01 - Wie ich lieben lernte

- Im Alter von sechs Jahren -

"Hallo Ariadne", erklang eine helle Stimme hinter mir, sodass ich mich erschrocken umdrehte.

Ein kleiner Junge, nicht viel älter als ich selbst, stand vor mir und lächelte mich schelmisch an. Nervös trat ich einen Schritt zurück. Ich wollte ihm nicht antworten, denn meine Mama hatte mir immer gesagt, dass ich nicht mit Fremden reden sollte.

Ich wollte nach Hause rennen und mich verstecken. Dieser Junge machte mir Angst. Ich wusste den genauen Grund nicht, aber er sah so fröhlich aus. Ich war keine Fröhlichkeit gewöhnt.

Ich blickte mich um und erstarrte erneut. Ich wusste nicht mehr, wo mein Zuhause war. Plötzlich stand ich in einer einsamen Wüste, alleine mit dem fremden Jungen, und mir war so entsetzlich heiß. In meinem dicken Wollpyjama ist es zu warm. Ich wünschte, dass ich etwas anderes tragen könnte. Ich fühlte mich unwohl, so vor dem Jungen zu stehen.

"Du hast ja ein lustiges T-Shirt an", lachte dieser nun und deutete mit seinen kleinen Fingern auf mich.

Ich blickte an meinem zierlichen Körper herunten. Er hatte recht. Der Traumfänger auf meinem weißen Top, das ich nun trug, sah wirklich witzig aus. Alleine der Gedanken an ein neues Oberteil hatte genügt, um mir eines zu beschaffen. Ich wusste nicht, wie es passiert war, doch es gefiel mir.

Schüchtern erwiderte ich sein Lächeln. "Wer bist du?", fragte ich ihn mit meiner piepsigen Stimme.

"Ich kannte schon lange keinen mehr, der meinen Namen genannt hatte", sagte der Junge nun mit trauriger Stimme und sah mich mit seinen großen Augen an. Gerade waren sie noch braun und jetzt waren sie grün geworden. Wieder ein Grund, weshalb mir der Junge Angst machte. Er war nicht normal, das spürte ich einfach.

Dennoch musste ich mir eingestehen, dass mir die grünen Augen besser gefielen. Braune Augen hatte ich selbst und die waren so langweilig. Das hatte Mama mir immer gesagt und ich sollte ihr besser glauben. Wenn ich es nicht tat, würde ich Mama wieder traurig machen. Wenn meine Mama weinen musste, ließ sie ihre Trauer immer an mir aus. Danach war mir selbst zum weinen zu mute und ich hatte oft auch große blaue Flecken. Blau ist eine schreckliche Farbe.

"Aber wieso denn?", fragte ich mutig und streckte ihm trotzig mein Kinn entgegen.

"Ich war schon immer alleine. Ich habe keinen Namen gebraucht", kam die Antwort des kleinen Jungen. Er ging einen Schritt auf mich zu und ich wich erneut zurück.

"Alleine sein ist doch blöd. Dann hast du ja niemandem, mit dem du spielen kannst."

"Jetzt habe ich ja dich, Ariadne", sagte der Junge vergnügt.

Missmutig verzog ich das Gesicht. "Nenne mich nicht so. Ich mag den Namen nicht."

Der kleine Junge schien kurz zu überlegen. Dann setzte er sich trotzig auf den Boden und ließ den feinen Sand durch seine Finger rieseln. "Ich finde den Namen schön."

"Nenne mich nicht so", wiederholte ich lauter und stampfte entschlossen mit meinem kleinen Fuß auf.

"Na gut. Ich habe einen Namen, der besser zu dir passt", sagte der Junge und klopfte auf den Boden neben sich. Ich setzte mich zögernd hin und vergrub meine nackten Füße in dem warmen Sand. "Ab jetzt heißt du Rêverie."

"Rêverie?", kicherte ich und schaute ihm in seine nun blauen Augen. Er soll wieder die grünen Augen haben. Blau erinnerte mich an die Flecken auf meiner blassen Haut. Sie verschwanden nie vollständig. Immer wenn andere Kinder sie sahen, lachten sie mich aus. Sie fanden mich hässlich.

Einmal hatte ich dies meiner Mama erzählt, aber sie hatte mir nicht zugehört, da sie zu ihrer Arbeit musste. Am Abend versuchte ich es erneut und hatte darauf hin zwei neue Flecken an meinen Handgelenken.

"Ja Rêverie!"

- einen Monat später, im Alter von 6 Jahren -

"Warum weinst du Rêverie", fragte mich die zaghafte Stimme des Jungen.

