts sind so viele Jungen und Mädchen, da wirst du schon jemanden finden. Vielleicht sogar jemanden, der ähnliche Probleme hat, wie du. Dank Grindelwald sind wir bei Merlins Barte nicht die einzigen, die sich verdeckt halten müssen. Vor allem wir Slytherins sind schließlich bekannt für unsere Brüderlichkeit, wenn harte Zeiten kommen und für dich sind das nun mal harte Zeiten. Aber du bist weder ein Loser, noch wirst du jemals einer sein, verstehst du mich?"
Eddie nickte zwar, aber Mrs Blishwick wusste, dass ihre aufmunternde Rede nicht die Zweifel eines Jungen beheben konnten, der noch nie Freunde hatte und sich – zu recht, wie sie leider zugeben musste – Sorgen machte, dass das für immer sein würde. Deshalb streichelte sie ihn ein wenig und summte sein Lieblingslied. Nach einer Weile war Eddies Atem wieder ruhig und regelmäßig, dennoch glaubte Mrs Blishwick, eine Träne an ihrem Ärmel gespürt zu haben. Sie stand auf und nahm Eddie den Pullover vom Schoß, um ihn in den Koffer zu legen. Anschließend gab sie ihrem Baby ein Kuss und löschte die Lampen. „Gute Nacht, Eddiemaus.", sagte sie, bevor sie die Zimmertür schloss.
„Hör auf", murmelte Eddie schlaftrunken, während er sich aufrichtete. Er rieb sich mit seinen kleinen Fäusten die Augen und blinzelte. Niemand hatte auf seine Bitte reagiert, denn das war auch unmöglich. Nicht seine Mutter oder sein Vater hatte Eddie wachkitzeln wollen, es waren die Sonnenstrahlen, die sich durch das weit geöffnete Fenster windeten. Seine Mutter musste es aufgemacht haben, schließlich war es am Abend zuvor noch zu gewesen. Eddies Blick wanderte zu seinem Wecker. Halb neun. Noch zweieinhalb Stunden, bis er mit dem Hogwarts-Express seine allererste Reise ohne seine Eltern antreten würde. Na super, das wird bestimmt toll, dachte der Junge, bevor er aus dem Bett schlüpfte. Gemütlich zog er sich um – die Schuluniform würde er erst im Zug anziehen – und schloss das Fenster. Eddie mochte die frische Luft zwar, aber die Luft war trotz Spätsommer morgens relativ kalt in West Kirby. Jetzt konnte er endlich runter in die Küche zum Frühstücken gehen.
Sobald Eddie seine Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, konnte er den Duft von guten Würstchen, saftigen Bohnen und tollem Rührei riechen. Mum muss Baggin heute besonders motiviert haben, schoss es dem Jungen durch den Kopf. Baggin war der kahle, meist miesepetrige Hauself der Blishwicks. Jede reiche, vor allem aber reinblütige Zaubererfamilie erledigte die meiste Hausarbeit nämlich nicht selbst, sondern ließ dies Hauselfen machen, natürlich unbezahlt und oft wie Sklaven gehalten. Die Blishwicks aber behandelten ihren Baggin gut, er hatte alte Kleidung von Eddie, die ihm nicht mehr passte und eine eigene Rumpelkammer als Zimmer. Durch die Klamotten, die Eddie als kleiner Junge dem Hauselfen versehentlich geschenkt hatte, hätte Baggin die Familie schon längst verlassen können, wusste aber, dass es ihm sowieso nirgendwo besser gehen würde. Also blieb er und arbeitete nun schon seit fast fünfzehn Jahren für Emily und Regulus Blishwick. In der Küche setzte sich Eddie an seinen Platz, an dem bisher nur ein Becher Kakao wartete, doch das Klirren und Brutzeln verriet, dass auch sein Essen nicht mehr lange warten würde. Der Junge nahm einen kräftigen Schluck und rieb sich noch einmal die Augen. Er sollte später auf keinen Fall müde wirken, das würde ihm auf keinen Fall helfen, Freunde zu finden.
„Ah, du bist endlich wach. Dein Vater musste schon zur Arbeit, aber ich soll dir das hier von ihm überreichen." Mrs Blishwick hatte von hinten die Küche betreten. Eddie drehte sich um und konnte bei ihrem fröhlichen Ausdruck nicht anders, er musste auch lächeln und das wiederum ließ das Strahlen in Emilys Augen nur noch steigen. Zwar war Eddies kindliches Äußeres in einigen Punkten nicht förderlich, zum Beispiel um bereit für Hogwarts zu wirken, aber sein Grinsen war dadurch nur noch reiner. Sie schlich wie eine Ente auf ihren Sohn zu und drückte ihm einen saftigen Kuss auf die Wange, überreicht von Regulus. Eddie zog angewidert den Kopf zurück und wischte sich die Spucke ab.
