Kapitel 9: In der Gruft

Endlich stiess ihr Absatz gegen die untere der beiden Stufen, die zum Tor der Gruft führten.
Der Schatten war nur noch einen Steinwurf von ihr entfernt.
Etwas zu hastig stieg Toccata die Stufen hinauf, verlor dabei beinahe den Halt und fühlte schliesslich die kalte Stahltür an ihrem Rücken ruhen.
Fast schon glaubte sie in dem schwarzen Abgrund den die Figur -sie war nur mehr eine Armlänge von ihr entfernt - darstellte die Züge eines Gesichts zu erkennen, auf dem ein hämisches, überlegenes Lächeln zu liegen schien.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, in ihren Ohren rauschte das Blut mit Getöse. Die Tür hinter ihr bewegte sich keinen Millimeter, so sehr sie sich auch dagegen drückte. Und auch Nathan Crawford liess nichts von sich hören. Hatte er sie doch nur getäuscht? Sie im entscheidenden Moment verlassen?
Der Schatten kam noch näher, wäre er menschlich gewesen, hätte Toccata nun gewiss seinen Atem fühlen können. Ein unangenehmer Geruch nach kalter, feuchter Erde schien von ihm auszugehen.
Das Mädchen bebte am ganzen Leib, konnte kaum noch spielen.
War dies nun ihr Ende? Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier gegen die eisige Metalltür einer noblen Gruft gepresst, panisch an ihrer Musik, ihrem Lebensinhalt festhaltend, obwohl es doch längst zu spät war?
Der Schatten war ihr nun ganz nah. Toccata straffte ihren Körper und setzte zum letzten Akkord an. Wenn sie schon sterben würde, dann aufrecht!
Doch bevor der Schatten sie endgültig erreichen, sie den kalten Armens des Todes oder eines noch schlimmeren Schicksals überantworten konnte, gab es zwischen ihnen einen Lichtblitz, so hell, als sähe man direkt in die Mittagssonne.
Geblendet liess Toccata die Geige fallen und stolperte mit einem Schreckensschrei ins Innere der Gruft, als die Tür hinter ihr mit einem Mal nachgab und aufschwang. Der Schatten wich seinerseits mit einem unmenschlichen Kreischen zurück, als bereite ihm das helle Licht Todesqualen.

Mit einem lauten, hallenden Donnerschlag fiel die Tür von Geisterhand zurück ins Schloss. Vor Toccatas Augen tanzten noch immer bläulich-weisse Funken und ihr Atem ging rasselnd, doch noch konnte sie sich nicht ausruhen.
Mit fahrigen Bewegungen entzündete sie hastig jede Kerze, jedes Lichtlein, das sie in dem kleinen Raum finden konnte an dem kleinen Grablicht, das vor Nathan Crawfords Grabplatte stand und tauchte die Gruft in ein warmes, willkommenes Dämmerlicht.
Sie zog ihren feuchten und von der Kälte steifen Mantel dichter um sich, während sie sich gegen die kalten Alabasterplatten lehnte und erschöpft daran zu Boden sank, die klammen Hände noch immer um das Glas mit dem kleinen Grablicht geklammert.
Dieser Lichtblitz... war das Mr. Crawford gewesen? Toccata hatte gar nicht gewusst, dass Geister solche Dinge konnten. Es musste ihn unglaublich viel Energie gekostet haben.
„Danke...", flüsterte sie dem Grablicht mit dem Marienbild in ihren Händen entgegen und hoffte, dass Mr. Crawford sie hörte. Nur dank ihm war sie nun sicher.
Das sollte ihr eine Lehre sein, beim nächsten Mal auf eine gut gemeinte Warnung zu hören und besser auf der Hut zu sein!

Umgeben vom goldenen Schein der Grabeskerzen beruhigten sich ihr rasendes Herz und ihr flacher Atem endlich wieder. In der Sicherheit des Lichtes liess sie sich ohne weitere Gegenwehr von der bleiernen Erschöpfung übermannen.
Sie war schon fast eingeschlafen, als ein kalter, nach feuchter Erde riechender Lufthauch die Kerzen löschte und die Schatten sie umfingen.

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