Ich sah ihn zum zweiten Mal. Nach seinem letzten Besuch hatte er mich nicht wieder besucht und dies hatte mich beruhigt. Er war mir noch immer nicht geheuer.

Er schien mich zu verfolgen. Erst war er bei mir in der Wüste gewesen und nun steht er neben mir, während ich auf einem Felsen saß und meine schmerzenden Füße in das kalte Wasser baumeln ließ.

"Geh weg. Du machst mir Angst", schluchzte ich.

Betroffen ging er einen Schritt zurück, nur um sich danach neben mich zu setzten und trotzig seine Arme zu verschränken.

"Ich werde nicht gehen. Erst sagst du mir, was passiert ist."

Ich schüttelte wild mit meinem Kopf, so dass meine kurzen braunen Haare in mein Gesicht flogen. Der Junge sah mich ermahnend an und griff nach meiner Hand. Ich wollte sie ihm entziehen, doch er ließ sie nicht los.

"Meine Mama hat mich getreten", flüsterte ich leise und blickte beschämt auf die glitzernde Wasseroberfläche.

Wäre ich ein besseres Kind gewesen, dann müsste sie mir keine Schmerzen zufügen. Ich wollte, dass mein Mama stolz auf mich war, doch ich enttäuschte sie immer wieder. Ich hatte die Schmerzen verdient. Mama würde mich nicht einfach so weh tun!

Erst sagte der Junge gar nicht, sondern hielt einfach nur meine Hand. Als ich meine Augen geschlossen hatte und eine einzelne Träne sich den Weg über meine Wange bahnte, schlangen sich zwei kleine Arme um mich.

- zwei Jahre später, im Alter von acht Jahren -

"Garçon, du hast gesagt, dass du mich gewinnen lässt", murmelte ich wütend und blickte auf das Spielfeld hinunter.

"Ich habe gelogen", sagte mein bester Freund und strich sich eine dunkle Strähne aus seinem Gesicht. Ich mochte es nicht, wenn er so lange Haare hatte. Sie waren beinahe so lang wie meine und dies fand ich blöd. Alle Kinder aus meiner Straße nannten mich immer einen Jungen, nur weil ich kurze Haare hatte.

Ich fühlte mich unwohl neben meinem Freund. Ich schloss meine Augen und öffnete sie wieder. Zufrieden stellte ich fest, dass dessen Haare nun wieder kurz waren.

Böse blickte ich ihn an. Er musste mich immer anlügen. Ich mochte es nicht, doch Garçon fand es lustig. Glaubte ich zumindest.

"Jetzt habe ich keine Lust mehr."

Ich packte die Männchen zurück in die Verpackung des Mensch ärger dich nicht Spiels.

"Du bist schlecht in dem Spiel Rêve."

Garçon mochte es mich zu ärgern. Das machte er fast täglich.

"Bin ich nicht."

"Bist du doch."

"Sagst du mir deinen Namen", frage ich ihn hoffnungsvoll.

Er blickte mich traurig an. "Nein. Irgendwann wirst du ihn erfahren. Aber noch ist er deinem nicht würdig."

- ein Jahr und zwei Monate später, im Alter von neun Jahren -

"Rêve, gehe nicht!", rief mir Garçon zu.

Ich strampelte wild um mich. Ich wollte nicht von ihm weg. Ich wollte bei ihm bleiben, doch irgendetwas zog mich von ihm fort. Diese unsichtbare Gewalt nimmt mir all meine Erinnerungen und nahm mich mit in eine Welt, in der ich nicht leben konnte.

Wenn ich morgen zu Garçon zurückkehren würde, wäre er wieder traurig, da ich mich an kaum etwas erinnern konnte.

Ich wollte ihn doch gar nicht vergessen.

Ich rief ganz oft nach ihm, in der Hoffnung, dass er nach mir greifen würde und mich zurück zu sich zog. Ein letzter Schrei und um mich herum wurde alles schwarz.

- drei Jahre später, im Alter von zwölf Jahren -

"Du bist meine beste Freundin, Rêve. Das weißt du, oder?", seine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie ist tiefer geworden und hat den schelmischen Klang verloren, der mir immer solch eine Freude bereitet hatte. Nun erkannte ich sie kaum wieder, doch auf eine angenehme Weise verursachte seine Stimme eine Gänsehaut auf meinen blassen Armen, die von Narben gezeichnet waren.

Ich hatte vor einer Woche ein Glas fallen lassen und meine Mutter war sauer geworden. Ich hatte mich bei ihrer wütenden Stimme so sehr erschrocken, dass ich mich mit einer Scherbe geschnitten hatte. Für die anderen beiden Striemen hatte meine Mutter gesorgt.