„Entschuldigung, aber so lautete mein Auftrag", sagte Mrs Blishwick lachend und schaute dabei zu, wie Baggin einen großen Teller vor Eddie abstellte. „Wie ich sehe, hast du dich schon angekleidet. Aber hast du überhaupt schon geduscht?", fragte sie lächelnd. Eddie nickte augenverdrehend. Natürlich musste seine Mum mal wieder das Haar in der Suppe finden. Bevor er allerdings duschen gehen würde (und sich daraufhin noch einmal umziehen muss, dachte er), genoss der junge Zauberer das wunderbare Frühstück. Es sah nicht nur deliziös aus, oder roch genauso, es schmeckte auch noch so! Nachdem er eine Gabelladung nach der anderen in sich hinein geschaufelt und seinen abgekühlten Kakao geleert hatte, wandte sich Eddie zum Gehen um, als seine Mutter ihn an der Schulter hielt.
„Du hast eine Kleinigkeit vergessen", murmelte sie grinsend und noch bevor Eddie etwas erwidern konnte, hatte sie ihm einen ihrer wunderbaren selbst gebackenen Honigkekse in den Mund geschoben. Eddie wusste, dass seine Mum dank Baggin nur noch selten selbst backte oder kochte und wenn sie es tat, nur zu wirklich besonderen Anlässen. Und dazu gehörte natürlich auch die Einschulung ihres einzigen Kindes. Aus diesem Grund wusste der Blondschopf diese kleine Geste noch mehr zu schätzen. Baggin hingegen gab einen seiner seltenen Laute von sich. Es ähnelte einem Grunzen gepaart mit dem Röhren eines Hirsches. Eddie und seine Mum brachen in Gelächter aus, sie wussten genau, dass Baggin es immer als Beleidigung ansah, wenn Emily selbst Essen herstellte. „Oh Baggin, ich werde dich schon nicht feuern, nur weil ich meinem Sohn einen Schulkeks gebacken habe", lachte Mrs Blishwick und gab ihrem Hauself einen freundlichen, aber bestimmten Klaps auf den Rücken, woraufhin das grummelige kleine Wesen die Küche noch grummeliger verließ. „Ach, der hat uns bald wieder ganz lieb. Und du, Eddiemaus, hast jetzt mal das Waschen ganz doll lieb, wir haben nämlich nicht mehr viel Zeit."
Nachdem Eddie sich kurz in der Dusche gewaschen hatte und zum zweiten Mal an diesem ersten September seine Kleidung anzog, kam er in die Diele im Erdgeschoss, in der seine Mutter schon mit einem leichten Mantel auf ihn wartete. Sie stand vor dem Kamin, Eddies Koffer befand sich neben ihr auf dem Fußboden. Baggin musste ihn heruntergebracht haben. Eddie wunderte die plötzliche Hast ein wenig, sie hatten doch noch Zeit, oder nicht? Ein kurzer, prüfender Blick auf die Standuhr gegenüber dem Kamin ließ aber auch ihn in Panik geraten. Die Zeiger deuteten auf eine Uhrzeit von zehn vor elf.
Das Flohnetzwerk, das wohl schnellste Transportmittel der modernen britischen Zaubererschaft, hatte die beiden Blishwicks und ihren Koffer zuverlässig von ihrem Haus in der Caldy Road 47 in West Kirby nach King's Cross, London gebracht. Zwar war diese Art zu reisen so schnell, dass Eddie und Emily bei ihrer Ankunft immer noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Hogwarts-Express' hatten, Eddie war die ganze Sache mit dem Flohpulver und den Kaminen dennoch nicht geheuer. Während man durch das ganze Land von Kamin zu Kamin geschleudert wurde, fühlte man sich, als zerreiße es einem den ganzen Körper und selbst eine halbe Stunde nach Ankunft fühlte sich Eddie oft noch schummrig und unwohl. Allerdings kam er im heutigen Falle nicht umher, den Flohnetzwerkreisen dankbar zu sein, sonst wäre er schon an seinem allerersten Tag auf Hogwarts zu spät gekommen und das erklär mal dem Schulleiter.
