Ein Quadratmeter Boden
Die meisten Leute besitzen im Schnitt eine 75 Quadratmeter große Wohnung. Manche sogar ein 210 Quadratmeter großes Haus mit Garten. Sehr wenige Glückliche können ein 600 Quadratmeter großes Anwesen mit parkähnlicher Grünanlage ihr Eigen nennen. Den Obdachlosen hingegen gehört die ganze Stadt. Wobei, genaugenommen steht es auch allen anderen frei zu gehen wohin sie wollen. Ihr Lebensraum ist unbegrenzt. Ein simpler Quadratmeter bedeutet ihnen nichts.
Für mich aber wäre er eine ganze Welt, ist mehr als ich je zu hoffen gewagt habe. Mein Leben beschränkt sich nämlich auf weniger als einen einzigen Quadratmeter.
Ich habe nichts. Es gibt niemanden, der mir helfen könnte. Ich glaube kaum, dass sich überhaupt jemals irgendjemand auch nur im Geringsten für mich und mein Schicksal interessiert hat.
Ich habe noch nie die Sonne gesehen, bin kein einziges Mal barfuß über eine Wiese gelaufen oder habe erfahren wie es sich anfühlt das machen zu können, was man wirklich selber möchte.
Ich lebe nicht, ich vegetiere.
Meine Brüder wurden direkt nach der Geburt vergast oder bei lebendigem Leibe in Stücke gehackt.
Nein, das hier ist keine Szene aus einem KZ in Nazi-Deutschland, das alles geschieht heute, jetzt, in diesem Augenblick. Und nein, ich lebe auch nicht irgendwo in Nordkorea oder einem anderen autoritären Regime.
Das alles geschieht hier in Europa, auch in Deutschland.
Wie kann das sein?, werdet ihr euch fragen. Doch seid beruhigt, das alles ist legal, steht zu keinstem Wiederspruch mit dem Gesetz.
Laut letzterem bin ich nämlich nicht mehr als eine Sache. Und so werde ich auch behandelt. Ich bin Nahrung, sonst nichts.
Darf ich mich vorstellen? Offizielle Bezeichnung lautet K4/340065/M6.
Ich bin eine Legehenne.
24 Stunden täglich für dich im Einsatz, damit du morgens dein Frühstücksei genießen kannst. Und das sieben Tage die Woche.
Seit Wissenschaftler herausgefunden haben, dass es die Eierproduktion steigert, brennt
Tag und Nacht das Neonlicht erbarmungslos auf uns herunter. Nie kann man zur Ruhe kommen, ständig wird einem vorgegaukelt es sei Tag. Anstatt zu schlafen soll ich das eklige Fertigfutter fressen und eierlegen.
Erst kürzlich haben sie Fischmehl als Futterzusatz entdeckt. Das ist billiger. Die schlechtere Eierqualität nehmen sie dafür gerne in Kauf.
Dass Fischmehl sich auch negativ auf unsere Gesundheit auswirkt kratzt sie wenig, man kann schließlich einfach die Antibiotikamenge im Futter verdoppeln.
Es stinkt nach Blut, gammelndem Futter und Exkrementen.
Ständig hackt irgendwer auf irgendwem herum und es fliegen die Federn. Aber das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich bei 6000 Hühnern in dieser Halle.
GACK, GACK, GACK
Verdammt noch mal, wie soll man denn bei diesem Krach schlafen? Aufgescheuchten Hühnerstall! Alles hysterische Hennen!
GACK, GACK, GACK
Auf der Verpackung werden sie natürlich nur glückliche Hennen auf grünen Wiesen zeigen. Wahrheit? Nicht unbedingt. Aber es fragt ja auch niemand danach.
Denn wer will schon dreckige, blutige Eier von halbtoten Hennen essen?
Du etwa?
Aber so ist das nun einmal mit der Wahrheit.
Jeder kennt sie, niemand will sie wahr haben.
Alle sind sie unschuldig.
Opfer des Systems.
Unterstützen?
Würden die meisten diese Barbarei kein bisschen. So lautet die offizielle Version. Doch insgeheim stimmen sie dem Massaker zu. Kaufen meine ungeborenen Kinder...
Ganze zweieinhalb Cent billiger als Bio-Freiland Eier.
Und die Konzerne genießen die indirekte Zustimmung des Volkes.
Und die Politik sieht zu.
FRIEDE, FREUDE EIERKUCHEN!!!