"Du bist auch mein bester Freund Garçon", sagte ich, traurig darüber, dass ich seinen Namen weiterhin nicht wissen durften. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nichts über ihn wusste, obwohl er all meine Geheimnisse kannte. Es war unfair.

Wir waren nun schon unser halbes Leben lang befreundet, seit sechs Jahren um genau zu sein und dennoch schien er mir weiterhin nicht genug zu vertrauen. Er wusste, dass mich diese Tatsache traurig machte, doch es war für ihn wohl nicht genug.

Ich wollte kein Trübsal blasen. Wir sollten unsere gemeinsame Zeit lieber genießen. Früher oder später würde er meine Mutter kennen lernen und dann würde er mich verlassen. So hatten es all meine Freunde immer getan.

Sie wollte mein Bestes, indem sie mir den Kontakt zu anderen Teenagern verbot, doch trotzdem tat es weh. Den ganzen Tag über lernte ich, so dass ich meinen Abschluss in einigen Jahren mit den besten Noten abschließen würde. Ein Medizinstudium verlangte viele Wissen. Schon seit meiner Geburt stand fest, welchen Weg ich einschlagen würde. Es gab für mich keine andere Wahl, als in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten.

Ich rümpfte meine Nase. "Aber nur, wenn du dir die Haare wieder braun machst. Dieses Rot sieht schrecklich aus."

Puff. Schon waren sie wieder braun.

"Ich mochte rot aber", maulte Garçon und fasste sich auf den Kopf.

Ich kicherte entschuldigend und legte einen Arm um seine Schulter.

- ein Jahr später, im Alter von dreizehn Jahren -

"Sieh mich nicht an", schluchzte ich unter Tränen, während ich meine spitzen Fingernägel in meine Hand bohrte. "Ich sehe schrecklich aus!"

Beruhigend legte Garçon mir eine seiner Hände auf den Rücken und fing an behutsam über ihn zu streichen. Sofort breitete sich eine wohlige Wärme in meinem Körper aus, die mein kaltes Herz zu erwärmen schien.

"Das stimmt nicht Rêve. Du bist das hübscheste Mädchen, das ich kenne", murmelte mein bester Freund und strich mir meine langen Haare hinter mein Ohr. Anschließend legte er seine Finger behutsam unter mein Kinn, so dass er mich zwingen konnte, ihn anzusehen.

Sachte strich er über meine pochende Wange und sah mich ernst an.

"Was ist geschehen?"

"Mum kam vor einer Stunde nach Hause und war völlig aufgelöst", begann ich leise mit meiner Erzählung. "Im Krankenhaus war heute ein kleines Mädchen an Fieber gestorben und Mum hatte es nicht geschafft sie zu retten. Ich hatte sie gefragt, weshalb sie der Tod des Mädchens so sehr mitnahm, obwohl sie sich nicht einmal für ihre eigene Tochter interessierte."

Ich hörte, wie Garçon nach Luft schnappte.

"Ich war übermütig und habe einen Fehler begangen. Sie hat mich angeschrien, was für ein undankbares Kind ich sei und dass sie immer alles für mich tat. Dann hatte sie ausgeholt und mich wieder geschlagen", flüsterte ich, ehe meine Stimme vollständig abbrach und mein Kleiner Körper vor Schluchzern zu beben begann.

Garçon saß hilflos neben mir und redete leise auf mich ein.

Ich war froh, dass ich ihm damals eine Chance gegeben hatte. Er war mein einziger Freund, aber ich benötigte niemanden außer ihm. Er war alles was ich brauchte, um zu überleben.

- fünf Monate später, im Alter von vierzehn Jahren -

"Das schmeckt nicht gut, Rêve", quengelte mein bester Freund und blickte angewidert auf die braune Pampe vor sich auf dem Teller.

"Warte, das haben wir gleich", murmelte ich und kniff angestrengt die Augen zusammen.

Als ich sie wieder öffnete, befand sich auf dem Teller jegliches Essen, von dem ich wusste, dass Garçon es mochte.

"Danke", jubelte dieser und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange.

- zwei Jahre später, im Alter von sechzehn Jahren -

"Sie haben sich in einem Kreis um mich herum aufgebaut und mich beschimpft. Sie sagten viele böse Sachen über Mum, aber dass schlimmste war, dass alle davon stimmten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Mutter mich nicht liebt und ich später einfach nur ihre Rente bezahlen soll. Einen anderen Zweck habe ich für sie doch nicht", sagte ich und sah Garçon in seine grünen Augen.

