Kapitel 30
ZAYN
Eine Viertelsekunde hatte ich Niall erreicht, der im letzten Moment (und dennoch zu spät) herumgewirbelt war, und erhaschte einen Blick darauf, wie sein für mich bestimmtes Lächeln augenblicklich in sich zusammenfiel.
Er hatte sich genau noch rechtzeitig umgedreht, um mitanzusehen, wie sein Vater in sich zusammensackte. Der Griff von Adams Messer ragte auf groteske Art und Weise aus seinem Oberkörper hervor, während der Besitzer der Waffe erst diese selbst ungläubig anstarrte, dann Niall und mich, die wir noch immer völlig fassungslos dastanden.
„D-Dad?" Nialls Stimme war nicht mehr als ein Wispern, als er in die Knie ging. „Dad!"
Dann erst begriff er das Ausmaß der Situation und alles Blut wich aus seinen Wangen.
„Ruft einen Notarzt!", brüllte er den mir noch immer unbekannten Leuten zu, die nun aus Richtung der Scheinwerfer zu uns hinübergerannt kamen. „Schnell!"
Eine der Personen hielt daraufhin inne und zog hektisch ein Handy aus der Tasche, während zwei weitere sich daran machten, den fassungslosen Adam zu packen und ihm Handschellen anzulegen. Dieser fauchte zornig und schmerzerfüllt auf und musste sich unfreiwillig rücklings zu Boden fallen lassen, um die Belastung von seinem zerschossenen Knie zu nehmen – wie er damit auch nur einen einzigen Schritt hatte tun können, war mir ein Rätsel. Die Wirkung von Adrenalin war in solchen Situationen wohl wirklich nicht zu unterschätzen.
Sämtliche Empfindungen hatten meinen Körper verlassen, als ich neben Niall in die Hocke ging. Mein Freund hatte sich mittlerweile auf Augenhöhe mit seinem verletzten Vater zu Boden sinken lassen und hielt dessen Schultern mit bebenden Händen umklammert, den panischen Blick auf die tödlich wirkende Stichwunde gerichtet. Das Messer hatte der erfahrene Einsatzkommandoleiter bereits selbst herausgezogen und achtlos neben sich auf den Schotter fallen lassen, was ich am liebsten mit einem ungläubigen Kopfschütteln quittiert hätte. Dieser sture Bock. Wusste er denn nicht, dass das Blut den Körper noch schneller verließ, wenn man den eingedrungenen Gegenstand herauszog?
Doch Bobby Horan kämpfte so dermaßen mit seiner Atmung, dass mir sämtliche Worte in der Kehle steckenblieben, als mir eines klarwurde: Dieser Mann hatte nicht vor, die heutige Nacht zu überstehen.
„Niall." Trotz der Höllenqualen, die er durchstehen musste, war seine Stimme ruhig und gefasst. Fast so, als hätte er nun nach langer Zeit endlich wieder Grund dazu, sich zu entspannen. „Niall, sieh mich an."
Nialls Unterlippe bebte, als er den entsetzten Blick von der Stichwunde löste und ihn stattdessen mit dem seines Vaters vereinte. „Dad, der Notarzt wird gleich hier sein. Die flicken dich wieder zusammen. Dann können wir ..."
Sein Vater ließ ein schwaches Kichern hören, gefolgt von einem rasselnden Hustenanfall, der mir die Härchen auf den Armen zu Berge stehen ließ. „Ein Kämpfer weiß, wann es vorbei ist, mein Junge." In seinen Augen stand abgrundtiefer Schmerz – aber nicht dieser körperlicher Art.
Nein, es war in erster Linie emotionaler Schmerz, vermischt mit tiefer Trauer und aufrichtiger Reue, was er seinem Sohn nun entgegenbrachte.
„Deshalb weiß ich auch, dass ich nie wiedergutmachen kann, was ich dir angetan habe. Ich war egoistisch und so auf den Erfolg meines Berufs aus, dass meine Familie auf der Strecke geblieben ist." Er schluckte schwer. „Am allermeisten du. Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen."
In Nialls Augen standen Tränen. Seine Hände tasteten nach den blutverschmierten seines Vaters und verschränkte ihre Finger miteinander. „Du wolltest uns beschützen. Und mich vor Dummheiten bewahren."
Sein Vater lachte bitter. „Am Ende, ja. Als ich viel zu spät eingesehen habe, in welche Scheiße ich uns überhaupt erst alle geritten habe. Wegen mir hättest du heute sterben können." Mit jedem weiteren Wort büßte seine sonst so starke Stimme an Kraft ein. „Ich wollte nie, dass du glaubst, ich würde dich nicht lieben, auch wenn ich dir das mit allem, was ich getan habe, vermittelt habe."
