Kapitel 17

NIALL

Es war kühl. Nicht im Sinne von spätherbstlich eisig, sondern tatsächlich auf angenehme Art und Weise. Nicht ganz so angenehm war allerdings die ziemlich harte, unbequeme Unterlage, auf der ich mich befand.

Verwirrt drehte ich mich auf die Seite, ohne die Augen zu öffnen, doch ein stechender Schmerz hinter meiner Stirn ließ mich in der Bewegung innehalten. Verdammt. Was zur Hölle?

Und dann trafen mich die Erinnerungen wie ein Schlag ins Gesicht.

Unser Versteck. Das Zusammentreffen mit dem Einsatzteam im Kaufhaus. Die Verhandlung mit Adams Leuten, zu der Zayn, Louis und Harry aufgebrochen waren. Liams Verrat.

Das letzte Stichwort schmerzte noch mehr als meine dröhnenden Schläfen, die noch immer gegen die Faustkollision im Zuge meines letzten Kampfes protestierten, in dem ich von den Einsatzkräften meines Vaters überwältigt und buchstäblich niedergestreckt worden war.

Liam hatte mich ausgeliefert, meine Freunde, meine einzigen Anker in den letzten Monaten, eiskalt verraten. Es grenzte an ein Wunder, dass Zayn und Louis genau zu der Zeit aufgrund der Verhandlungen mit Adam abwesend gewesen waren, ansonsten hätte mein Vater uns alle drei auf dem Silbertablett serviert bekommen. Oder hatten sie ihnen nach dem ersten nur halb erfolgreichen Zugriff aufgelauert?

Wütend knirschte ich mit den Zähnen, als mir bewusst wurde, dass ich im Prinzip keine Ahnung hatte, was gerade vor sich ging – zur Hölle nochmal, ich wusste ja nicht einmal, wie lange sie mich wortwörtlich im Finstern gelassen hatten.

Ich konnte nicht auf ewig hier vegetieren. Wo auch immer hier sein mochte.

Ächzend stemmte ich mich im Leitlupentempo in eine aufrecht sitzende Position, das ekelhafte Stechen hinter meinen Schläfen verbissen ignorierend, bevor ich schließlich blinzelnd die Augen öffnete.

Fast hätte ich lauthals gelacht.

War das sein Ernst? War das wirklich sein vermaledeiter Ernst?

Mein Vater hatte mich tatsächlich in die Häftlingszelle gesteckt. Noch dazu die Zelle in unserer alten Einsatzzentrale, die von der Malik-Gang bereits ganz zu Beginn ausfindig gemacht worden war. Was genau hatte ihn dazu bewegt, die Räumlichkeiten wieder zu aktivieren? Oder waren sie womöglich überhaupt nicht verlassen worden? Welche Ironie. Da hatten wir eine komplette Woche nur wenige hundert Meter voneinander entfernt in unseren eigenen Löchern versteckt gelebt, ohne von der Präsenz des jeweils anderen zu wissen.

Das Emotionchaos im arbeitsfähigen Teil meines Gehirns drohte mich zu überwältigen, als metallisches Schleifen meine Aufmerksamkeit erregte. Die Metallklappe vor dem Blickfenster der Zelle war auf ihrer Schiene zur Seite geschoben worden, sodass ich freie Sicht auf ein mir unbekanntes Gesicht hatte, das nun zu mir hereinspähte.

„Mr Horan, er ist bei Bewusstsein."

Unwillkürlich straffte ich meine Körperhaltung und holte tief Luft. Auf keinen Fall würde ich mich meinem Vater gegenüber als Schwächling zeigen, der aufgrund seiner zahlreichen physischen Einschränkungen als Resultat der letzten kampflastigen Monate nicht mehr zu seiner eigenen Verteidigung imstande war.

Das fremde Gesicht vor dem Sichtfenster verschwand und wurde ersetzt durch das meines Vaters. Im Rahmen der räumlichen Begrenzung des Sichtfelds durch den geringen Durchmesser des Fensters konnte ich lediglich seine Augen und einen Teil seines Gesichts sehen, aber das genügte, um mir seine übliche starre Miene zu Gemüte zu führen.