"Ich würde deine Mutter zu gerne kennen lernen und ihr sagen was für ein tolles Mädchen du bist. Rêverie, du bist einfach perfekt. So blöd es klingen mag, aber ich weiß nicht, wie ich dich sonst beschreiben soll. Perfekt trifft es einfach perfekt", antwortete er und lächelte mich an, sodass ich seine Grübchen bewundern konnte.

Durch sein Augenzwinkern schaffte er es sogar, dass ich meine schlechte Laune für einen Moment vergaß.

Ich verlor mich in seinem intensiven Blick und auch er schafft es nicht mehr, sich von mir loszureißen.

Ich lächelte ihm auffordernd zu und endlich spürte ich seine weichen Lippen das erste Mal auf meinen.

- zwölf Monate später, im Alter von siebzehn Jahren -

"Happy Birthday to you, Marmelade im Schuh, Aprikose in der Hose und 'nen Affen dazu", grölte Garçon lauthals und zog mich in eine innige Umarmung. "Mein Engel ist jetzt siebzehn Jahre alt, ich kann es kaum glauben."

Ich befreite mich lachend aus seinem starken Griff und drückte ihm einen kurzen Kuss auf seine kühlen Lippen.

"Ich kann es kaum glauben, dass wir uns schon seit mehr als zehn Jahren kennen", sagte ich uns stieß ihm meinen Ellenbogen zwischen die Rippen. Empört schrie Garçon auf.

"Mach so weiter Fräulein und du kannst dein Geschenk vergessen", murte er eingeschnappt und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Ich fing an über seinen Gesichtsausdruck zu lachen.

"Du hast ein Geschenk für mich?"

"Natürlich, aber du bekommst es nur, wenn du das Zauberwort sagst."

"Bitte", bettelte ich und sah meinen Freund mit meinem besten Hundeblick an. Wortlos schüttelte er seinen Kopf.

"Hund, Katze, Maus? Elefant, Pferd?", riet ich munter weiter und genoss Garçon finstere Miene. "Ahh, ich glaube ich weiß es. Ich liebe dich."

Er streckte mir seine Zunge raus und kramte in seiner Jackentasche nach einem kleinen Päckchen. Mit einem verlegendem Lächeln überreichte er es mir.

Noch bevor ich begann das Päckchen zu öffnen, drückte ich zärtlich meine Lippen auf seine.

"Du hast es noch nicht einmal ausgepackt", lachte Garcon in den Kuss hinein.

Seufzend löste ich mich von ihm. "Ich weiß, aber es ist allemal besser, als das Geschenk meiner Mutter. Sie hat mir einen Füller und einige Lehrbücher für ein Medizinstudium geschenkt."

Und ich behielt recht. Aus der Schatulle zog ich eine dünne goldene Kette mit einem herzförmigen Anhänger. Auf ihm war mein Name eingraviert. Den Namen, den ich schon seit Jahren tragen wollte. Rêverie.

Der Moment war perfekt.

In dieser Nacht schliefen wir das erste Mal miteinander.

Am nächsten Morgen hatte ich nicht nur die Nacht vergessen, sondern auch die Kette war verschwunden.

- einen Monat später, im Alter von siebzehn Jahren -

Sachte strich Garçon mit seinen kühlen Fingern über die blasse Haut meines nackten Bauches. Ich presste meinen Körper noch näher an seinen und fuhr über die Muskulatur seines Rückens. Vorsichtig begann Garçon meinen Hals zu küssen und arbeitete sich langsam vor, bis er meine Lippen erreichte.

Seufzend erwiderte ich seinen fordernden Kuss und öffnete meine Lippen für ihn.

"Ich liebe dich", hauchte ich in den Kuss hinein und vernahm nur gedämpft seine geflüsterte Antwort.

- zwei Monate später, im Alter von siebzehn Jahren -

"Ich mache mir Sorgen um dich Rêve", flüsterte Garçon leise und blickte mir dabei tief in die Augen. Fragend erwiderte ich seinen Blick und verschränkte meine blassen Finger mit seiner kalten Hand.

"Die Zeit wird kommen, in der ich dich verlassen muss. Dann wirst du niemanden mehr haben, der dich beschützen kann", fuhr er fort und ich hatte Schwierigkeiten seine Worte zu verstehen.

Erst nachdem er in ein Schweigen verfiel wurde mir bewusst, dass ich mich nicht verhört hatte. Zögernd entzog ich ihm meine Hand und blickte zu Boden.

Er würde mich verlassen. Vielleicht nicht heute, doch es würde geschehen. Ich würde seine Anwesenheit nicht erzwingen können. Irgendwann würden unsere Wege sich trennen und meine Hoffnung auf Liebe würde vollkommen zunichte gemacht werden.

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