Mrs. Blishwick hatte sich dank der Gewohnheit schon an diese unbequeme Art der Reisen vertraut gemacht und konnte sich daher schneller am Bahnhof zurechtfinden als ihr Sohn. Dies lag aber sicher auch daran, dass sie im Gegensatz zu ihm schon öfter hier gewesen war, besser gesagt überhaupt schon hier war. Zu Emilys größtem Missfallen, sei aber hinzugefügt. Ihr gefiel die Art der Anreise nach Hogwarts nämlich überhaupt nicht. Zwar war Emily Blishwick im Gegensatz zu den meisten anderen Zauberern, vor allem den Reinblütern (wie sie selbst auch) und ihrem Mann Regulus, einem geborenen Black, recht aufgeschlossen Muggelgeborenen und sogar Muggeln selbst gegenüber, dennoch mied sie ihre Gegenwart nur allzu gerne. Zu viele Gefahren lauerten bei ihnen, vor allem, wenn man mit einem Kind mitten in einem mit Muggeln gefüllten Bahnhof durch eine Wand rennen soll, ohne Verdacht zu erregen. Nein, man konnte wirklich nicht behaupten, dass Mrs. Blishwick dieser Schulweg gefiel, aber was sollte man schon großartig tun. Zaubereiminister Fawley war zwar gewiss ein sympathischer Mann, aber er war ein hoffnungsloser Optimist, sogar die Gefahr von Grindelwald hatte er nicht erkannt, weshalb man im Tagespropheten fest mit seiner Ablösung in naher Zukunft rechnete.
Als sie beide in dem abgedunkelten Raum mit dem Kamin gelandet waren, packte Mrs. Blishwick sofort ihren Sohn an der rechten und den Koffer an der linken Hand und eilte in Richtung der Bahnsteige neun und zehn. Es war schwierig, sich zwischen den ganzen Muggeln, die mit der Eisenbahn zu ihren entfernten Arbeitsplätzen, meistens in irgendwelchen Fabriken von denen Emily nichts verstand, fahren wollten, hindurchzukommen. Hie und da rempelte die junge Frau entweder mit ihrem Körper oder dem schweren Koffer Leute an, die es entweder nicht merkten oder ihr einen wütenden Blick hinterherwarfen, aber keiner erhob ein Wort. Endlich hatten die Blishwicks den Bahnsteig, der die Gleise neun und zehn miteinander verband, erreicht. Von beiden Seiten schnauften dicke schwarze Dampflokomotiven und es waren noch mehr Muggel dort, als in der gesamten Schalterhalle.
Großartig, schoss es Mrs. Blishwick und ihrem Kleinen zur selben Zeit durch den Kopf, wobei Eddie eindeutig mehr Angst als Ärger verspürte, was bei seiner Mutter anders herum war. Daran hatte das Zaubereiministerium natürlich nicht gedacht. Wie sollten sie denn jetzt unbemerkt durch eine Wand kommen? Langsam ging Mrs. Blishwick nach vorne in Richtung der magischen Barriere. Sie suchte akribisch nach einer geeigneten Möglichkeit, die Muggel nicht zu alarmieren. Die Folgen wären verheerend, nicht nur für sie. Die junge Hexe warf einen Blick auf die Uhr und musste erschrocken feststellen, dass sie nicht einmal mehr zwei Minuten hatten. Sie würden es nie zusammen schaffen! Eddie musste alleine durch die Mauer, sie konnte währenddessen ein Tumult herbeirufen und die Muggel ablenken.
„Hör mir genau zu, Eddie!", sagte sie bestimmt und zog das zarte Gesicht ihres kleinen Jungen zu sich. „Ich werde dort vorne einen Krampf oder so vortäuschen und du rennst einfach auf diese Wand dort zu. Du wirst problemlos hindurchkommen, also habe keine Angst, verstehst du? Wir haben keine Zeit für einen anderen Plan, also tu es einfach, okay?" Emily wartete einen quälenden Augenblick lang. Sie sah Eddies Furcht aufsteigen, aber auch seinen Stolz und seine Neugier. Sie konnte nur hoffen, dass Letztere siegen würden. Schließlich nickte er endlich und seine Mutter drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange, dieses Mal nicht von jemandem aufgetragen. Bevor sie noch ein weiteres Wort des Abschiedes austauschen konnte, war Mrs. Blishwick verschwunden. Plötzlich drehten sich die meisten Muggel zu einer schreienden Frau um und eilten ihr zur Hilfe. Jetzt, schoss es Eddie durch den Kopf, das ist meine einzige Chance. Er nahm all seinen Mut zusammen, griff nach seinem Koffer und rannte auf die karge Mauer zu.
