Erzähl von dir...

„Erzähl von dir."
Das ist der Ratschlag, den ich vor einer Weile von einer anderen Aktivistin bekommen habe.
„Persönliche Geschichten berühren uns am meisten. Ihre Kraft entsteht durch ihre Wahrheit, deine eigene Verletzlichkeit und den Gedenken, dass das alles dort draußen wirklich passiert."

Diese Geschichte ist wahr. Sie erzählt nach bester Erinnerung aus meinem Leben. Genauer gesagt davon, wie ich mit der Letzten Generation nach Berlin gefahren bin, um für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen auf die Straße zu gehen.
Da ich mir nicht von allen Aktivisten die Namen merken konnte oder das Einverständnis einholen, über sie zu schreiben, habe ich mir Pseudonyme ausgedacht. Aber auch ihre Geschichten sind wahr.

Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen, 🤗
A-C.

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Sonntag, Mai 2023
Es ist 8 Uhr morgens. Ich sitze am Bahnhof und die Augen fallen mir fast zu. Ich denke an mein Zuhause. Das Bett, in das ich mich jetzt nach der Nachtschicht gerne legen möchte. Meine Familie, denen ich noch nicht erzählt habe, dass ich die nächsten Tage nicht nach Hause kommen werde. An die Kollegin, die so nett war, mit mir Dienste zu tauschen, damit es sich für mich lohnt, im Nachtdienst-frei nach Berlin zu fahren, um mit der Letzten Generation für den Erhalt unserer Erde auf die Straßen zu gehen.

Ich schlucke. Es fühlt sich komisch an, nicht an meinem Heimatort auszusteigen, sondern einfach immer weiter in den Norden zu fahren. Von Zuhause abzubauen, um Straftaten zu begehen. Meine Eltern werden ganz bestimmt nicht begeistert sein. Zeit, mir im Voraus eine Fahrkarte zu buchen, hatte ich nicht. Und so fahre ich einfach drauf los.
Ich öffne WhatsApp und fange an zu tippen:
"Hi Leute,
nicht wundern, ich komme heute nicht nach Hause. Ich fahre nach Berlin. Bin Donnerstagabend wieder da. Werde mit der Letzten Generation auf die Straße gehen, aber regt euch bitte nicht zu viel auf. Ich weiß ihr seid dagegen, aber ich halte das für sehr wichtig. Deshalb hab ich euch vorher nichts davon erzählt. Hab euch lieb und bis Donnerstag."
Es dauert eine Weile, bis ich Antwort bekomme. Die Reaktionen sind nicht ganz so aufgebracht wie beim letzten Mal, auch wenn das absolut nicht heißt, dass irgendjemand aus meinem näheren Umfeld mit meinem Aktivismus einverstanden wäre.
Ich werde darauf hingewiesen, dass festkleben dumm und peinlich ist, ohnehin nichts bringt und ich mich unter keinen Umständen selber festkleben soll, weil das gefährlich ist. Ich antworte, dass ich mich trotzdem festkleben werde und sie mich nicht davon abhalten können. Warum, das habe ich schon oft genug zu erklären versucht.
Ich mache mein Handy aus, um Akku zu sparen, versuche die Gedanken beiseite zuschieben und ein bisschen zu schlafen. Nur, dass das nicht so einfach ist, wenn der ganze Zug überfüllt ist, man häufig umsteigen muss und keinen Sitzplatz bekommt, weil man vorher keine Zeit hatte, die Anfahrt zu planen. Schlussendlich läuft es darauf hinaus, dass ich doch überwiegend am Handy hänge, versuche, herauszufinden, wo ich heute Nacht schlafen kann und an welchen Aktionen ich die nächsten Tage teilnehmen kann. Es gibt ein Hostel, in dem die Letzte Generation Zimmer gemietet hat. Ich kenne niemanden und trage mich einfach irgendwo ein. Für den nächsten Tag melde ich mich als Unterstützung bei einem Protest, wo der Verkehr auf einer großen Autobahn erst heruntergebremst werden soll, damit Aktivisten sich dann mit der einen Hand an den vordersten Autos festkleben können und die andere Hand zur Fixierung auf die Straße betonieren. Ich soll den Aktivisten den Beton anreichen und ihrer zusätzliche, freie Hand sein. Einer der Aktivisten meldet sich bei mir, um mir die nötigen Informationen zur Aktion und unserer Unterkunft zu geben. Vermutlich werde ich erst gegen Mitternacht in Berlin ankommen. Die Aktion am nächsten Morgen startet kurz vor 7 Uhr. Er fragt, ob ich trotzdem dabei sein möchte.
"Sicher", antwortete ich. "Wenn ich schon extra so lange nach Berlin fahre, soll sich das schon lohnen."
Bis ich schlussendlich in der Unterkunft bin, ist es kurz nach 3 Uhr morgens. Schuld ist eine ziemliche Zugverspätung und die Tatsache dass nachts kaum öffentliche Verkehrsmittel durch Berlin fahren, ich mich ziemlich verfahre und dann beschließe, zwei Stunden zu Fuß zu laufen, weil ich da im Gegensatz zum Nachtbus-, U- und S-Bahnnetzt wenigstens checke wie es geht.
Gut, dass meine Eltern nicht wissen, dass ich nachts alleine über zwei Stunden quer durch Berlin laufe.
Als ich ankomme, bin ich völlig durchgefrohren und todmüde. Leise schleiche ich mich in das vereinbarte Zimmer. Alle anderen schlafen. Im Halbdunkeln suche ich mir ein freies Bett, stelle den Wecker auf 5:30 Uhr und Decke mich mit meiner Jacke zu. Bettwäsche habe ich nirgends gefunden und ich will die anderen nicht wecken.

