08 - Die Rettung vor dem Wolf

Der angesprochene Junge drehte sich taumelnd zu meinem Retter herum und ließ mich für einen Moment aus den Augen. Ich nutze diese Sekunden und krabbelte vorsichtig weiter in den Schutz des Baumes hinein.

"Harry, hast du mich vielleicht erschreckt", lallte der Blonde und schlug Cloves Freund kräftig gegen die Schulter. Dabei grinste er albern, was auf mich wie das Zähnefletschen eines hungrigen Wolfes, auf der Suche nach seiner nächsten Beute, wirkte. "Sieh dir die Kleine doch einmal an. Ist sie nicht ein heißer Feger? Mit der kann man bestimmt viel Spaß haben."

Dabei wollte er auf mich deuten, doch ich war nicht mehr an der vorherigen Stelle. Er drehte sich verwirrt im Kreis, als er mich nicht mehr erblickte. Es sehe fast lustig aus, wenn die Situation nicht so brenzlich für mich wäre.

Harry blickte ihn nur abschätzig an, während er ihm eine Hand auf den Oberarm legte. "Geh ins Bett Niall und schlafe dich aus. Das ist doch nicht zum Aushalten, wie du dich gerade verhältst. Sonst bist du doch auch nicht so."

Wider meiner Erwartungen trat besagter Niall tatsächlich den Rückzug an. Mit hängenden Schulter, jedoch weiterhin vor sich hin fluchend, trottete er über die Wiese. Nun wirkte er wie ein geschlagener Wolf, während Harry, sein Besieger, ihm hinterher blickte.

"Niall", rief der brünette Junge dem Blonden zu und deutete in die entgegengesetzte Richtung, in welche dieser gelaufen war. "Zu den Schlafräumen geht es da entlang."

Ich hörte den Blonden noch ein lautes 'Mistkerl' antworten, bevor er völlig in der Dunkelheit verschwand.

"Scheiß Alkohol", murmelte Harry leise und ich wollte ihm schon meine Zustimmung bekunden, als ich mich erinnerte, dass ich mich in meinem kleinen Versteck befand.

Ich kauerte weiterhin unter dem Baum und hatte mit den Armen meine angewinkelten Beine umklammert. Mein Kinn hatte ich auf den Knien abgelegt. Mein Blick war starr in die weite Ferne gerichtet.

Ich sah bedauernswert aus, so wie ich da saß.

"Du kannst unter dem Baum hervorkommen. Er ist weg", schreckte mich die tiefe Stimme des hinterbliebenen Jungen aus meiner Schockstarre.

Während ich darüber nachdachte, ob ich ihm vertrauen könnte, streckte er mir auch schon eine Hand entgegen. Ich nahm sie nicht an, denn ich scheute mich vor dem engen Kontakt.

Bevor er mich, entgegen meines Willens, ergreifen konnte, schlüpfte ich daher selbst aus meinem Versteck hervor und glättete mir nervös mein Nachthemd. Mein Blick huschte umher und scannte die Umgebung nach möglichen Gefahren ab, doch weit und breit war nichts zu entdecken. Alles wirkte ruhig.

Ich sah dem Jungen nicht in das Gesicht, sondern fixierte seine Schuhspitzen. Anhand von diesen konnte man sagen, dass er Geschmack hatte. Es waren keine billigen Schuhe, dies verriet sowohl das Logo an der Seite, als auch die hochwertige Verarbeitung.

Wie ich mir auch schon zuvor gedacht hatte, musste der Junge aus einer wohlhabenden Familie stammen. Ansonsten wäre er vermutlich auch nicht in die Einführungswoche dieser Universität eingeladen worden.

"Ist alles in Ordnung bei dir?"

Ich gab ihm keine Antwort, sondern nickte lediglich kurz mit dem Kopf, welchen ich weiterhin gesenkt hielt.

"Du siehst aber nicht so aus, als würde es dir gut gehen", sagte der Junge prompt. Ich konnte seine Mimik nicht erkennen, doch er klang grundlos besorgt.

"Mir geht es aber gut", flüsterte ich leise, wobei ich mir sicher war, dass er mich nicht verstehen konnte. Ich wurde jedoch erneut in meinen eigenen Erwartungen getäuscht.

"Ich denke nicht, dass du dich gut fühlst. Wenn doch, dann entschuldige ich mich bei dir, doch du siehst traurig aus. Du kannst es mir sagen, ich höre dir zu, wenn du das möchtest."

Von kindlichem Trotz erfüllt hob ich meinen Kopf an und sah ihm in sein Gesicht. In seine Augen zu blicken traute ich mich noch nicht, doch es war dennoch eine Überwindung für mich.

"Bitte höre damit auf. Ich habe gesagt, dass es mir gut geht und dies würde ich auch noch beteuern, wenn du mich dies an meinem Sterbebett fragen würdest. Ich habe keinen Grund dazu unglücklich zu sein", sagte ich leise, aber deutlich und verschränkte aufgeregt meine Hände miteinander.

