Kapitel 5: Nathans Warnung
Endlich richtete Toccata selbst das Wort an ihr Gegenüber: „Sie sagten etwas von einer Bitte. Was also kann ich für Sie tun?", fragte sie leise, während sie sich unbewusst im Takt der Rhapsodia wiegte.
„Sie ahnen es bereits, ich möchte, dass Sie ihm eine letzte Nachricht überbringen."
In der Tat hatte Toccata dies bereits vermutet. Sie seufzte. Das war es immer, worum Geister baten: Letzte Nachrichten an ihre Hinterbliebenen.
„Spotten Sie nicht, Miss Toccata." Nathan Crawfords Worte hallten streng und tadelnd durch ihren Kopf. „Was vermöchte uns in der kalten Umklammerung des Sensenmannes besser zu wärmen, als der Gedanke an unsere Lieben? Es ist alles, was uns noch bleibt."
„Schon gut, schon gut!" Toccata verdrehte die Augen. „Also, was soll ich ihm sagen?"
Auf Mr. Crawfords Gesicht trat der Ausdruck tiefen Bedauerns. „Ich fürchte, ich habe ihn allzu oft nur für seinen Eigensinn getadelt und dabei versäumt, ihm zu verstehen zu geben, dass ich dennoch stolz auf ihn bin. Ich möchte, dass er das weiss."
Toccata seufzte. Diese Art von Geschichte hatte sie bereits dutzende Male gehört. Aber was half es?
„Und noch etwas, Miss. Gehen Sie rasch und meiden Sie die Schatten."
Das war neu, Geister hatten es sonst eigentlich selten eilig.
„Ich gehe, sobald ich mein Spiel beendet habe", versicherte Toccata ihm, während sie der Geige weitere bittersüsse Klänge entlockte.
„Dann könnte es bereits zu spät sein. Ich bitte Sie, gehen Sie sofort, um Ihrer selbst Willen."
Nathan Crawfords eindringlicher Ton verunsicherte Toccata, sodass sie sich beinahe verspielt hätte.
„Warum?" Sie hatte ihrem Vater versprochen, dass sie herkommen und spielen würde und sie gedachte nicht, dieses Versprechen zu brechen, nur als Botin für einen verstorbenen reichen Schnösel fungieren zu können.
„Weil dort etwas in den Schatten ist."
Toccata verdrehte die Augen ein zweites Mal. Etwas. Zu einer noch ungenaueren Beschreibung war Mr. Crawford wohl nicht fähig.
„Ich wünschte, ich könnte mich in dieser Sache präziser ausdrücken", Toccata glaubte, einen Hauch gut verborgenen Sarkasmus' in seinen Worten zu entdecken, „aber ich weiss nicht, was es ist, das dort im Dunkeln lauert. Ich weiss nur, dass es Ihnen gefährlich werden kann, ich fühle es. Vielleicht ist es selbst für mich gefährlich und ich bin immerhin tot."
Was vermochte wohl einen Toten noch zu erschrecken? Alles, was die Verstorbenen noch zu fürchten hatten, waren die ewigen Qualen der Hölle oder die läuternden Flammen des Fegefeuers. Dinge, die Toccata, einer Lebenden, nicht gefährlich werden konnten.
Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich schlug der Tod dem alten Mann auf's Gemüt, so dass er sich einen makabren Scherz mit ihr erlaubte. Geister besassen - genau wie Lebende - einen zuweilen recht eigentümlichen Humor.
Fasane und Füchse, sagte Toccata sich, mehr verbarg die Dunkelheit nicht.
„Ich versichere Ihnen, es ist kein Scherz, Miss Toccata. Kommen Sie in einer anderen Nacht wieder, um Ihr Versprechen zu erfüllen, aber lassen Sie's für heute gut sein und gehen Sie." Der Blick auf Mr Crawfords Gesicht wirkte ehrlich besorgt. Wer hätte gedacht, dass er solch einen guten Schauspieler abgab?
„Genug!" Der Geigenbogen tanzte in flottem Stakkatissimo über die Saiten, als Toccata ihn unterbrach. Das war doch lächerlich. „Ich weiss nicht, ob Sie es komisch finden, jemandem Angst einzujagen, aber ich versichere Ihnen, es funktioniert nicht." Nebel zog auf und mit ihm schwoll die Rhapsodia zu einem wütenden, gefährlichen Brummen an, dessen Tonlage beständig höher wurde. „Dort ist nichts in der Dunkelheit, ich habe nichts zu befürchten und ich will kein Wort mehr darüber hören!"
„Aber..."
„Kein Aber. Es ist genug!" Die Wut färbte Toccatas Wangen rot und liess sie die beissende Kälte beinahe vergessen. Warum sah er denn nicht einfach ein, dass er ihr mit vagen Schauergeschichten und dem ständigen Wiederholen der Aufforderung zu gehen keine Angst machen konnte? Warum machte er sich mit diesem kindischen Spielchen überhaupt dermassen lächerlich? Nathan Crawford sah gewiss nicht wie jemand aus, der im Leben als grosser Scherzkeks bekannt gewesen war.
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