Kapitel 3: Präludium
Sie setzte die Geige an, überlegte einen Moment, was sie spielen sollte und stimmte dann eine irische Jig an.
Jeder Takt der Melodie liess den Geigenkörper sanft erzittern, Toccata fühlte jede Note in ihren Fingern, die zunächst langsam, dann immer schneller und lebhafter über die Saiten tanzten. Mit jedem Ton schien der Klang der Geige reiner zu werden, als wäre sie nicht verstimmt, sondern nur nicht mehr daran gewöhnt, gespielt zu werden.
Toccata hatte Mühe, die Füsse still zu halten und obwohl sie die Augen geschlossen hatte, um sich ganz der Musik hinzugeben, sich nur auf sie zu konzentrieren, sagte ihr irgendetwas, dass es ihrem Zuhörer nicht anders ging. Diese Musik war geschrieben worden, um dazu zu tanzen und jeder Ton, jeder Takt drängt sie dazu, genau dies zu tun.
Als sie schliesslich endete und die Augen öffnete, fand sie, dass Mr. Crawford das Bedürfnis danach, zu tanzen wohl genauso erfolgreich unterdrückt hatte, wie sie selbst; wie aus Stein gemeisselt stand er lauschend da, beide Hände auf den silbernen Knauf seines Gehstocks gelegt und ebenfalls mit geschlossenen Augen.
„Wie ich's mir dachte", sagte er nach einem Moment tiefer Stille. „Sie spielen ganz wunderbar, Miss."
Toccata war fast sicher, dass Mr. Crawford über das musikalische Verständnis eines Regenschirms verfügte. Sicher, die Darbietung war stetig besser geworden, aber sie war doch zittrig, unsauber und weit entfernt von „ganz wunderbar" gewesen.
Mr. Crawford zog seine Brieftasche hervor und zählte 12 Schilling heraus, die er Toccata reichte.
„Das ist doch viel zu viel für so eine Vorführung!", protestierte sie.
„Ich bestehe darauf", gab Mr. Crawford beschwingt zurück. „Sie spielen mit Leidenschaft, das ist mehr wert, als Sie vielleicht denken. Und Sie können das Geld sicherlich gut gebrauchen."
Dann kramte er eine kleine, kupferfarbene Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen Blick darauf.
„Ach herrje, sehen Sie nur, wie lange ich Sie aufgehalten habe. Es tut mir schrecklich leid, Miss. Ich fürchte fast, Ihr Herr Vater wird sich heute mit einem kurzen Ständchen begnügen müssen oder Sie werden sich hier draussen in der Kälte noch den Tod holen." Er steckte die Uhr wieder ein. „Und ich sollte mich wohl auch beeilen, wenn ich noch einigermassen rechtzeitig zum Abendessen nach Hause kommen will."
„Also dann... leben Sie wohl", sagte Toccata, die Münzen immer noch in der Hand haltend. Etwas Redegewandteres wollte ihr einfach nicht einfallen.
„Auf Wiedersehen, Miss."
Mit diesen Worten zog Mr. Crawford seinen Hut, eilte davon und liess Toccata allein auf dem Gottesacker zurück.
Sie sah sich um. Der Mond war mittlerweile als dünne Sichel im Osten aufgegangen und schickte sein spärliches Licht durch die Wolken und das dichte Geäst der Eiben und Birken, die einen Grossteil des Friedhofs vor allzu neugierigen Blicken von der Strasse abschirmten. Hier und da schimmerten schwach Grablichter durch das Dunkel.
Vielleicht hätte sie doch eine Laterne mitbringen sollen; die Schatten um sie herum waren tief und bedrohlich, als würde etwas, das Toccata nicht zu begreifen vermochte, in ihnen lauern.
Ein Schauer schüttelte das Mädchen und sie tat einen tiefen Atemzug.
Toccata schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich. In diesen Schatten gab es nichts, wovor sie sich zu fürchten hatte, höchstens ein paar schlafende Fasane und vielleicht einen Fuchs, der die Scheu vor den Menschen so weit verloren hatte, dass er sich derart nah an die Stadt heran wagte.
Sie lauschte in die Dunkelheit und ihr war, als könnte sie das leise Knistern des Frostes hören, der sich langsam ausbreitete und Blätter, Zweige und Gräser mit einem feinen Rand aus Silberfiligran versah.
Sonst regte sich nichts im Unterholz und sogar der kalte, schneidende Wind raschelte nur noch ganz leise in den Wipfeln der alten Bäume. Es war, als würde die Welt darauf warten, dass ihre Vorstellung begann.
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