Montag, Mai 2023, Vormittag
Der Wecker klingelt. Einige der anderen Aktivisten sind schon auf den Beinen. Wir stellen uns kurz vor, ziehen uns schweigend an, verschwinden ab und an ins Bad. Manche auch mehrfach. Letzte Woche hat angeblich jemand vor Aufregung gekotzt, heute ist es nur alle 5 Minuten Pipi.
"Kommst du auch mit zur Aktion oder willst du erstmal ausschlafen?" flüstert mir einer der Aktivisten zu. Ich nicke. "Ich bin auf jeden Fall dabei."
Ich soll mir noch ein paar Minuten Zeit lassen. Die Leute im Nebenzimmer sind noch am Schauen, wie sie Kleber und Banner am unauffälligsten am Körper verstecken können.
Dann geht es los. Mit der U-Bahn durch die halbe Stadt. Der Aktivist neben mir ist ziemlich aufgeregt, auch wenn er schon an so vielen Aktionen teilgenommen hat, dass er langsam den Überblick verliert. Ständig nestelt er heimlich mit seinen Händen oder tritt von einem Fuß auf den anderen. "Mit der Aufregung wird es irgendwie nie besser," sagt die andere Aktivistin neben mir leise. Es ist inzwischen schon ihre achte Blockade. Heute wird sie wieder kleben.
Ich denke an morgen. Da werde ich dann auch wieder selber kleben. Hoffentlich haben wir dann Glück mit den Autofahrern.