Alles war schwarz. Bin ich gestorben?, dachte Eddie. Es fühlte sich aber nicht danach an. Eddie konnte kalten Stein unter seinem Hosenboden spüren, außerdem hörte er das gleiche Dampfen und Zischen wie am Bahnhof gerade eben noch. Vorsichtig öffnete er seine blauen Augen und blinzelte. Grelles Licht schoss ihm von einem Glasdach entgegen. Als seine Augen sich an die neue Umgebung gewöhnt hatten, fiel ihm vor Erstaunen die Kinnlade hinunter. Eddie hatte zwar schon einige Dampfeisenbahnen in seinem Leben gesehen, aber noch nie solch eine. Die große Lokomotive mit ihrem ebenso großen Tender, die vor den Passagierwagen gespannt war, glänzte in einem wunderschönen scharlachrot. Aus mehreren Öffnungen am Rumpf qualmte es mächtig. Eddie konnte nicht anders, als diesen wunderbaren Anblick einen Moment zu genießen, als plötzlich eine Stimme ertönte.
„Junge, willst du mitfahren oder bist du noch nicht soweit?", rief ein Mann in roter Uniform, der in der ersten Tür des ersten Waggons stand. Er wirkte ungeduldig und schaute ständig auf seinen Arm, wo sehr wahrscheinlich eine Uhr angebracht war. Eddie nickte wild und stand hastig auf, griff nach seinem schweren Koffer und hastete los in Richtung des Schaffners. Mehrmals stolperte er und wäre um ein Haar hingefallen, doch der pure Wille, den Zug nicht noch länger aufzuhalten und damit sofort seine Chancen auf wenigstens einen Freund zu verspielen, hielt ihn auf den Beinen. An der Tür nahm ihm der Mann, er war etwa vierzig und trug einen wilden Schnurrbart, den Koffer ab und ließ Eddie eintreten. „Nächstes Jahr kommst du ein wenig früher, in Ordnung?" sagte der Schaffner streng. „Nimm dein Gepäck und such dir einen Platz", sagte er und wandte sich damit ab.
Nachdem er sich ein paar Schweißtropfen abgewischt hatte, nahm Eddie erneut den Griff seines großen Koffers in die Hand und ging die Abteile entlang. Zu allererst wollte er nach einem leeren Abteil suchen. Unter keinen Umständen würde er seine hoffnungslose Mission, einen Freund zu finden, schon während der Fahrt nach Hogwarts beginnen. Anstatt sich also zu manch anderen Einzelgängern dazuzusetzen, ging Eddie Abteil um Abteil ab, nur um jedes Mal mindestens einen Jungen oder ein Mädchen, meistens aber größere Gruppen, zu erblicken und schnell weiterzugehen. Im dritten Waggon blieb er an einem Abteil für den Bruchteil einer Sekunde länger stehen. Drinnen saß ganz allein ein fast genauso dürrer Junge wie er, der auch noch gleich alt zu sein schien. Noch jemand, der sich für einen Versager hält?, dachte Eddie kurz, verwarf den Gedanken aber wieder und ließ den schwarzhaarigen Einzelgänger in Ruhe.
Auch im letzten Waggon hatte Eddie fast alle Abteile abgesucht und hatte sich schon fast abwenden wollen, um sich doch zu dem kleinen Schwarzhaarigen zu setzen, als er mit großer Freude erkannte, dass das allerletzte Abteil tatsächlich leer war. Er hatte zwei sich gegenüberliegende Bänke mit jeweils drei Plätzen, eine ganze Gepäckablage (die er dank den fünf freien Plätzen allerdings nicht zu gebrauchen plante) und einen kleinen Tisch, der mehr wie eine Ablage war, für sich alleine. Fröhlich summend schob er die Abteiltür auf, hievte seinen Koffer auf einen Sitz, zog die Tür wieder zu und setzte sich ans Fenster. Der Zug hatte London mittlerweile längst verlassen und es waren die ersten Felder zu sehen. Die Sonne stand fast ganz oben am Himmel, also hatte Eddie schon fast eine Stunde der langen Zugfahrt mit der Suche nach einem Platz verbracht. Als er nun so dasaß und einfach nur die vorbeirasenden Hügel und Wälder Englands an sich vorbeirasen sah, schob sich ein anderer Gedanke in Eddies Hirn. Erstmals seit seine Mutter eine Hilfesituation vorgetäuscht hatte, wurde ihm klar, dass er jetzt bis Weihnachten auf sich alleine gestellt war.
Er würdekeine Mum mehr zur Seite haben, die ihm kluge Ratschläge erteilte und mit ihmZauberschach oder sowas spielte. Er würde keinen Dad mehr haben, der ihn manchmal tadelte, ihn wegen seiner fehlenden Freunde aufzog und im Garten ein paar Würfe mit einem Quaffel übte. Nicht einmal Baggins Grunzen würde er in den nächsten drei Monaten hören können, geschweige denn seine Kochkunst genießen. Seine Eltern hatten ihm zwar einiges von Hogwarts vorgeschwärmt, aber immer waren bei ihren Abenteuergeschichten Freunde dabeigewesen. Er selbst hatte aber keine und Eddie machte sich auch keine große Hoffnung, dies würde sich in den folgenden sieben Jahren ändern. Eine einzelne Träne kroch ihm aus den Augen und befeuchtete auf ihrem Weg nach unten die linke Seite seines Gesichtes. Warum bin ich nur so, dachte Eddie verzweifelt und kümmerte sich nicht darum, sein Gesicht abzuwischen. Interessierte doch niemanden in diesem dummen Zug, wie es ihm ging.