Ich fühlte mich unwohl den Jungen so direkt anzusprechen, obwohl er sich mir noch nicht einmal vorgestellt hatte. Laut meiner Mutter gehörte sich dies nicht. Ich sollte einen Fremden nicht so vertraut anreden, doch das Wichtigste war, dass ich niemals meine Trauer zu Tage legen sollte.

Ich müsste mich nicht angreifbarer und schwächer machen, als ich es sowieso schon war, sagte Mutter immer. Mir geht es also gut. Mir darf es nicht schlecht gehen. Ich bin glücklich und der Blonde hatte mir nicht weh getan, also ging es mir gut.

"Das ist in Ordnung und ich akzeptiere es, wenn du nicht mit mir, einem Fremden, über deine Gedanken und Gefühle sprechen möchtest", überhörte der Junge meine Aussage, dass es mir sehr wohl gut ginge und setzte sich auf den Rasen.

Während er mich abwartend, und ich ihn ängstlich, ansah, deutete er auf die Fläche neben sich. "Setzte dich doch, dann können wir uns noch etwas unterhalten."

Mir sagte die Vorstellung nicht zu, alleine neben dem jungen Mann in der Dunkelheit zu sitzen. Wer weiß schon, was seine Vorstellungen von einer Unterhaltung waren? Vielleicht endeten sie mit dem, was der Blonde vor wenigen Minuten mit mir anfangen wollte.

Der Junge lächelte mir jedoch so freundlich zu, dass ich nicht anders konnte, als mich neben ihn in das kühle und weiche Gras sinken zu lassen. Ich war müde und erschöpft und konnte eine kurze Erholung gut gebrauchen, bevor ich in mein Zimmer zurückkehrte, in dem Clove, vermutlich wütend darüber, dass ich ihr etwas Spaß genommen hatte, auf mich warten würde.

"Also, du bist Rêverie, oder?", fragte der Junge nach einer kurzen Pause sachlich. Sein Tonfall zeigte mir, dass er die Antwort bereits kannte. Ich war jedoch zu höflich, um ihn darauf hinzuweisen und antwortete daher mit einem schlichten 'Ja'.

"Schön dich kennen zu lernen. Ich heiße Harry Styles."

Ich sah getrost über seine, zur Begrüßung, ausgestreckte Hand hinweg. Ich kannte diese Geste zwar, doch in der Dunkelheit, weit nach Mitternacht und alleine mit einem fremden Mann von ihr Gebrauch zu machen, erschien mir suspekt.

Die französischen Küsschen auf die Wangen schieden ebenfalls aus, weshalb ich lediglich seine Worte leise wiederholte. "Harry", murmelte ich daher, langgezogen und in französischer Aussprache, vor mich hin.

Der Angesprochene lachte kurz auf und hielt sich anschließend sofort die Hand vor den Mund. "Oh, es tut mir leid. Siehe bitte nicht wieder zu Boden. Es ist nur so, dass deine Aussprache, von meinem Namen, sehr besonders klingt, aber auf eine positive Weise. Kommst du aus Frankreich?"

"Oui. Je viens de la région parisienne", erlaubte ich mir einen kleinen Spaß, denn ich fand die Unterstellung unerhört, dass ich so oft zu Boden blicken würde. Mir war nicht bewusst, dass ich es tatsächlich erneut getan hatte. Nun wartete ich erfreut auf das fragende Gesicht des Jungen, doch es kam nicht.

"Paris est une ville magnifique. J'admire ton anglais, mais ta prononciation française est bien. Beaucoup mieux que le mien."

Verwundert schüttelte ich den Kopf. Es stimmte zwar, dass Paris eine tolle Stadt war, doch mein Englisch würde niemals bewundernswert sein. Auch die Aussage, dass sein Französisch nicht sonderlich gut war, widersprach meinen Ansichten.

Ich hätte von dem Jungen nicht erwartet, dass er meine Muttersprache beherrschte. Ich dachte, dass Französisch in England so oder so nicht sehr weit verbreitet war, doch vielleicht hatte ich eine Ausnahme gegenüber von mir sitzen.

Außerdem harmonierte seine tiefe Stimme wunderbar mit dem Schwung, den er in seine Aussprache hinein brachte.

"Ohh doch, ich denke, dass dein Französisch gut klingt", machte ich Harry schüchternd ein Kompliment und lächelte ihn dabei schwach an.

"Vielen Dank, Rêverie. Habe ich dir übrigens schon gesagt, dass dies ein wunderschöner Name ist? Es bedeutet Träumerei, oder? Verrätst du mir die Geschichte dahinter?", fragte mich der Brünette und erwiderte mein Lächeln leicht.

Er wirkte nett. Er unterhielt sich mit mir, als wäre ich ein ganz normales Mädchen und keines, welches verrückt im Kopf war. Dennoch wollte ich ihm nicht mein größtes Geheimnis anvertrauen. So etwas sagt man keinem Fremden, mit dem man bisher erst wenige Sätze gewechselt hatte.

Ich sollte ihm meine Probleme nicht aufdrängen, denn sonst müsste ich ganz zu Beginn meiner gesamten Geschichte anfangen. Ich wollte es nicht. Er würde entweder Mitleid mit mir haben, oder vor mir davon laufen. Ich konnte auf Mitleid verzichten und ich wollte eines meiner ersten normalen Gespräche, mit einem Jungen, nicht so enden lassen.