Wir passieren mehrfach Polizisten, steigen unterwegs zweimal um. Alle halten jedes Mal die Luft an, versuchen, sich nicht umzusehen, die Polizisten nicht anzustarren und wenn sie schon öfters Polizeikontakt hatten, das Gesicht in die andere Richtung zu drehen.
Wir haben Glück und erreichen ohne aus dem Verkehr gezogen zu werden unser Ziel.
Die Ampel springt auf Grün und wenige Augenblicke später stehen fünf junge Leute auf der Straße, ziehen sich eilig ihre orangenen Warnwesten über und entrollen die Banner, um sichtbar zu sein, bevor die Autos wieder anfahren.
Augenblicklich beginnt ein Hupkonzert und mir wird bewusst, dass ich heute vermutlich aus Versehen bei der falschen Aktion gelandet bin. Hoffentlich geht es den anderen Aktivisten auf der Autobahn gut. Hoffentlich, hat die Aktion auch ohne mich geklappt. Es sind viele erfahrene Leute dabei, aber manchmal kommt es auch einfach nur auf eine zusätzliche freie Hand an. Bei ihnen melden kann ich mich nicht. In Aktion wäre es denkbar dumm, ein Handy mitzunehmen und zu riskieren, dass die Polizei an sensible Informationen kommt.
Es stellt sich heraus, dass dummerweise die Straßenblockade hier und die Leute von der Autobahn den selben Treffpunkt zur selben Zeit gewählt hatten und ich dummerweise mit der falschen Gruppe mitgegangen bin. Mir war in dem ganzen Organisationschaos am gar nicht aufgefallen, dass es überhaupt zwei Gruppen gab als wir von der Unterkunft aus aufgebrochen sind.
Ein Auto fährt über den Gehweg und ich stelle mich in den Weg. "Das ist ein Gehweg!" sage ich ruhig, aber bestimmt. "Halten Sie sich an die Verkehrsregeln und gefährden sich keine Fußgänger!"
Das Fenster wird heruntergelassen und eine Schimpftriade folgt. Wir seien hier die wahren Verbrecher, hätten zuerst angefangen, würden rechtschaffene Leute wie ihn von der Arbeit abhalten und sollten uns wenn dann in China festkleben. Ich versuche ihm zu erklären, dass sich unser Protest nicht gegen ihn richtet, dass Protest laut Forschung stören muss, damit er wirkt und er sich aber von mir aus sehr gerne zusätzlich in China festkleben kann, wenn er möchte. Er lacht darauf nur und sagt, dass er keine Lust hat, sich den Kopf von der chinesischen Regierung abschneiden zu lassen. Außerdem sei der Weg ihm zu weit und wenn Indien, Australien und die USA nicht auch mitmachen würden, dann hätte das eh alles keinen Sinn. Das Fenster geht wieder hoch, eine Radfahrerin schreit ihn an, dass er Platz machen soll und man mit dieser scheinheiligen Argumentation ja erst mit dem Klimaschutz anfangen kann, wenn die Welt schon untergegangen ist.
Derweil steigt auf dem anderen Fahstreifen ein Fahrer aus und nimmt den vor ihm auf dem Boden sitzenden Aktivisten, laut Beleidigungen brüllend, ihre Banner weg. Ein Radfahrer steigt ab, sammelt die Banner wieder ein und gibt sie den Aktivisten zurück. Der Autofahrer wird immer wütender und schreit den Radfahrer an. Der weiß nicht so ganz, was er sagen soll und bleibt stumm. Der Autofahrer beginnt wieder Banner wegzutreten, die der Radfahrer den Aktivisten wieder zurückgibt.
Die Polizei kommt und der Autofahrer scheint erleichtert. "Na endlich! Vercknacken sie diese Arschgeigen! Das ist Nötigung!" Die Polizei weißt ihn sehr bestimmt darauf hin, dass soetwas immer noch ihre Entscheidung sei und er als Fahrzeugführer nicht auf der Straße herumzulaufen habe. Eine Aktivistin bedankt sich beim Fahrradfahrer, er bedankt sich anschließend bei ihr für den Protest und ihren Mut.
Plötzlich taucht das britische Fernsehen wie aus dem Nichts auf und versucht, ein Interview von einem Aktivisten zu bekommen. Eine junge Frau läuft die Reihe der Aktivisten ab und fragt jeden einzeln, ob sie noch irgendwas brauchen. Tee, Kaffee, eine Brezel,...
Währenddessen versucht die Polizei mäßig erfolgreich, alle Passanten von der Straße zu bitten, um in Ruhe arbeiten zu können. Zwei Aktivisten kleben heimlich eine zweite Hand fest. Ein anderer Polizist geht die Reihe der Aktivisten ab und markiert den Boden vor jedem Menschen mit einer großen roten Ziffer aus Sprühkeide. Es wird nach Ausweisen gefragt und die Versammlung für beendet erklärt. Derweil gehen die Diskussionen am Straßenrand weiter.