„Entschuldigung, störe ich?", fragte eine Jungenstimme, die zwar älter als Eddie klang, aber dennoch hoch. Na toll. Konnte man diese dummen Abteile nicht irgendwie auf „besetzt" oder so etwas stellen? Auf irgendeinen älteren Jungen, der wahrscheinlich noch seine ganzen älteren Freunde mitbringen würde, hatte Eddie wirklich gar keine Lust. Schnell wischte er sich die Träne vom Gesicht. Sie hatte mittlerweile sein Kinn erreicht und war demnach zum Glück vom Gang aus nicht gut zu erkennen gewesen. „Eigentlich wollte ich alleine sein", murmelte Eddie undeutlich, seine Stimme war noch piepsiger geworden als sie so schon war. Wird ja immer besser. Noch bevor sich Eddies Befürchtung allerdings, sein ungebetener Gast würde ihn als Tweetie den Vogel oder irgendetwas in der Art bezeichnen, bilden konnte, hatte der Jugendliche wieder das Wort ergriffen.
„Oh, das haben alle gesagt, die alleine in einem Abteil sitzen. Auffälliger Weise waren sie alle nicht viel größer als du." Zwar hatte Eddie dem Jungen noch immer nicht ins Gesicht gesehen, dennoch meinte er ein Lächeln in der Stimme gehört zu haben, also drehte er sich endlich vom Fenster weg. Der Junge, der immer noch in der offenen Abteiltür stand, war größer als Eddie es erwartet hatte. Er würde ihn auf 1,80m von der Größe her schätzen, vom Alter aber nicht mehr als 13. Dafür wirkte er zu kindlich. Über den grüngrauen Augen, die Eddie fragend, aber nicht ungeduldig anblickten, hatte der Großgewachsene blonde, sehr festwirkende Locken. Die schwarze Robe, die er schon angezogen hatte, wies ihn als einen Schüler des Hauses Hufflepuff aus, zudem ließ sie seine blasse Haut noch blasser wirken. „Na schön, du kannst reinkommen", sagte Eddie und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme wieder normal klang. Auch der Blondschopf in der Tür wirkte erleichtert, denn er schaffte seinen großen Koffer pfeifend in das Abteil, schloss die Tür hinter sich und warf zuerst das Gepäck gegenüber von Eddies auf den Sitz und setzte sich dann ans Fester, sodass sich die beiden Jungen einen kurzen Augenblick lang in die Augen schauten, bevor sie beide hastig in die entgegengesetzte Richtung schauten.
„Wie heißt du denn?", fragte der Neuankömmling plötzlich, als ihn die dauernd auftauchenden Felder vor der Tür scheinbar langweilten. „Eddie. Eddie Blishwick", antwortete Eddie leise und hätte schwören können, dass der Junge ihm gegenüber kurz zusammengezuckt war. Jetzt schaute er ihn aber wieder fröhlich an. „Oh, ein echtes Reinblut also, hm? Ich hoffe, du hast nichts gegen Muggelgeborene, ich bin nämlich einer." Eddie schüttelte schnell den Kopf, also sprach der Junge unbeirrt weiter. „Das ist toll. Ich halte nichts von diesem dummen Hass, schließlich können wir genauso gut zaubern wie ihr auch. Ist ja auch egal, ich will dich nicht gleich mit Politik vollquatschen. Mein Name ist jedenfalls Richard Deacon, aber meine Eltern nennen mich Richie. Schön, dich kennen zulernen, Eddie." Ganz förmlich bot ihm Richie seine Hand an. Eddie zögerte nicht lange und ergriff sie. Natürlich war Richies Hand fast doppelt so groß und der blonde Hufflepuff zerquetschte Eddies Hand fast, aber es war toll, so seine erste Berührung mit der Hand eines fremden Jungen zu haben und nicht durch eine Faust im Gesicht. Fast, nur fast, machte sich Eddie ganz heimlich Hoffnungen, dass Richie sein Freund werden könnte.