Für einen kurzen Moment presste er die bebenden Lippen aufeinander. „Ich liebe dich, mein Junge, mehr als alles andere auf der ganzen Welt. Dich und unsere ganze Familie. Ich möchte nur, dass du das weißt, bevor ..." Ein weiterer, rauer Hustenanfall ließ ihn abbrechen.
Niall umklammerte seine Hände noch fester. „Nein, Dad, du wirst nicht sterben. Nicht hier, nicht heute. Wenn du dich jetzt auf den Rücken hinlegst und wir Druck auf die Wunde ausüben, dann ..." Er verstummte abrupt, als er bemerkte, dass der Blick seines schwerverletzten Vaters abgedriftet war.
Zu mir.
Zu meiner Überraschung löste der Mann, der mein ganzes Leben lang ein verbitterter Erzfeind gewesen war, eine seiner Hände aus Nialls Umklammerung und griff damit nach meiner eigenen. Sie war eiskalt und gleichzeitig auf skurril-besorgniserregende Art schweißnass.
„Zayn Malik", brachte er mühsam über die Lippen. „Auch wenn ich wohl nicht in der Position bin, dich um etwas zu bitten ... versprich mir, auf meinen Sohn aufzupassen. So wie du es die ganze Zeit getan hast und ich nur zu blind war, um es zu sehen." Seine Mundwinkel zuckten unter einer neuen Welle des Schmerzes. „Bitte."
Der Kloß in meinen Hals drohte mich beinahe zu ersticken, doch irgendwie schaffte ich es, Worte in meinem Mund zurecht zu formen. „Das werde ich, Mr Horan. Versprochen."
Bobby Horan schenkte mir ein derart warmes Lächeln, wie ich es noch nie von ihm gesehen hatte. „Danke. Und nenn mich doch bitte Bobby."
Neben mir wurde Niall von unbarmherzigem Schluchzen geschüttelt. „Dad ... ich ..."
Erneut fing er den Blick seines Vaters auf, auf dessen Lippen nun ein befreites Lächeln lag – dann ging dieser endgültig ins Leere.
Eine ganze Weile saßen wir nebeneinander im Dreck. Niall hatte den Kopf seines Vaters sanft auf seine zusammengeknüllte Jacke gebettet und mit der flachen Hand dessen Augen geschlossen – jene Augen, die den seinen so unglaublich ähnlich waren. Lautlose Tränen bahnten sich ihren Weg über seine mit blutigen Spuren verschmierten Wangen, als er sich schließlich mir zuwandte und kraftlos den Kopf an meine Brust sinken ließ, wo ihn schließlich sämtliche aufgestauten Emotionen einholten. Mein Geist war vollkommen leer und zutiefst erschüttert, während ich die Arme um ihn schlang und ihn so dicht an mich zog, dass kein Molekül Luft mehr zwischen uns gepasst hätte.
In diesem Moment war meine Liebe zu diesem jungen Mann so greifbar, dass sie beinahe wehtat.
„Ich hasse dich."
Ich erstarrte und überlegte mit dem verworrenen Knoten, der momentan mein Gehirn repräsentierte, ob ich mich verhört hatte. „W-was?"
Niall hob seinen Kopf von meiner Brust und offenbarte verquollene, müde Augen, deren leerer Blick auf dem leblosen Körper seines Vaters ruhte. Trotz allem wirkte er merkwürdig gefasst. Vermutlich würde ihn der psychische Zusammenbruch erst viele Stunden später endgültig einholen. „Eins der letzten Dinge, die ich zu ihm gesagt habe." Zittrig holte er Luft. „Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn hasse. Und jetzt ist er ... tot. Er ist in dem Glauben gestorben, dass ich ihn hasse. Oh Gott, Z, ..."
„Hey." Sanft umfasste ich sein Gesicht mit meinen Händen und streichelte mit den Daumen seine blassen Wangen. „Hey. Er ist dein Vater, Ni. Er weiß, dass du ihn liebst. Trotz allem, was zwischen euch vorgefallen ist. Vertrau mir."
Erstaunlicherweise beließ Niall es bei diesem letzten Wort und ließ sich zurück in die Wärme meiner Umarmung fallen. Geistesabwesend hielt ich ihn mit einem Arm so fest es ging, während meine andere Hand mit den weichen blonden Locken in seinem Nacken spielte.
Auch wenn diese Nacht ihre Opfer gebracht hatte, so hatten wir es doch irgendwie mit Hängen und Würgen geschafft. Es war vorbei. Es war tatsächlich vorbei. In vielerlei Hinsicht.
„Hey, Boss!"
