02 - Alles war perfekt
- Im Alter von 17 Jahren-
Schlaftrunken rieb ich mir über die Augen und öffnete sie anschließend einen Spalt. Das helle Licht trieb mir Tränen in die Augen und ich musste mehrmals blinzeln, bis ich eine vollkommen klare Sicht hatte.
Die Sonne spiegelte sich in dem großen See, vor dem ich stand. Um ihn herum befand sich ein weitläufiger Wald und in der Ferne konnte ich eine kleine Felsbucht entdecken. Die Enten auf dem See schnatterten wild durcheinander, während sich Fische unter der Wasseroberfläche um Algen herumschlängelten.
Der gesamte Platz sah aus, als wäre er von Menschen verschont geblieben. Nirgends war auch nur etwas Müll oder eine abgerissene Blume zu entdecken.
Das Zusammenspiel aus der Natur und den Tieren war so schön, dass es beinahe schon unwirklich erschien. Ich war im Paradies, da war ich mir sicher.
Ich setzte mich in das tiefe Gras, um das Bild, welches sich mir ergab, länger zu genießen. Ich wagte es nicht, näher an den See zu gehen, da ich nichts an dieser Landschaft zerstören wollte.
Das Gras kitzelte meine nackten Beine, während ein sanfter Wind meine dunklen Haare leicht im Wind wehen ließ. Mit einem breiten Lächeln lauschte ich dem Konzert der Vögel und beobachtete belustigt, wie sich ein Marienkäfer seinen Weg über meine Hand bahnte.
Alles war perfekt.
"Hey mein Engel", hörte ich plötzlich die dunkle Stimme meines Freundes hinter mir.
Grinsend stand ich auf, um ihn zu begrüßen.
Korrektur: Jetzt war alles perfekt.
"Hey, Ich habe dich schon vermisst", murmelte ich leise und drückte meine Lippen fordernd auf seine.
Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um auch nur annähernd auf einer Höhe mit ihm zu sein. Zärtlich strich Garçon mit seinen kühlen Fingern über meine Wange. Seine Berührung entfachte ein Feuer in mir. Unsere Lippen bewegten sich im Einklang, während ich meine Hand in seinen blonden Locken vergrub. Ich drückte mich an seinen Körper, um auch die kleinste Lücke zwischen uns zu schließen.
Nach fast einer Woche ohne ihn, legte ich nun all meine Gefühle in diesen Kuss hinein. Er sollte wissen, wie sehr ich seine Nähe vermisst hatte. Wie sehr ich mich nach dem Gefühl seiner Lippen auf meiner gesehnt hatte.
Sachte löste sich Garcon atemlos von mir. Er lächelte mich an, doch irgendetwas in seinem Lachen war anders als sonst. Es wirkte traurig und gezwungen, so als würde er sich vor etwas in naher Zukunft fürchten.
"Ist alles in Ordnung?", fragte ich ihn misstrauisch und verschlang meine Finger mit seinen.
"Es ist alles in Ordnung", antwortete mein Freund und drückte meine Hand. "Ich habe dich auch vermisst, Rêve."
Kichernd zog ich meinen Freund mit mir in das weiche Gras. Den Blick zu dem wolkenfreien Himmel gerichtet, lagen wir nun nebeneinander und beobachteten die Vögel, während Garcon mit seinen Fingern Muster auf meine Hand malte.
"Weißt du, manchmal wünschte ich, dass ich auch ein Vogel wäre", flüsterte ich leise, um die idyllische Stille nicht zu zerstören. "Sie sind so frei und können einfach davonfliegen, wenn sie genug von einem Ort haben. Bei mir ist das nicht so. Jeden Tag aufs Neue muss ich mit der Angst leben, dass meine Mutter ihre Kontrolle verliert. Ich möchte das nicht mehr."
Ich spüre Garçon Blick auf mir, doch ich erwiderte ihn bewusst nicht. Wenn ich nun in seine Augen blicken würde, wäre es um meine Fassung geschehen. Ich wollte nicht erneut vor ihm weinen. Viel zu oft hatte er mich dabei gesehen. Ich wollte ihm beweisen, dass ich auch stark sein konnte und nicht mehr das kleine Mädchen war, welches seinen Ängsten völlig ausgeliefert war.