Die nächste Stunde lang brabbelte Richie ihn pausenlos mit irgendwelchen Dingen voll, von denen Eddie keine Ahnung hatte. Er hörte nur einzelne Worte wie Zahnarzt und Fußball. Zwar hatte er schon einmal von diesen Begriffen gehört, doch was sie waren, wusste Eddie nicht. Deshalb langweilte ihn das Gespräch nach einer Weile und er begutachtete lieber die dampfenden Fabriken Nordenglands, die sie mittlerweile sehen konnten. Nur hin und wieder kommentierte er mit einem „Oh ja" oder „Das ist ja toll" wenn Richie gerade kurze Redepausen hinlegte. Eddie hatte so langsam nämlich ein ganz anderes Problem als irgendein Foul bei einem Sport, den er überhaupt nicht kannte. Er hatte Hunger, und zwar großen! Seit dem Frühstück zu Hause hatte Eddie nicht einmal mehr Wasser zu sich genommen und sein Magen fing langsam an, böse vor sich hin zu brummen.
„Alles in Ordnung?", fragte plötzlich Richies Stimme, die aus dem Erzählmodus so schlagartig herausgerissen worden war. Eddie hatte nämlich vor lauter Hunger einen kurzen Stich im Magen gespürt und daraufhin gestöhnt und seinen Bauch gerieben. Das musste Richie aus seinen Erlebnisberichten geworfen haben, denn nun wirkte er gar nicht mehr wie ein Moderator, der fürs Reden Geld bekommt. „Ja, schon. Es ist nur, ich habe furchtbaren Hunger. Sollte es hier nicht irgendeine Dame mit 'nem Essenswagen geben?", fragte Eddie.
„Du hast Recht, mir brummt auch schon der Magen. Ich geh sie mal suchen." Mit diesen Worten sprang Richie auf und schlug sich sogleich den Kopf an der leeren Gepäckablage an. Eddie konnte nicht anders als kurz aufzulachen. Sofort hielt er sich die Hand vor den Mund, doch sein neuer Bekannter schimpfte ihn nicht, sondern grinste ihm nur zu, während er sich den Kopf rieb. Danach konnte er das Abteil ohne weiteren Unfall verlassen. Eddie wandte sich derweil wieder dem Fenster zu. Die Sonne stand mittlerweile wieder etwas tiefer, es begann also langsam der Nachmittag. In ein paar Stunden würden sie Hogwarts erreichen.
Richie kam nach etwa einer Viertelstunde wieder zurück, mit leeren Händen. Eddie schaute ihn fragend an und Richie zuckte die Schultern. Dann begann er aber zu lächeln und schob einen hölzernen Wagen mit ein paar Süßigkeiten in ihr Abteil. „Boah, wie hast du denn den bekommen?", fragte Eddie erstaunt, die Augen weit aufgerissen.
„Überfall, ich hoffe sie finden die nette Lady nicht so schnell", sagte Richie, als ob es nichts wäre. Eddie blickte ihn entsetzt an. „War nur 'n Scherz, Eddie. Du hättest deine Augen sehen sollen", lachte Richie und auch Eddies Miene klarte auf. „Wir waren eh die letzten und für fünf Galleonen und das Versprechen, ich stelle den Wagen am Ende der Fahrt einfach auf den Gang, hat sie ihn mir überlassen." So oder so wäre es Eddie im Endeffekt egal gewesen, Hauptsache er konnte jetzt endlich seinen Bärenhunger stillen. Es waren nicht mehr viele Süßwaren da, aber die, die der Wagen trug, waren mehr als genug für die beiden Jungen. Sie tauschten Bertie Botts Bohnen aus, lachten über Gummischnecken, die sich ein Rennen lieferten. Am Ende blieben genau zwei Süßigkeiten, aufbewahrt in lilanen, fünfeckigen Schachteln.
„Sammelst du auch Schokofroschkarten", fragte Richie, während er nach einer Schachtelgriff. „Und wie! Mir fehlen nicht mehr viele", antwortete Eddie und nahm sich die verbliebene Box. Zeitgleich öffneten sie die Schachteln und verputzten schleunigst die Frösche aus zarter Schokolade. Sie schmeckten wie immer einfach wunderbar und ließen Eddies Bauch fröhlich Brummen. Wieder tätschelte er seinen Bauch, dieses Mal aber aus völliger Fröhlichkeit über die nicht sehr gesunde Mahlzeit. Dann ging es aber an das Spannende: Die Karte. „Und, wen hast du?", fragte Eddie, der gesehen hatte, dass Richie seine schon herausgenommen hatte. „Burdock Muldoon, du weißt schon, der Mann, der vernünftige Tierwesen von Bestien abgrenzen wollte. Schade, den habe ich schon", verkündete Richie enttäuscht. „Und du?"