„Niall." Seine Stimme verriet nichts über die Vorgänge im Inneren seines Kopfes. „Wie fühlst du dich?"

Schweigend erwiderte ich seinen Blick, betont gleichgültig und ohne jegliches Gefühl. Darin war ich ziemlich gut. Immerhin hatte ich mein Leben lang von einem Menschen gelernt, der diese Darbietung perfektioniert hatte.

Als mein Vater begriff, dass er von mir keine Antwort mehr bekommen würde, seufzte er. Enttäuscht? Genervt? Wütend? Besorgt mit Sicherheit nicht.

„Niall, wir müssen reden." Er hielt inne, als erwartete er allen Ernstes eine Reaktion von mir.

Die bestand weiterhin aus ausdrucksloser Stille. Hatte er wirklich gedacht, er könnte sich nach Aktionen von solchem gewalttätigen Ausmaß mir gegenübersetzen und mit mir plaudern, als wäre nichts vorgefallen? Nachdem seine Leute mich körperlich angegriffen, verletzt und mit tödlichen Schusswaffen bedroht hatten? Zu dessen Freigabe der Befehl nur von ihm hatte kommen können?

Wenn wir es nicht zuvor schon gewesen waren, so waren wir nun geschiedene Leute. Ich war neugierig, wie lange er brauchen würde, um das zu registrieren.

Der Einsatzstellenleiter schnaubte kaum hörbar, richtete den Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Füße und wandte sich dann wieder mir zu. Diesmal glaubte ich etwas in seinen Augen zu erkennen, das nicht die gewöhnliche Leere darin präsentierte, sondern nach dem Ansatz eines undefinierbaren Gefühls aussah. Was auch immer es gewesen war, es verschwand beinahe sofort wieder, als mein Vater seine Statur wieder unter Kontrolle brachte. „So soll es nun also in Zukunft zwischen uns sein? Wir können einander nicht anblicken, ohne dabei Magenschmerzen zu bekommen? Wir können nicht einmal mehr ganz objektiv miteinander reden?"

Fast hätte ich gelacht. Das ganz objektiv hatte in diesem Satz natürlich nicht fehlen dürfen. Emotionen durfte man in einer professionellen Familie nicht zeigen – schon gar nicht, wenn der einst so verbissen behütete Sohn mit Verbrecher Nummer Eins der Stadt durchgebrannt war.

Meinem Vater schien das minimale Zucken meiner Mundwinkel nicht entgangen zu sein, denn er ließ erneut kopfschüttelnd ein Seufzen hören. „Also gut. Lass es mich wissen, wenn du bereit bist, mit uns zu kooperieren."

Das Ich hätte Besseres von dir erwartet hing unausgesprochen und so schwer in der Luft, dass es beinahe greifbar war. Mein früheres Ich wäre wohl spätestens jetzt daran erstickt und hätte die ganze Maske in sich zusammenfallen lassen, aber die Erlebnisse der letzten Monate hatten mich erschreckend effektiv abgestumpft, sodass die negative Ausstrahlung meines Vaters nun an mir wie an einer Steinwand abprallte. So schnell würde er mich nicht weichgeklopft kriegen.

Nachdem die metallene Klappe wieder zugeschoben worden war, verharrte ich weiterhin in meiner bisherigen Position auf der Kunststoffpritsche, die an der langen Wand der kahlen Zelle gegenüber der Tür angebracht war, und lauschte angestrengt auf mögliche Gespräche auf dem Gang. Die Zentrale im Kaufhaus war nicht besonders groß, sodass man auch durch zwei geschlossene Türen hindurch Worte recht gut zu verstehen vermochte, aber bis auf ein gedämpftes Murmeln drang nichts an meine Ohren. Sie mussten sich also wirklich Mühe geben, jeglichen unfreiwilligen Informationsfluss zu mir zu unterbinden.