Ich konnte nicht sagen, wie lange wir so da lagen und stumm die Gegend um uns herum bewunderten. Es kam mir vor wie mehrere Stunden, doch die Sonne am Himmel stand weiterhin auf der selben Position, wie zuvor.
Nichts hatte sich geändert.
Noch nicht.
"Rêverie?", unterbrach Garçon die himmlische Ruhe und setzte sich ruckartig auf. Dabei strich er sich das Gras von seinem schwarzen T-Shirt und pustete sich seine Haare aus dem Gesicht.
"Was ist denn?" fragte ich und schaute zu ihm hoch.
"Ich kann das nicht mehr."
Ein Satz. Wenige Worte. Einige Buchstaben.
Ein Herz, das bricht.
"Was meinst du damit?", flüsterte ich mit zusammengekniffenen Lippen und setzte mich ebenfalls auf. Ich versuchte nach seiner Hand zu greifen, doch er zog sie weg.
Ich folgte meinem Freund, der einige Schritte in Richtung des Wassers ging. Als er sich ruckartig zu mir umdrehte, erschrak ich über seinen unbeteiligten Gesichtsausdruck.
Kälte lag in seinen grauen Augen. "Du hast mich schon verstanden, Ariadne."
Augenblicklich wurde ich wütend. Seit zwölf Jahen hatte er mich nicht mehr bei meinem gehassten Namen genannt, der mir von meiner Mutter gegeben wurde. Es war mir egal was er mir sagen wollte, denn nichts schmerzte mehr. Er wusste genau, dass mich dieser Name verletzten würde und er setzte ihn bewusst als eine Waffe gegen mich ein.
"Nenne mich nicht so", zischte ich und wich einen Schritt von ihm zurück. "Was ist bitte in dich gefahren?"
Wo ist mein Garçon hin, den ich so liebte? Der mir das Gefühl gab ein besonderes Mädchen zu sein und mir jeden Tag aufs Neue bewies, dass er es wert war, für ihn zu leben?
Auch wenn er es noch nicht ausgesprochen hatte, meldete sich mein Unterbewusstsein zu Wort, dass mich an seine Worte vor einigen Wochen erinnerte.
Die Zeit wird kommen, in der ich dich verlassen muss. Dann wirst du niemanden mehr haben, der dich beschützen kann.
Instinktiv spürte ich, dass dieser Moment nun gekommen war.
Es war in Ordnung. Ich hatte mich lange darauf vorbereitet, habe versucht Abstand von ihm zu nehmen. Er hatte mich seltener besucht und ich hatte beschlossen mein Leben auch ohne ihn in den Griff zu bekommen. Garçon hatte mir gezeigt, wie abhängig ich von ihm gewesen war und das wollte ich nicht mehr sein.
Ich wollte niemals wieder in meinem Leben abhängig von einem Jungen sein. Nie.
Dennoch tat es weh, von ihm gestoßen zu werden. Auf solch einen Schmerz im Herzen konnte man sich nicht vorbereiten. Im Gegenteil, je mehr man dies tat, desto größer war schlussendlich die Enttäuschung.
"Dies ist dein Name, Ariadne. Wieso sollte ich dich also nicht so nennen?", sagte Garçon ungerührt und zuckte mit den Schultern.
"Sag nichts, was du später bereuen wirst. Ich weiß genau, dass du all dies nicht so meinst. Ich bin vielleicht klein, aber sicher nicht dumm. Schließlich habe ich einen Durchschnitt von 1,0. Du versuchst mich von dir weg zu stoßen und weißt du was? Es funktioniert!"
Ohne einen weiteren Blick an ihn zu verschwenden drehte ich mich wütend auf dem Absatz um und bewegte mich auf das weitläufige Waldstück zu.