"Es gibt keine Geschichte. Meiner Mutter hat der Name einfach gefallen", log ich daher und senkte meinen Blick erneut, ohne dass ich es bemerkte. Er würde sonst erkennen, dass ich ihn anlog und dies würde ihn zu noch mehr Fragen verleiten, somit blieb es die einzige Möglichkeit, auch wenn ich dadurch erneut schwach wirken würde.

"Achso", sagte er schlicht und wir verfielen in ein kurzes Schweigen, bis Harry erneut das Wort ergriff: "Wieso schaust du so oft zu Boden und nie in meine Augen? Hast du Angst vor mir?"

"Ich weiß es nicht", antwortete ich dieses Mal ehrlich. "Ich habe gerade keine Angst vor dir. Ich glaube nicht, dass du so etwas mit mir vorhast, wie der Junge vorhin, sonst hättest du es schon längst getan."

Harry lachte leise, wobei sich seine Schultern langsam hoben und wieder senkten. Seine Silhouette wurde sanft von dem Mondschein beleuchtet und erstmals sah ich ihm in die Augen.

Es war eine wundervolle Farbe, so grün, wie die eines Smaragdes. Einerseits sahen sie mich voller Wärme und Sanftheit an, doch andererseits lag auch eine gewisse Trauer und Hoffnungslosigkeit in ihnen, die mich zum Nachdenken brachten.

Wovor hatte ich Angst?

Ich wusste es nicht. Ich konnte diese einfache Frage nicht beantworten, denn ich hatte schon vor vielen Jahren den Überblick über all meine Ängste verloren. Es waren zu viele, als dass ich mir jeden einzelnen von ihnen merken könnte.

"Ist es Clove? Du musst wissen, dass sie eigentlich nicht so ist, wie sie sich zur Zeit gibt. Sie ist sehr empfindlich, wenn es um ihre Schwester geht und ich möchte mich aufrichtig für sie entschuldigen."

"Nein, es liegt nicht an Clove. Ich kann verstehen, dass sie traurig ist und ich verzeihe ihr, auch wenn wir nicht den besten Start miteinander hatten. Falls wir beide aufgenommen werden, müssen wir viele Jahre gemeinsam verbringen und ich möchte nicht, dass wir uns streiten. Es würde mir zu viel Kraft rauben, die ich anders investieren muss", sagte ich und zuckte mit den Schultern.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich weiterhin nur mein dünnes Nachthemd trug und ich begann zu frösteln.

"Das ist eine sehr reife Entscheidung. Deine Eltern wären bestimmt stolz, wenn sie sehen würden, wie du mit der Situation umgehst", sagte der Brünette und auch wenn ich wusste, dass er es nur nett meinte, froren meine Gliedmaßen bei seinen Worten ein.

"Bestimmt", murmelte ich leise. "Wir sollten wieder nach drinnen gehen. Mir ist kalt und Clove fragt sich vermutlich schon, wo du bleibst."

Beinahe hätte ich ihm gesagt, dass sie ihre Beschäftigung noch fortführen müssten, doch dies erschien mir doch etwas zu gemein. Schließlich hatte er mir nicht direkt etwas getan und er konnte nicht wissen, wie sensibel ich auf meine Eltern reagierte.

"Ist alles in Ordnung?", fragte Harry mich und man sah ihm seine Verwirrung deutlich in das Gesicht geschrieben. "Habe ich etwas falsches gesagt?"

"Nein hast du nicht. Mir ist einfach nur kalt", erwiderte ich schulterzuckend und stand langsam auf.

Ich wartete nicht mehr darauf, ob Harry mir dies gleich tat, doch ich hörte seine Bewegungen dicht hinter mir, als ich auf den steinigen Weg einbog.

Er folgte mir nicht in das Zimmer von mir und Clove, sondern ging in sein eigenes.

Mir tat es leid, dass ich ihn so harsch verabschiedet hatte, doch seine letzten Worte mir gegenüber würde ich nicht vergessen. Ich hatte mich zwar nicht herumgedreht oder ihm überhaupt einen Blick gewürdigt, denn die Aussage zu meinen Eltern hatte mich stark verletzt und mir erneut aufgezeigt, was ich nicht hatte, nämlich eine glückliche Familie.

Dennoch spukten diese einfachen Silben nun in meinem Kopf herum und veranlassten, dass ich auch die restliche Nacht kein Auge zu bekam.

"Schlaf gut, Rêverie. Es freut mich, dass ich dich kennengelernt habe."

***

Hier seht ihr ein wunderschönes Cover von wantahoran Ich danke dir so sehr dafür! ❤

Es ist einfach toll geworden.

Dazu möchte ich noch sagen, dass ich wirklich nicht sonderlich talentiert in der Französischen Sprache bin und nicht weiß, ob die Sätze für einen Muttersprachler überhaupt Sinn ergeben. Falls hier einer ist, kann er mich dies ruhig wissen lassen. :)

Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.

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