Mein Blick wanderte zu dem leise brummenden Lüfter in den Deckenpanelen in der linken Ecke der Zelle. Wie oft hatten Harry und ich uns vor scheinbar so langer Zeit einen Spaß daraus gemacht, das Ding mit einigen geübten Tricks stillzulegen und zum Spaß aus der Zelle auszubrechen? Grundsätzlich könnte ich tatsächlich über die Lüftungsschächte des Kaufhauses fliehen – das war eben der Nachteil daran, wenn man jemanden hier drin einsperrte, der einen großen Teil der Kindheit in dieser Zentrale verbracht hatte. Das Problem war allerdings, dass man die Decke nur eine Staffelei, einen Kasten oder die Räuberleiter einer helfenden Person erreichen konnte. Aber das störte mich im Augenblick noch nicht allzu sehr. Wo sollte ich im Moment auch hin, selbst wenn ich mich befreien könnte? Außerdem war ich zugegebenermaßen durchaus neugierig, wie sich die Situation entwickeln würde. Vielleicht konnte ich Zayn von innen heraus irgendwie zur Hilfe kommen, falls es für ihn und seine Leute brenzlig werden sollte.

„Hey."

Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie sich erneut jemand an die Kommunikation mit mir gewagt hatte – und dieses Mal schaffte ich es nicht, meine Maske zu wahren.

„Greg!" Wie von selbst lösten sich meine Arme aus ihrer Verschränkung, als ich aufsprang. Im selben Moment schlug eine unbarmherzige Welle des Schwindels über mir zusammen und ließ mich seitwärts gegen die Pritsche taumeln, eine Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Stirn gepresst. „Fuck."

Ich hörte, wie sich, begleitet von dem charakteristischen Warnton, die elektronische Verriegelung der Tür löste, und im nächsten Moment fühlte ich eine vertraute Hand, die sich haltgebend auf meinem Rücken platzierte. „Hey hey hey. Sieh mich an."

Unerwartet drängte sich Übelkeit an die erste Stelle meines Empfindungsvermögens. Oh nein. Auf keinen Fall würde ich mich jetzt übergeben. Diese Blöße würde ich mir nicht geben.

„Ni." Die Stimme meines Bruders war unglaublich ruhig, und dennoch auf unerklärliche Weise gleichzeitig erstaunlich eindringlich. „Hey."

Ich wollte antworten. Das wollte ich wirklich. Aber da in mir der begründete Verdacht schwelte, meinen Mageninhalt nach außen zu kehren, sobald ich auch nur den Mund aufmachte, ließ ich es bleiben. Stattdessen kniff ich die Augen zusammen, konzentrierte mich auf meine Atmung und versuchte verbissen, die Übelkeit in Schach zu halten.

Greg neben mir fluchte leise. „Idioten!" Seine Sprechrichtung verlagerte sich um einen Ticken, als er danach die Stimme erhob, weshalb ich vermutete, dass jemand an der Tür aufgetaucht war. „Was habt ihr euch nur dabei gedacht, ihn nicht durchzuchecken?! So wie Wes ihn erwischt hat, ist das mit Sicherheit eine schöne Gehirnerschütterung. Haben wir noch Ibuprofenspritzen? Tabletten wird er wahrscheinlich nicht lange behalten."

Eine weibliche Stimme murmelte eine Antwort, die ich nicht verstand, doch als ich es endlich fertigbrachte, die Augen zu öffnen, lag die geöffnete Zellentür unbemannt vor mir. Behutsam drehte ich den Kopf ein Stück zur Seite, um nicht die nächste Schwindelattacke zu provozieren, und traf prompt auf den besorgten Blick meines älteren Bruders. Dreitagebart, dunkles Haar, leicht rundliches Gesicht, eine schmale Sorgenfalte an der Stirn ... er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Allerdings wirkte er ... älter. Ernster, irgendwie abgearbeiteter. Als hätte die Zeitspanne, in der wir uns nicht gesehen hatten, enorm an seinen Energiereserven gezehrt.

Völlig unvermittelt traf mich ein Anflug des schlechten Gewissens. Hatte ihm meine Abwesenheit wirklich so sehr zugesetzt? War es wirklich richtig von mir gewesen, ein derartiges Schwarz-Weiß-Denken gegenüber unseres Familienunternehmens zu entwickeln?