Meine Umgebung schien sich meiner Wut anzupassen. Der Himmel verdunkelte sich deutlich, als sich graue Regenwolken von die Sonne schoben. Nicht mehr lange und es würde wie aus Eimern schütten, da war ich mir sicher.
Die Vögel hatten mit ihrem Singsang aufgehört und flogen gerade davon, so als würden sie vor etwas fliehen. Auch die Tiere auf dem See waren nicht mehr zu sehen.
Alles wirkte dunkel und kühl. Von der Landschaft, die ich so bewundert hatte, war nichts mehr zu sehen. Sie war untergegangen, genauso wie mein Herz.
In dem Moment als sich die erste Träne den Weg über meine Wange bahnte, begann auch der Himmel zu weinen. Adieu Fassung.
"Ariadne?"
Ich lief weiter.
"Rêverie?"
Ich lief schneller.
"Rêve?"
Ich drehte mich zornig um.
"Was willst du Garçon? Lass mich jetzt wenigstens gehen", schrie ich ihn an und versuchte mir die Tränen abzuwischen. Es war hoffnungslos, doch ich wollte nicht, dass er mich erneut weinen sah. Es machte mich angreifbar und ich wollte im so sehr beweisen, dass ich stark war. Ihm zeigen, dass ich auch alleine etwas erreichen konnte und nicht auf andere Personen angewiesen war.
"So sehr ich es will, ich kann dich nicht einfach gehen lassen", rief Garçon traurig und lief zu mir herüber.
"Du kannst dich auch nicht entscheiden, oder?", motzte ich ihn trotzig an und verschränkte meine Arme vor der Brust.
Ehe ich ihn davon abhalten konnte, spürte ich auch schon seine Lippen auf meinen. Es war kein sanfter Kuss. Er war fordernd und leidenschaftlich. Wir beide steckten all unsere Emotionen in diesen einen Moment, denn wir wussten, dass sich unsere Wege nach ihm endgültig trennen würden.
"Ich werde dich immer lieben, Rêve", murmelte Garçon in den Kuss hinein und löste sich anschließend von mir. In seinen grünen Augen, die meine Liebsten waren, glitzerten Tränen.
Ich konnte ihm einfach nicht mit diesem einen Satz antworten. So sehr ich es wollte, es tat zu sehr weh. Ich hatte kein Verständnis für sein Handeln. Wenn er mich liebte, wie konnte er mich dann so sehr verletzten? Er sah, dass ich litt und tat es trotzdem.
Dies war nicht der Garçon in den ich mich verliebt hatte. Dieser wäre nämlich selbstsüchtig genug gewesen, um mich nicht zu verlassen.
"Wieso lässt du mich dann alleine?", sprach ich meine Gedanken laut aus.
Zögernd hob Garçon seine Hand und strich mir eine nasse Haarsträhne hinter das Ohr. Er wollte mit seinen Fingern meine Wange berühren, doch ich zuckte zurück. Sofort senkte er seinen Arm wieder.
"Ich muss dich gehen lassen Rêve. Du sollst nicht weiter all deine Energie in deine Träume investieren. Konzentriere dich auf dein Leben. Gehe Studieren, rede mit deiner Mutter und das wichtigste ist, dass du anfangen musst, dich selbst zu akzeptieren und zu lieben."
"Du weißt, dass ich das nicht kann", flüsterte ich und senkte meinen Blick zu Boden. Meine Füße waren in das völlig durchnässte Gras eingesunken, doch die Kälte nahm ich schon gar nicht mehr wahr.
"Versuche es! Mir zu liebe."
Seine Worte wurden immer leiser und ich wurde in den vertraute schwarzen Strudel gezogen, der mich von meinem Alptraum erlösen sollte. Ich schenkte Garçon einen letzten traurigen Blick, bevor ich ihn endgültig hinter mir ließ und ich in in das schwarze Loch fiel.
"Wir werden uns wieder sehen Rêverie! Du wirst mich auch im wahren Leben finden", rief mir meine geliebte und namenlose Traumgestalt nach, als ich völlig von der Dunkelheit verschlungen wurde.
Keuchend schlug ich meine Augen auf.
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