„Lass mich nachsehen." Eddie griff nach der Karte und betrachtete sie. „Salazar Slytherin. Mist, den hab ich auch schon. Naja, vielleicht beim nächsten Mal", sagte Eddie, auch um sich selbst aufzumuntern. Das war immer die Gefahr, wenn man schon eine große Sammlung an Schokofroschkarten hatte. Doch glücklicherweise wurden immer mal wieder neue Karten von besonderen Zauberern gedruckt, also war nie ein Ende der Sammelei in Sicht. „Ich wünsche mir so sehr, selbst einmal eine Sammelkarte zu haben", murmelte Eddie verträumt und hielt Slytherins Karte vor seine Augen. Er stellte sich vor, wie sein Bild darauf zu sehen war, allerdings war er größer und hatte schon ein paar Muskeln. Darunter stand ein Text, der Eddie für die erfolgreiche Beseitigung Gellert Grindelwalds lobte. Aber als Eddie erneut blinzelte, war sein Konterfeit verschwunden und der alte bärtige Hausgründer Slytherins stierte ihn wieder ernst an. „Ja, das wäre wirklich toll", stimmte Richie zu.
Plötzlich fiel Eddie ein, dass er noch gar nicht für das Essen bezahlt hatte. Die Blishwicks waren vielleicht nicht die reichste Familie Großbritanniens, aber sie nagten definitiv nicht am Hungertuch, deshalb wollte sich Eddie unbedingt für die Freundlichkeit Richies revanchieren. Er zog aus seiner Hosentasche einen Sack voller Münzen heraus und zählte fünf goldene Galleonen heraus. „Moment, was hast du vor?", fragte Richie. „Was wohl? Dir das Geld für das Essen zurückgeben natürlich", antwortete Eddie. Das war ja nicht so schwer zu verstehen, oder? „Lass das, wir sind zwar nicht reich, aber ich muss mir doch nicht von einem Erstklässler mein Essen bezahlen lassen. Ich meine es ernst, wir sind auf keinem Date und ich lass mich nicht von dir einladen. Wenn du die fünf Galleonen unbedingt loswerden willst, schenk sie irgendwem, der nicht ich ist. Basta!"
Eddie sah ein, dass jede Diskussion über diese Thematik überflüssig war und steckte das Geld zurück in seine Hosentasche. Anstelle sich über Geld zu streiten, konnte er Richie viel sinnvollere Dinge fragen. „Wie ist es eigentlich so in Hogwarts? Meine Eltern haben mir zwar schon einiges erzählt, aber das meiste davon liegt ja schon mehr als zehn Jahre zurück und du bist erst..." „Ich fange jetzt mein drittes Jahr an. Nun, wo soll ich bei Hogwarts denn anfangen? Es gibt einfach so viel zu erzählen. Okay, fangen wir hier an. Das Schloss selber kann ich dir nicht beschreiben, du musst es einfach selbst gesehen haben, okay? Die Lehrer sind größtenteils in Ordnung, du musst dich nur vor Professor Beery zurückhalten. Er unterrichtet Kräuterkunde und ist zufällig mein Hauslehrer. Ich meinte, er ist total nett, aber er kann echt verdammt ungemütlich werden, wenn man ihm auf die Pelle rückt. Madam Hooch, die macht Flugstunden, ist bestimmt aber auch eigentlich ganz zahm. Ach ja, Professor Burbidge macht immer die Sechstklässler an, also musst du dir noch keine Sorgen machen." Richie räusperte sich kurz und schaute Eddie an. Eddie nickte bestätigend, er hatte alles verstanden. „Madam Salubra, die Krankenschwester ist spitze, die besorgt dir immer Entschuldigungen, wenn du mal akute Lustlosigkeit haben solltest. Aber nicht zu oft, verstanden? Irgendwann hat auch sie keine Lust mehr. Mr. Ogg, der Wildhüter, ist großartig, mit dem kann man gerne mal die eine oder andere Stunde palavern. Aber pass bloß auf, dass du nicht von Mr. Pringle erwischt wirst. Er kann Schüler, die Regeln brechen, auf den Tod nicht ab. Seine Strafen sind erbarmungslos, weil Professor Dippet, ach ja, der Schulleiter übrigens, ein alter Sack ist, den nur noch sein Ruf bei den Reinblütereltern interessiert. Er ist kein Rassist oder so, aber er ist definitiv altmodisch und nachsichtig bei gewaltvollen Strafen an Schülern. Ich sag dir,hoffentlich geht er bald in Rente und Professor Dumbledore übernimmt endlich. Er ist der beste Lehrer an der Schule, das sag ich dir. Unterrichtet Verwandlung und ist außerdem Hauslehrer der Gryffindors. Liebt Quidditch, immer ein Pluspunkt bei Schülern. Na gut, das wäre mal das Gröbste. Sonst noch irgendwelche Fragen?"