Mein Vater hatte mit Gewalt versucht, mir seinen Willen aufzuzwängen, und würde es auch wieder tun, davon war ich überzeugt. Allerdings hatte ich, bewusst oder unbewusst, alle anderen Leute meines alten Lebens mit in diesen Topf geworfen – und an Greg hatte ich aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen fast überhaupt nicht gedacht. Von ihm konnte man das im umgekehrten Blickwinkel wohl nicht behaupten, wenn man sich seine körperliche (und wohl auch psychische) Verfassung so ansah.

„Hey, Greg." Peinlich berührt räusperte ich mich, als mir die Stimme auf halbem Wege wegbrach. Wie lange hatte ich sie schon nicht mehr benutzt? Oder besser: Wie lange war ich nicht bei Bewusstsein gewesen, um sie überhaupt zu benutzen hätte können?

Greg musterte mich eine gefühlte Ewigkeit lang, während Emotionen unterschiedlichster Art über sein Gesicht huschten. Erleichterung, Sorge, Freude, Wut, Hilflosigkeit ... und noch so vieles mehr, das ich in meinem benebelten Zustand nicht richtig wahrzunehmen vermochte.

Und dann, als ich schon damit rechnete, dass er, wie ich vorhin unserem Vater gegenüber, auf unantastbar schalten würde, zog er mich plötzlich in eine derartig knochenbrechende Umarmung, dass ich um das Wohlergehen meiner Rippen zu fürchten begann. Nachdem der Schock über diesen plötzlichen Körperkontakt überwunden war, schaffte ich es schließlich, die Umarmung zu erwidern und mich ihr hinzugeben. Wie lange hatten wir Brüder uns schon nicht mehr umarmt?

Greg gab ein merkwürdiges, schniefendes Geräusch von sich, und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er mit aller Mühe versuchte, die Tränen zu unterdrücken.

„Greg." Unwillkürlich lächelnd drückte ich seine Schulter. „Greg, ich kann nicht atmen. Ich werde mich nicht sofort in Luft auflösen, du kannst mich also wieder loslassen. Versprochen."

Erst nach einigen Momenten kam Greg meiner Aufforderung nach, während er sich verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Ein ungläubiges Lachen entschlüpfte seinen Lippen, bei dem wie von selbst meine Augenbrauen nach oben wanderten. „Ich habe dich noch nie so dermaßen von der Rolle erlebt."

Mein Bruder fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, bevor er erneut lachte. „Tut mir leid. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal." Er zögerte. „Du wirst es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich hatte eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben, dich jemals wiederzusehen. Ich hatte angenommen, ihr wärt schon längst über die Ländergrenzen hinweg abgehauen."

Die Verletztheit in seinen Worten versetzte mir einen unguten Stich und bestätigte mein rabenschwarzes Gewissen dahingehend, dass auch ich in dieser verkorksten Situation verdammt egoistisch gehandelt hatte.

„Es tut mir leid, Greg. Wirklich." Es war die reine Wahrheit. „Ich ... war so wütend, dass ich nie so richtig realisiert habe, dass das nicht nur eine Sache ist zwischen Dad und mir, sondern dass ihr alle mit drinhängt." Ein schmerzvoller Stich quer durch den Schädel ließ mich zusammenzucken, doch ich riss mich zusammen, als sich wieder dieser prüfend-sorgenvolle Ausdruck in Gregs Blick schlich. „Wo ist Mum?"

Mein großer Bruder schien mit sich zu kämpfen, abwägend, wie viel er mir gegenüber preisgeben durfte. Immerhin zählte ich wohl mittlerweile zum Feind. „Sie ... nun ja. Sie wurde suspendiert, als man mithilfe der Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Einkaufszentrum herausgefunden hat, dass sie dich gestern hat laufen lassen." Er senkte den Blick. „Ihr sind Zutritt zur Zentrale und der Zugang zu aktuellen Ermittlungsdaten untersagt. Befehl vom Chef."

