23

Aylana

Ich schlief.

Aufwachen konnte ich nicht, aber dafür waren meine Sinne zehnmal besser als gewöhnlich.

Ich roch einen Hauch frisch gemähtes Gras und den Duft nach neuen Büchern.

Bildlich stellte ich mir vor, wie ich ein Buch von meiner Urgroßmutter geschenkt bekomme und begeistert an dem Papier schnupperte.

Wenn du abkratzt, hat es keinen Sinn mehr bisheriges weiterzuführen. Die Gesellschaft braucht dich mehr als du denkst.

Die Stimme ließ mich aufhorchen.
Ich kannte sie doch ?

So schnell wie sie sprach, verstummte sie auch schon wieder.
Ich bettelte still, dass sie weitersprechen sollte, aber sie kam meinem Wunsch nicht nach.

Die sanften, tiefen Töne kannte ich wie meine Westentasche und dennoch konnte ich sie nicht zuordnen.
Wenn ich sie nur noch einmal hören könnte…

Wir brauchen dich.

Da war sie wieder, aber von was sprach sie ? Wer brauchte mich ?
Ich schlief doch, wie soll ich da jemandem meine Hilfe anbieten ? Sag es mir Stimme.

Und ich brauche dich erst Recht, auch wenn es nicht immer den Anschein hatte.

Du ? Aber wer bist du ?

Ich fühle mich komisch.
Als ob ich fallen würde, dabei liege ich doch.

Ich bewegte mich nicht, sprach und sah nicht, aber vernahm eine Präsenz neben mir.

Es tut mir leid, dich mit ihm alleine gelassen zu haben.

Wen meinst du neue Stimme ?

Ich versuchte meine Augen zu öffnen, aber ich schaffte es nicht, egal wie sehr ich mich anstrengte. Ich wollte meinen Mund öffnen und die Stimmen beruhigen, aber ich konnte es nicht. Ich blieb weiterhin stumm, brachte kein Wort heraus. Langsam drang ein Rauschen in mein linkes Ohr.

Auf einmal bemerkte ich einen festen Untergrund unter meinen Füßen und konnte auch meine Augen wieder öffnen. Weißer Strand, drei vereinzelte Palmen und ein türkisfarbenes Meer erstreckten sich soweit das Auge reicht. Begeistert lief ich auf das Wasser zu. Kleine Fische schwammen darin.

„Du musst zurück“.

Verwirrt drehte ich mich um die eigene Achse. Wohin zurück ?

„In dein Leben“.

Ich wollte hier aber nicht weg. Es war so schön friedlich hier.

„Man wird dich missen. Geh zurück“.

Nein ! Hör auf mich zu zwingen.

Die befehlshaberische Stimme verstummte augenblicklich und der Himmel trübte nach und nach ins Graue über. Was war hier los ?

„Schnell, bevor es endgültig zuende ist“.

Panisch stand ich auf, wohin sollte ich gehen ? Das Grau des Himmels geht in das Blau des Wassers über und tauchte alles in eine triste, farbenlose Einöde.

Vertraue deinem Instinkt“.

Und plötzlich wurde alles um mich herum in grelles, weißes Licht getaucht.
 



Das erste was ich spürte waren meine schmerzenden Augenlider. Wie von selbst öffneten sie sich einen Spalt und legten meine Umgebung frei, welche ich noch sehr verschwommen wahrnahm. Also blinzelte und wiederholte ich diesen Vorgang noch einige Male, bis ich relativ scharf sah.

Das erste was ich sah war eine Wand, an der ein leeres Regal hing. Wo bin ich ? Mein Hals kratzte schrecklich und ich hustete reflexartig.

„Du bist wach“.

Verschreckt blickte ich um mich und hatte nach zwei Sekunden Nolan vor mir. Er umarmte mich stürmisch und ich hielt überfordert die Luft an, um ihn nicht von mir zu stoßen. Als er mich nach einiger Zeit immer noch nicht losließ räusperte ich mich. Er nahm minimalen Abstand ein, seine Hände hielten mich nach wie vor fest. Das Kribbeln in meinem Bauch ignorierend sah ich ihn fragend an, weil ich mir nicht sicher war, ob ich schon sprechen konnte.

„Ich hatte große Angst dich verloren zu haben“, murmelte er und sah mich aus sorgevollen Augen an. „Was ist passiert“, fragte ich leise und mit einer belegten Zunge. „Marin hat deine Behandlung unterschätzt. Du wärst dabei fast gestorben“.

Perplex sah ich ihn an: „Die Stimme. Das warst du ?“. Verwirrt sah er mich an: „Was ? Welche Stimme ?“. „Die, die mir gesagt hat ich soll zurückkommen bevor es zu spät ist“. Er schüttelte den Kopf: „Das war ich nicht“.

Fast schon unsicher tastete er sich an meine Hand heran und ergriff diese dann. Seine Körpertemperatur entspannte meine steifen Knochen und Gelenke. Ich betrachtete unsere Hände. Meine passte nahezu perfekt in seine und verursachte kein unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil, sie entfachten ein Feuer tief in mir, das nach mehr schrie.

Fragend, vermutlich bat er um Erlaubnis, sah mich Nolan an und ich drückte seine Hand kurz, um ihm zu zeigen, dass alles okay war.

„Wie lange habe ich geschlafen ?“.
Er rechnete kurz nach: „Knappe zwei Tage“. Ich ließ die Antwort erstmal auf mich einwirken, das war noch akzeptabel und wenn wir schnellstmöglich die restlichen Dinge auf der Liste von der weißen Beere besorgen, dann könnte ich vor meinen Eltern behaupten, dass ich mit Calev einen Ausflug unternommen habe. Vielleicht sind sie dann nicht so streng bei der Strafe, weil ich ihnen nicht Bescheid gesagt habe, dass ich weggehe. Ich gebe zu, ich vermisste sogar Marley ein bisschen.

„Brauchst du irgendetwas ?“, fragte Nolan unsicher, als ich zu lange in meinen Gedanken verharrte. „Nein, danke. Mir geht es gut“. Er seufzte und beugte sich in meine Richtung, um mir eine lästige Strähne aus dem Gesicht zu entfernen.

Aufmerksam beobachtete ich ihn dabei und musste lächeln, als er es ebenfalls tat. „Du weißt gar nicht wie große Sorgen ich mir um dich gemacht habe“.
„Weiß ich nicht“, bestätigte ich, „aber ich sehe es dir an“.

Seine Hand rutschte an meine Wange und sein Körper lehnte sich noch weiter vor. Unsere Nasenspitzen waren auf einer Höhe, beinahe sah ich seine nicht mehr ohne schielen zu müssen. Seine Augen suchten nach meinen und fesselten sie, sodass sie nicht mehr wegsehen konnten.

„Aylana“, flüsterte er undeutlich und sah auf meine Lippen. Dabei traf mich sein warmer Atem und vernebelte alle Sinne.

„Ich würde gerne…“, begann er wieder, brach aber ab und sah mir wieder in die Augen. Seine braun-grüne Iris war dunkler als sonst und in seinem Blick lag so viel Zuneigung, dass mir schwindelig wurde.

„Dann tu es“, antwortete ich ebenso leise und streifte beim Sprechen seine Lippen minimal. Wie auf ein Zeichen schloss er seine Augen und überbrückte den letzten Abstand zwischen uns.
 

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