Kapitel 6: Etwas im Schatten

Sie schloss einen Moment lang die Augen, gerade lange genug um den aufgeregten Rhythmus ihres Herzens wieder zur Ruhe kommen zu lassen.
Der Nebel um sie herum wurde mit jedem Herzschlag dichter und dichter.
Toccata war dankbar für Mr Crawfords andauerndes Schweigen, das machte es bei weitem leichter, ihn zu ignorieren und sich auf die Rhapsodia zu konzentrieren.
Als Toccata die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Birkengruppe, durch die sie früher an diesem Abend gelaufen war.
Dort, auf den weiss schimmernden Stämmen der jungen Bäume lag ein Schatten, der zuvor nicht da gewesen war. Es war der Umriss eines schlanken Mannes mit Gehrock und vornehmem Zylinder, doch es gab niemanden, der diesen Schatten warf. Toccata war in dieser Nacht die einzige lebende Menschenseele auf dem Holywell Friedhof und Geister warfen keine Schatten.
Im nächsten Moment, beim nächsten Blick war der seltsame Schatten verschwunden.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus und der langgezogene Ton der Geige erstarb in einer ganzen Pause.
Der nächste Ton, den Toccata anspielte, war zittrig wie Herbstlaub im Wind. Hatte sie sich die Silhouette bloss eingebildet oder sollte Mr. Crawford etwa doch recht gehabt haben?
Sie atmete tief durch, während sie den Kopf schüttelte und versuchte, wieder etwas ruhiger, sicherer zu spielen. Das konnte nicht sein. Schatten wanderten schliesslich nicht einfach körperlos herum. Sicher, sie hatte schon so einiges gesehen, das die meisten Leute als unmöglich bezeichnen würden, aber das? Nein, das war nun wirklich ausgemachter Blödsinn.

Der Nebel um Toccata wurde immer dichter, schon verschwand der gedrungene Turm der St. Cross Church ganz und gar darin und die Baumkronen waren nicht mehr als dunkle, weiche Umrisse.
Toccata schauderte, während sie sich unangenehm bewusst wurde, wie die Feuchtigkeit des Schnees durch ihre Schuhe und Strümpfe drang und sie spürte, wie die Novemberkälte mit klammen Fingern ihre Beine hinauf kroch.
Vielleicht, sagte eine kleine, lästige Stimme irgendwo weit hinten in ihren Gedanken, vielleicht war doch etwas nicht in Ordnung...
Toccata war hin- und hergerissen, wollte einerseits die Augen schliessen, sich ganz der Musik und dem ihr eigenen Gefühl von Sicherheit und Trost hingeben und so die klamme Kälte unter ihrem Rock vergessen, andererseits jedoch wagte sie kaum zu blinzeln, als erwartete sie, mit einem mal den grässlichen, schwarzen Schlund eines gewaltigen schattenhaften Monsters, das sie verschlingen wollte, vor sich zu sehen, wenn sie nur einen Moment lang unaufmerksam wäre.

Da!
War da zwischen den Gräbern nicht gerade eben wieder ein körperloser Schatten gewesen?
Ängstlich sah sie sich um, das Geigenspiel hastig und verzweifelt, doch sie traute sich nicht, einfach aufzuhören, als wäre die Rhapsodia ein Schutzschild gegen das, was dort in den Schatten harrte, was auch immer er sein mochte.
In all den Jahren, die Toccata ihren Vater bei seinen nächtlichen Konzerten begleitet hatte, hatte sie so etwas noch nie gesehen, noch hatte sie in den Erzählungen ihres Vaters davon gehört. Natürlich gab es Geister, die ihnen nicht wohlgesonnen waren, zuweilen sogar derart aggressiv wurden, dass ihr Vater das Spiel abbrechen musste, doch diese Erscheinung war gänzlich anders. Vielleicht war der Schatten gar kein Geist?
Er schien nicht aggressiv zu sein, Toccata war beinahe geneigt, das Verhalten des Schattens eher als neugierig, ja, fast schon schüchtern zu beschrieben, wäre da nicht diese Atmosphäre des Unheilvollen, Bedrohlichen gewesen. Etwas an ihm schnürte dem Mädchen die Kehle zu, ohne dass sie recht zu sagen vermochte, was es denn war.


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