Erneut wurde mir schlecht, dieses Mal jedoch eher aufgrund dieser neuen Information. „Dad hat sie ... rausgeschmissen? Dreht er jetzt komplett durch?" Fassungslos irrte mein Blick im Raum umher. „Das hat sie aber sicherlich nicht so gut aufgenommen, schätze ich."

Greg schnaubte beherzt. „Das ist eine absolute Untertreibung, das sag ich dir. Um ehrlich zu sein, wundert es mich, dass sie ihn noch nicht verlassen hat. Während du mit diesem Malik- ..." Er brach ab und räusperte sich. „Während du weg warst, ist er mit jedem Tag ein größerer Hitzkopf geworden. Überstürzte Einsätze. Schlechte Entscheidungen. Zoff mit anderen Teamleitern. Es war ..."

Ein schwacher Luftzug wehte durch die Zelle, als jemand hereintrat und Greg eine Spritze und eine kleine luftdichte Verpackung hinhielt. „Hier." Lange braune Wellen, Grübchen in den Wangen, große leuchtende Augen.

Eleanors Blick fixierte sich auf mich, verriet jedoch nicht viel über ihre Emotionen. „Hi, Niall. Schön, dich mal wieder in Person zu sehen." Auch wenn ihre Worte nicht direkt einen Vorwurf in sich bargen, so trieften sie doch vor unverhohlener Bitterkeit. „Wir hatten schon fast nicht mehr damit gerechnet."

Ich schluckte trocken und brachte lediglich ein Nicken zustande dessen Bedeutung von simpler Begrüßung über eine Art von Entschuldigung bis hin zu anderen emotionalen Weiten reichte, die ich nicht einmal selbst alle einordnen hätte können. Worte schienen mir unmöglich zu sein.

Mit verschränkten Armen lehnte sich meine ehemalige Kollegin in den Türrahmen und sah Greg dabei zu, wie er die luftdichte Verpackung aufriss und ein feuchtes Tuch daraus hervorzog. Dann schnappte er sich kurzerhand meinen linken Arm, um dort, nachdem er die entsprechende Stelle mit dem desinfektiösen Tuch gereinigt hatte, verblüffend fachmännisch das Schmerzmittel zu injizieren.

„Wow, Greg." Ungläubig sah ich zu im auf. „Hast du in der kurzen Zeit, in der ich nicht da war, eine medizinische Ausbildung gemacht?"

Greg schenkte mir ein trauriges Lächeln. „Ich habe mir einiges angeeignet, nachdem ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie schnell ein einziger Schuss oder Schlag einen von uns dahinraffen kann."

Ich runzelte die Stirn und brauchte eine Weile, bis ich kapiert hatte, dass er auf meinen Beinahe-Tod in Folge von Adams verhängnisvoller Kugel anspielte.

„Ach, komm schon", entgegnete ich schließlich ziemlich lahm. „Wieso scheint das für jeden so ein Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte zu sein? Es ist ja nicht so, als sei ich tatsächlich gestorben."

Eleanor ließ ein ungläubiges Schnauben hören. „Siehst du, Niall, genau das ist dein Problem. Du bist dir selbst nicht genug wert. Wenn du auch nur einmal mehr auf dich und deine Gesundheit achten würdest, anstatt ..."

„Anstatt mich gegen Dads Regime hier aufzulehnen?", schnitt ich ihr verärgert das Wort ab. Das war genau die Themenrichtung, in die ich dieses Gespräch nicht so schnell hatte abdriften lassen wollen. „Auf mich und meine Gesundheit achten, alles klar. Das haben grundsätzlich schon genug andere Leute gemacht, da musste ich mich selbst gar nicht darum kümmern."

Wie aus dem Nichts spürte ich plötzlich Wut in mir auflodern. „Das war ohnehin ein steiler Gesinnungswechsel, den ihr da hingelegt habt, alle Achtung! Von Nein, Niall darf doch nicht alleine auf die Straße gehen hin zu Ach, erschießen wir ihn am besten und sperren ihn wie einen Schwerverbrecher in die Zelle, das nenne ich Abwechslung. Ich weiß ja, dass unser Verhältnis die letzten Monate ziemlich zerrüttet gewesen ist, aber kommt schon, Leute! Auf mich schießen? Das ist wirklich das Letzte."