Eddie, der sich von der schieren Masse an Informationen der letzten Minute erschlagen fühlte, musste erst einmal alles in sich Ruhen lassen. Vor welchem Lehrer er sich hüten musste und wo er die Regeln ruhig ein wenig lässiger befolgen muss. Dann konnte er sich endlich neuen Dingen zuwenden. Vor allem eine Sache interessierte ihn brennend.
„Wie ist das mit den Häusern, ist die Konkurrenz wirklich so heiß und ernst? Und wie ist es in Hufflepuff, wenn wir schon dabei sind", fragte er und konnte Richies Antwort gar nicht abwarten. „Nun, ich würde es gerne anders sagen, aber die Wahrheit ist, dass wir unsere Häuser sehr, sehr schätzen. Wir würden für sie alles tun, sie vor allem beschützen und das bedeutet natürlich auch, dass wir die anderen Häuser oft nicht ausstehen können. Es gibt aber Unterschiede. Wir Hufflepuffs, naja auch die Ravenclaws, wenn man so will, kommen im Großen und Ganzen mit allen relativ gut klar. Wir tun zwar viel, um unserem Haus den Sieg im Hauspokal zu bescheren, aber eigentlich wollen wir lieber die Gemeinschaft fördern, als die Segregation zwischen den Häusern, wir sind schließlich immer noch alle Schüler an derselben Schule. Aber zwischen Gryffindor und Slytherin ist die Feindschaft fast grenzenlos. Wenn sie es könnten, würden sie sich bekämpfen, um Hauspunkte des anderen zu erhalten. Sie hassen sich. Es gab in den letzten zwei Jahren viele Freundschaften zwischen zwei, manchmal sogar drei Häusern, aber keine einzige bestand zwischen einem Gryffindor und einem Slytherin." Richie ließ eine dramatische Pause und fuhr dann fort. „Wegen deiner zweiten Frage. Hufflepuff ist großartig. Wir sind wie eine riesige Familie und eigentlich ist jeder mit jedem befreundet. Naja, mehr oder weniger. Wir arbeiten sehr fleißig, aber helfen einander, keiner lässt den anderen auf der Strecke und deswegen gewinnen wir nicht oft den Hauspokal. Weil es uns wichtiger ist, alle den Schulabschluss zu erreichen, als einem einzelnen Honig um den Mund zu schmieren. Wir sind aber auch nicht perfekt, denk das bloß nicht. In jedem Haus gibt es solche und solche, aber bei uns ist eben die Hilfsbereitschaft fast schon Pflicht, deshalb tun die meisten wenigstens so, als wären sie selbst mit dem Riesenkraken im Schwarzen See ganz dicke."
Eddie erwiderte nichts darauf. Bisher hatte er im Grunde nie daran gezweifelt, dass er wie alle seine Vorgänger, ein Slytherin werden würde, doch Richies Schilderung hatten diese Ansicht ganz nach hinten gerückt. Von Slytherins hatteer eigentlich nichts gehört, dass ihm helfen würde, gute Freundschaften zuschließen. Im Gegenteil, Slytherins waren listig und würden alles tun, um die besten in irgendetwas zu sein. Eddie hatte sich entschlossen, er wollte unbedingt nach Hufflepuff! Ihm war es egal, eine Familientradition fortzusetzen, er wollte einfach nur sieben Jahre unter Freunden verbringen. Apropos Freunde, nachdem Richie ihm soviel erzählt hatte, wollte er es endlich wissen.
Hatte er tatsächlich endlich einen Freund und das im Hogwarts-Express,wo er anfangs versucht hatte, jeglichen Kontakt mit anderen Schülern zu meiden? „Richie, kann ich dich was fragen?" Der blonde Hufflepuff nickte einladend. „Wollen wir Freunde sein?", fragte Eddie und wollte diese Frage sofort zurücknehmen. Die Antwort war klar, er hatte mal wieder - „Sind wir das nicht längst?" „Bitte?" „Wir sitzen jetzt seit Stunden zusammen, essen und reden. Ich hatte gedacht, das wäre völlig klar gewesen, dass wir schon seit Stunden Freunde sind." Das war das Schönste, dass Eddie je gehört hatte. Tränen stiegen ihm in die kindlichen Augen und bevor er darüber nachdachte, war er nach vorne gebeugt und hatte Richie fest umarmt. Der tätschelte ihm den Rücken. „Wow, womit hab ich das denn verdient?", fragte Richie und Eddie schüttete erstmals in seinem Leben jemandem sein Herz aus, der nicht zwanzig Jahre oder mehr älter als er war.
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