Dabei darf ich mich noch zu den glücklicheren Hennen zählen. Früher war alles noch viel schlimmer. Jahrelang hat sich für uns nichts geändert.
Denn inzwischen ist die EU eingeschritten. Hat beschlossen sich unserer zu erbarmen.
Nun läuft der Legebetrieb nach strengen EU-Richtlinien:
Ich habe Anspruch auf...
...720 cm statt nur 550 cm (Ich teile mir einen Quadratmeter nur noch mit ca. 9 Leidensgenossinnen statt 26), das ist aber immer noch weniger als ein DIN-A4 Blatt!
... artgerechtere Tötung, das heißt, erst Elektroschock oder wahlweise auch vergasen und erst dann in kochend heißes Wasser getunkt werden, um die Federn zu lösen!
...außerdem, wurde die konventionelle Käfighaltung weitgehend abgeschafft!
Gack, Gack, Gack!
Neben mir klagt eine Henne ihrer Nebensitzerin ihr Leid. Sie hat sich den Fuß gebrochenen als sie versucht hat durch das Gedränge an den Wasserspender zu kommen. Außerdem hat sie nur noch die Hälfte aller Federn. Sie wurden ihr ausgerissen, von den anderen Hennen. Sie sind verrückt geworden und aggressiv.
Wir alle hier könnten ein Lied davon singen. Krankheiten, gebrochene Gliedmaßen und entzündete Füße sind hier keine Seltenheit. Aber solange wir noch fähig sind immerzu Eier zu legen ist das egal. Und selbst wenn einige von uns nicht so lange wie geplant durchhalten, ist das nicht weiter schlimm. Sie haben umsichtiger Weise eine Verlustrate von 10% einkalkuliert.
Aber es ist nicht so, als würde man unser Dahinscheiden gerne in Kauf nehmen. Im Gegenteil, wir müssen uns schließlich rentieren. Deshalb auch Antibiotika und Co.
Außerdem wurden uns die Schnäbel als Küken gekürzt. Reine Vorsichtsmaßnahme, damit wir es schwerer haben uns gegenseitig die Federn auszurupfen, wenn wir es nicht mehr aushalten.
Hast du dich schon einmal mit einem sehr scharfen Messer geschnitten?
Dann kannst du dir vielleicht meine Schmerzen vorstellen, als man mir einfach so die Hälfte meines Schnabels entfernt hat. Entgegen der landläufigen Meinung ist der nämlich von unzähligen Nervenbahnen durchzogen und äußerst empfindlich. Noch Wochen danach war mein Schnabel wund und ich konnte kaum etwas fressen.
Aber es hat gewirkt.
Mir ist so schrecklich langweilig. Es gibt nichts was man tun könnte außer fressen und eierlegen und eierlegen und fressen. Man kann sich noch nicht einmal die Füße vertreten.
Und so breite ich meine Schwingen aus und erhebe mich in die Lüfte. In Gedanken, versteht sich. In Wirklichkeit sind meine Flügel natürlich viel zu sehr in Mitleidenschaft gezogen und meine Muskulatur ist viel zu schwach. Aber wie heißt es so schön?
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei!
Vor meinem inneren Auge sehe ich die anderen Hennen immer kleiner werden, ganz weit oben, nahe der Decke, befindet sich ein winziges Fenster, das ich von untern bisher nie bemerkt habe. Es steht offen und ich schlüpfe hindurch. Ich bin frei. Die Luft dort draußen ist so rein und frisch.
Ich schlage mit den Flügeln und der Wind trägt mich hinauf immer höher und höher. Die Farm unter mir wird immer kleiner und kleiner. Das elendige Leben dort lasse ich weit hinter mir zurück und fliege einer besseren Zukunft eingehen. Ich bin frei.
Das Quietschen der Stalltür reißt mich aus meinen Gedanken, holt mich zurück ins hier und jetzt. Es sind die Stallburschen.
Sie sollen die Eier aufsammeln. Ohne Rücksicht trampeln sie in unserem Käfig herum. Wir müssen selber darauf achten rechtzeitig aus dem Weg zu rennen, müssen uns darum kümmern nicht zermalmt zu werden. Wer nicht schnell genug ist, selber schuld.
"Hat du es schon mitbekommen?", fragt der eine Stallarbeiter den anderen. "Draußen vor dem Legebetrieb, demonstrieren sie wieder, die Ökos. "
"Ich weiß," sagte der andere."Sie haben die Zufahrt Nummer 2 blockiert. Die bilden sich doch ernsthaft ein, sie könnten mit dieser Aktion unsere Arbeit behindern. Aber die Polizei ist schon unterwegs."