Verwirrt schrak ich hoch, brachte es jedoch nicht über mich, Niall aus meiner Umarmung zu scheuchen. Nachdem wir so grob voneinander getrennt worden waren, nachdem ich derartige Ängste um ihn ausgestanden hatte, nachdem wir beide so oft beinahe gestorben waren ... so schnell würde ich diesen Jungen nicht mehr loslassen. Ich wollte mein ganzes Leben mit ihm verbringen.
Aber wer zur Hölle nannte mich Boss? Das, was von der Malik-Gang übriggeblieben war, konnte man nicht einmal mehr mit drei Tonnen Fantasie als Gang bezeichnen, mich dann also gleich noch weniger als Boss.
Dennoch verzogen sich meine eingerosteten Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln, als ich Robin und Jake erkannte – treue Kumpel und Gangmitglieder, die mich vor scheinbar so langer Zeit mit Nialls Unterstützung aus dem polizeibewachten Krankenhaus freigeschlagen hatten.
Konnte das wirklich erst ein Dreivierteljahr her sein?
Robin musterte erst uns, dann den Leichnam des Einsatzleiters, und Verständnis machte sich auf seinem Gesicht breit. „Oh."
In der Ferne begannen Sirenen zu heulen und der Satz ‚Der Notarzt kommt also zu spät' hing förmlich in der Luft und drohte mich zu ersticken, sodass ich mich angestrengt räusperte und das Thema wechselte. Meine verbliebenen Leute waren zwar loyal und durch quasi nichts zu erschüttern, aber Einfühlsamkeit zählte zumeist nicht zu ihren großen Stärken. „Ihr könnt ja nicht ahnen, wie sehr ich mich freue, euch zu sehen. Wie ihr Adams Leute vertrieben habt, das war bühnenreif."
Jake grinste schief. „Das waren nur zu einem Teil wir." Er nickte hinüber zu einer kleinen Menschentraube, die gerade einen schimpfenden, lauthals heulenden Adam in einen Wagen verfrachtete. „Dein Blondie hat nicht nur uns informiert, sondern auch die letzten Leute von seinem Vater abgefangen, die noch unterwegs gewesen sind, unter anderem die mit den beiden Mördern, die Adam rausschlagen wollte. Hat uns den genauen Standort durchgegeben." Er schüttelte den Kopf. „Auf uns warten wollte er allerdings nicht, der Sturkopf."
Innerlich lächelte ich. Das klang nach Niall, ja.
Ich drückte ihm einen Kuss aufs Haar. „Danke übrigens dafür, dass du Adam davon abgehalten hast, mich in ein Sieb zu verwandeln. Der Knieschuss war echt beeindruckend. Vor allem in deinem zerschlagenen Zustand."
Mit einem leisen, traurigen Lachen schälte sich Niall aus meinen Armen, bevor er zu mir aufblickte. „Manche Dinge verlernt man eben nie. Irgendwelche Vorteile muss man ja davon haben, mit einem Polizeifanatiker als Vater aufgewachsen zu sein."
Er seufzte tief und machte Anstalten aufzustehen, als schließlich und tragischerweise reichlich spät das blinkende Blaulicht des auf das Gelände fahrenden Notarztes in Sicht kam.
„In ein paar Minuten wird hier die Hölle los sein. Polizei, Ärzte, Feuerwehr ... ihr solltet wohl besser verschwinden." Seine brüchige Stimme verriet, wie sehr es ihm widerstrebte, dass wir uns schon wieder trennen mussten. „Mag ja sein, dass unsere Leute euch nicht mehr verhaften wollen, aber bis irgendjemand die ganzen anderen Uniform-Typen über den aktuellen Stand informiert hat, haben sie euch dreimal in Untersuchungshaft gesteckt."
Jede Faser meines Körpers schrie mich förmlich an, jetzt nicht den Kopf einzuziehen und sich aus dem Staub zu machen, aber natürlich wusste ich, dass Niall Recht hatte – mein Gesicht prangte seit Jahren auf sämtlichen Fahndungsfotos und in so ziemlich jedem Polizeiregister meistgesuchter Personen – mich an einem Ort öffentlich aufgabeln zu lassen, an dem ganz offensichtlich Kämpfe auf Leben und Tod stattgefunden hatten, sich eine im Zusammenhang mit mir als vermisst gemeldete Person aufhielt und noch dazu der Einsatzleiter des stadtbekannten Spezialkommandos ermordet aufzufinden war ... ja.
Das wäre nicht nur unklug, das wäre einfach nur saublöd.
Niall schien Schwierigkeiten zu haben, sich auf den Beinen zu halten, als er unsicheren Schrittes an mich herantrat und sich auf die Zehenspitzen erhob, um meine Lippen mit den seinen erreichen zu können. Trotz allem durchflutete mich auch jetzt das berauschende, wunderwunderschöne Gefühl von Liebe und Geborgenheit, das Einzug hielt, sobald wir uns küssten – was wir im Übrigen schon so lange nicht mehr getan hatten, dass ich mich nun zusammenreißen musste, um ihn nicht hier und jetzt zu verschlingen.