„Du bist in den Augen des Einsatzkommandos Mittäter der Malik-Gang", stieß Greg zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Du bist Zayn Maliks Komplize und engster Vertrauter und musstest in Gewahrsam genommen werden."

Ich lachte freudlos auf. „Ich bitte dich! Wir wissen alle, dass es nicht so simpel ist. Ich muss euch ja perfekt ins Komplizenschema passen, wenn ihr mich mit geladener Schusswaffe bedroht und mir das Hirn zu Matsch schlagt, um mich in Gewahrsam nehmen zu können." Unwillkürlich gewann meine Stimme an Lautstärke. „Hat Dad euch etwa befohlen, mich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu fassen? Egal, ob ich dabei womöglich draufgehe? Das ..."

„Spinnst du?!", fiel mir Greg schäumend vor Wut ins Wort. „Weißt du überhaupt, was du uns da vorwirfst? Niemals würden wir ..."

„Mich besinnungslos schlagen, um mich gegen meinen Willen zu verschleppen?" Jäh aufflackernder Kopfschmerz ließ mir die Hände an die Stirn schnellen, doch ich dachte gar nicht daran, diese Diskussion vorzeitig zu beenden. „Tut mir leid, das so brüsk formulieren zu müssen, aber genau das habt ihr GETAN."

„Das war entgegen der Befehle", gab Greg hitzig zurück. Sein Kopf war hochrot angelaufen und sein Blick huschte nervös im Raum umher, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er nun mit mir weiter streiten oder sich um meinen Gesundheitszustand Sorgen machen sollte. „Befehl war es, dich UNBESCHADET zum Mitkommen zu bewegen, um ..."

„Das reicht."

Diese beiden kühlen Worte aus dem Mund unseres Vaters reichten aus, um das Gespräch restlos zu ersticken. Eleanor, die hilflos zwischen uns Brüdern hin- und hergesehen hatte, zog augenblicklich den Kopf ein und verschwand irgendetwas murmelnd im Gang. Greg erhob sich steif, behielt jedoch eine Hand an einer meiner Schultern, als mein Oberkörper nach vorne zu sacken drohte. Die Injektion schlug allmählich spürbar an, aber dennoch viel zu langsam, um einen sofortigen Effekt der Besserung zu erzielen.

„Greg, ich wäre dir enorm dankbar, wenn du es unterlassen würdest, geheime Vorgehensweisen des Einsatzkommandos offenzulegen." Seine Stimme klang ungerührt, ebenso wie sein Blick abweisend blieb, als er mich scheinbar flüchtig streifte. „Mach den Verhörraum startbereit. Wir haben ein Gespräch zu führen."

Ungläubig starrte ich die beiden an. „Ihr wollt ... mich verhören? Ist das euer Ernst?"

Mein Vater fixierte mich mit einem nachdenklichen Blick. „Du lässt uns keine Wahl. Der Fall Zayn Malik hat laut Polizeipräsidenten oberste Priorität. Greg?"

Greg biss sich auf die Lippe und seufzte. „Dad." Obwohl er die Stimme zu einem kaum hörbaren Wispern gesenkt und sich zu unserem Vater hinübergebeugt hatte, konnte ich seine Worte verstehen. „Er hat eine Gehirnerschütterung wie aus dem Bilderbuch und du willst ihn durch ein knallhartes Verhör schleifen? Was ist nur in dich gefahren?"

Das Gesicht meines Vaters blieb eine Maske. „Die schnelle Ingewahrsamnahme von Malik steht ganz oben. Hierzu müssen eben ein paar Opfer gebracht werden."

Entsetzen machte sich in Gregs Augen breit. „Dad. Das ist Niall, über den wir hier sprechen! Willst du mir wirklich weismachen, dass dich das alles kaltlässt?"

Unser Vater drehte sich um und verließ die Zelle. „Fünf Minuten."

Damit war meine Rolle in diesem Fall wohl endgültig besiegelt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top