Zwei ältere Damen über Fünfzig fangen an lautstark zu zetern und wild in Richtung der Aktivisten zu gestikulieren. Ich beschließe dazwischen zu gehen und zu versuchen, die Situation zu eskalieren, so gut ich kann. Das Problem ist, dass der Schlüssel für eine gelungene Deeskalation eigentlich auch eine gewisse Bereitschaft beim Gegenüber ist, deeskaliert zu werden. „Was seid ihr für Menschen?" brüllt die rothaarige Frau die Aktivisten an. „Genau, was seid ihr für Menschen? Ist doch abartig!" brüllt ihre weißblondgefärbte Freundin hinterher. Als ich es endlich schaffe, laut genug dazwischen zu reden, dass sie mich bemerken, scheinen sie wenig erfreut, dass es offensichtlich noch mehr „Verrückte" gibt. Aber wenigstens scheint ihre Aufmerksamkeit jetzt auf mir statt auf den anderen Aktivisten zu liegen, was gut ist, denn die anderen haben aktuell mehr als genug mit der Polizei zu tun.
„Ich kann verstehen, dass das alles auf den ersten Blick sehr absurd und willkürlich wirkt," setze ich an, werde aber sogleich von der Rothaarigen unterbrochen: „Abartig ist das!"
„Was halten sie davon, wenn wir zwei Schritte zurück gehen, die Polizei in Ruhe arbeiten lassen und das ruhig und erwachsen auf dem Gehweg weiterdiskutieren?"
„Mit euch kann man doch gar nicht diskutieren!" sagt die eine. „Det is doch der Gehwech hier," sagt die andere. Ist es aber nicht. Ich stehe knapp hinter dem Bordstein auf dem Gehweg, die beiden mitten auf dem Fahrradweg zwischen Straße und Gehweg.
Ich gehe ab und zu einen Schritt zurück, halte dabei aber die Konversation am Laufen. Sie folgen mir langsam aber sicher auf den Gehweg.
Nach einigem hin und her, lassen sie mir doch einmal kurz ein paar Sekunden Zeit, mich zu erklären, ohne ständig dazwischen zu grätschen: „Ich weiß, dass es nervt. Ich kann auch nachvollziehen, warum sich Leute aufregen, wenn sie wegen uns im Stau stehen. Wir machen das ja auch nicht gerne. Das Ding ist halt, dass der Klimawandel Menschenleben kostet und wenn wir nicht jetzt sofort als Gesellschaft auf die Bremse treten, dann wir das noch viele weitere Leben-"
„Ik sach euch mal, was Leben kostet: Wir arbeiten beide in der ambulanten Pflege und dat Insulin, det muss gespritzt werden. Wenn ik da och im Stau stehen würd, dann kriegt ihr keine Garantie," sagt die Blonde und schaut mich herausfordernd an.
„Mir würde sowas von die Hutschnur platzen! Ihr könnt doch keine arbeitende Bevölkerung blockieren! Ja watt seid ihr denn für Menschen?" kräht die andere.
Ich muss ein amüsiertes Lächeln unterdrücken. „Ich bin auch Pflegekraft. Ich habe auch schon in der Ambulanten Pflege gearbeitet und ganz ehrlich: Erstens ist man da so oft wegen unterschiedlichstem Zeug zu spät, dass man auch mal eine halbe Stunde wegen Klimaaktivisten verkraften kann. Zweitens, stirbt weder Opa Heinz noch Oma Hildegard, wenn sie ein paar Minuten später ihr morgendliches Insulin samt Tabletten bekommen noch trägt irgendjemand gesundheitliche Konsequenzen davon, wenn die Thrombosestrümpfe erst nach dem Frühstück angezogen werden. Aber wenn wir jetzt nicht gegen den Klimawandel aufstehen, dann sterben sehrwohl-"
„Watt hast du denn für ne Ahnung?" blökt die Rothaarige. „Watt bist du denn für ne Pflegekraft?"
„Dass du überhaupt noch arbeiten darfst so! Feuern sollte man dich! Auf der Stelle!"
Das britische Fernsehen wird auf uns aufmerksam und hält uns allen nacheinander das Mikro unter die Nase. Kein Wunder bei dem ganzen Geschrei. Zum Glück wird den beiden alles relativ bald zu doof und sie ziehen von Dannen.
Ich kriege von einem anderen Aktivisten Flyer in die Hand gedrückt. Ein junger Franzose spricht mich mit leuchtenden Augen an und fragt, für was hier demonstriert wird. Ich erzähle ihm von der Letzten Generation und er ist so begeistert, dass er gleich einen ganzen Stapel Flyer haben will. Für die Uni und alle seine Freunde. „Ça c'est le grève!" sagt er und radelt hastig davon, um nicht allzu spät zu seiner Vorlesung zu kommen.
Am Ende rede ich zusammen mit einer anderen Aktivistin mit einem ehemaligen EU-Abgeordneten, der mit Heavy-Metal-T-Shirt und Bierflasche des Weges kommt. „Ich war auch mal so wie ihr," sagt er. „Jung, motiviert, wollte die Welt verändern. Für die Armen wollte ich was machen. Da bin ich auch groß geworden. Hier in Berlin. Aber ich sach euch, da oben alles Idioten, die nur ihr eigenes Ego und ihre eigene Tasche im Kopf haben. Um uns gehts da längst nicht mehr." Er breitet die Arme aus: „Diese Welt wird untergehen. Deshalb genießt sie so lange ihr noch könnt!" Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Flasche und läuft davon.

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