Einen Moment lang klammerten wir uns nach dem Kuss noch aneinander und ich spürte, wie sich seine Hände im Stoff meiner Lederjacke festkrallten, bevor wir zögerlich auseinandertraten. Niall schluckte sichtbar und vergrub die zitternden Hände in seinen Hosentaschen, bevor er ein schiefes, gequältes Lächeln zustande brachte.
„Los. Verschwinde. Ich kann zwar nicht von mir behaupten, dass es mir nicht gefallen würde, deinen Aufenthaltsort immer zu wissen, aber ich besuche dich trotzdem nur ungern im Gefängnis. Hau rein, Z. Und nimm Louis und die zwei anderen Helden mit."
Kein Wort wollte mir über die Lippen kommen, also nickte ich stumm und winkte Louis zu, der sich ein Stück abseits mit Harry unterhielt. Zu meiner Verblüffung umarmten sich die beiden auffallend lange, bevor mein bester Kumpel mit seiner Pistole in der Hand auf mich zu getrabt kam und nach Robin und Jake pfiff, die im Eildurchlauf das Gelände nach möglichen verbliebenen Habseligkeiten von uns abgesucht hatten.
Fragend beäugte ich ihn und deutete, noch immer wortlos, in Richtung Harry, der sich nun zu Niall auf den Boden gesellte und ihm einen Arm um die Schultern legte, das Gesicht angesichts seines toten Chefs kalkweiß.
Louis zog seine berüchtigte Augenbraue hoch. „Was? Wir haben uns nur voneinander verabschiedet. Wer weiß schon, wann wir diese Leute wiedersehen." Er räusperte, als ihm aufging, welch rabenschwarze Zukunft er mit diesen Worten Niall und mir prophezeite. „Ähm, also damit meine ich nicht, dass ... Es ist eben eine Frage der Zeit, ob ..."
Mein mit seinen Rippen kollidierender Ellbogen ersparte ihm die Peinlichkeit, sich auf emotionale Weise irgendwie erklären zu müssen. „Spar dir den Atem, Lou. Ich weiß, was du meinst." Ich blickte in die Runde, als endlich auch Robin und Jake zu uns traten und den Viererkreis vollendeten. „Wie sieht es aus, Leute? Lust darauf, ein neues Quartier zu suchen?"
Allseitiges Grinsen ließ meine Körpertemperatur um einige Grade steigen, als das alte familiäre Gang-Feeling ein Stück weit zurückkehrte.
„Immer doch, Boss!" Jake salutierte scherzhaft und bedeutete uns, um ihm zu dem Wagen zu folgen, mit dem er und Robin gekommen waren. „Eleanor hat uns zugesichert, unser Kennzeichen geflissentlich übersehen zu haben."
„Eleanor?" Ich kramte in meinem Gedächtnis. „Diese Calder-Frau?" Amüsiert lachte ich auf, als ich Jakes verlegenes Achselzucken sah. „Ich wusste gar nicht, dass wir uns nun alle offiziell mit den Horans verbündet haben."
Und das war keine schlechte Tatsache. Tatsächlich sah ich darin eine Chance darauf, eine einigermaßen ruhige, nicht von Todeskämpfen durchzogene Zukunft zu erleben.
Als wir uns zu viert in Jakes Polo quetschten und dieser wie unter dem Handwerk eines Fahranfängers unkontrolliert einen röhrenden Satz nach vorne machte, bevor er in erstaunlicher Geschwindigkeit vom Gelände düste, fühlte ich mich wahrhaftig in die Vergangenheit zurückversetzt.
Mein Geist jedoch war nach wie vor an Niall hängengeblieben.
Ich hatte so ein Gefühl, dass er bis auf alle Ewigkeit dort verharren würde.
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Ich werd nicht lügen, ich hab beim Schreiben tatsächlich geheult. Solche Szenen verfolgen mich leider immer bis tief in den Schlaf, weshalb ich sie eigentlich meide, aber naja ... das Leben ist wohl immer noch kein Ponyhof.
Noch maximal 2 Kapitel ahead, dann ist die Forbidden-Revenge-Welt tatsächlich zu Ende ... ich kann es kaum fassen. Hab immer noch zu gut im Kopf, wie ich Forbidden damals innerhalb von drei Tagen runtergeschrieben hab - den ganzen Tag lang, mitten in der Nacht, auf Autofahrten, sogar im Kuhstall meiner Eltern ... das war ein Erlebnis. Okay, jetzt nicht wieder heulen, das heb ich mir für den wirklich allerletzten Schluss auf.
Vielen Dank an euch fürs Lesen, Voten und Kommentieren <3
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