"Können die ihren Aufwand nicht in sinnvollere Dinge investieren als in Tierrechte und Anti-Glyphosat Kampagnen?
Hast du schon mal ihre Schilder gelesen? Tiere haben auch Gefühle! oder, Schluss mit Tierquälerei! Das ist doch lächerlich."
Und es folgte eine endlose Diskussion über dämliche kleine Splitterparteien, die man nicht ernst nehmen kann und über die großen wichtigen Themen der Politik, wie zum Beispiel die Ehe für alle oder die weitere Förderung von Ostdeutschland.
Es sind die einzigen deutschen Mitarbeiter hier im Betrieb.
In der Regel werden die Arbeitskräfte nämlich im Ostblock angeworben. Man verspricht ihnen Geld und Anerkennung, wenn sie hier Arbeiten erledigen, für die wir Deutschen uns längst zu fein geworden sind.
Sie jagen einem Traum nach, der sich nur allzu bald als Alptraum entpuppt.
Auf sich allein gestellt in einem fremden Land, zusammengepfercht zu Hunderten in engen Arbeiterkasernen. Weit ab von der Zivilisation. Überstunden und Unterbezahlung, dafür, dass sie einen Job machen, den sonst keiner will.
Das versprochen Paradies in weiter Ferne.
Doch sie können sich nicht wehren. Die Ausländer. Die Herzlosen. Die Massenmörder.
Uns trifft keine Schuld. Wir sind die Guten, die Gerechten. Sind in keinster Weise mitverantwortlich für Schwarzarbeit in Deutschland und das Elend dieser Welt.
Wir sind unschuldig.
Opfer des Systems.
Die Todesstrafe ist etwas Grausames, sie wurde schon vor Jahren verboten.
Der Holocaust ein Desaster, dass nie wieder passieren darf, sagen wir.
So als wäre das alles längst Geschichte.
Aus und vorbei.
Aber es geht weiter.
Tag um Tag. Stunde um Stunde.
Massentötungen sind in dieser Branche Realität. Alltag und Tragödie zugleich.
Die meisten Menschen hier in Westeuropa sagen, sie könnten kein Tier töten. Dafür sind sie viel zu gutherzig. Heutzutage ist man nicht mehr so böse wie die Menschen früher, die noch ihre eigenen Haustiere geschlachtet haben.
Um über den Winter zu kommen.
Trotzdem. So was macht man einfach nicht. Die Tiere töten, die einem vertraut haben, die in deinen Garten spielten, mit dir spielten. Sie einfach so aus dem Leben reißen. Von Angesicht zu Angesicht.
Sie sagen es beiläufig, zwischen zwei Bissen. Zuhause, über einen Teller mit Steak gebeugt, oder im Stadtpark, eine Tüte mit Chicken Wings in der Hand.
Zum Glück ist die Situation heute gänzlich anders.
Ich habe noch nie im Garten gespielt, habe noch nie einem Menschen vertraut.
Wie auch?
Wenn sie mich ausschlachten, werde ich nicht mehr als ein anonymer Klumpen Fleisch sein. Einer von vielen.
75 Cent. Vielleicht 120.
Und in dem Moment, indem du das liest werden allein in Deutschland ca. 120 Masttiere geschlachtet. Ungefähr 5000 Europa.
Das macht über 57 Kilo Fleisch pro Jahr und Kopf.
Das Paradoxe ist, dass man die Menschheit viel besser ohne uns ernähren könnte.
Erstens: Entgegen gewisser Gerüchte ist der menschliche Körper nämlich keineswegs auf Fleisch als Nahrungsquelle angewiesen. Im Gegenteil. Gewisse Forscher hegen sogar den Verdacht, dass sich übermäßiger Fleischkonsum negativ auf die Gesundheit auswirkt.
Zweitens würde eine weitgehende Reduktion tierischer Nahrungsmittel es uns ermöglichen, besser gegen den Hunger in der Welt zu kämpfen. Denn um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen müssen im Schnitt ganze 8 - 12 Kilogramm pflanzliche Futtermittel aufgewendet werden. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ein beachtlicher Teil der Fleischerzeugnisse schon wieder weggeschmissen wird, bevor er überhaupt auf deinem Teller landet. Außerdem belasten Mastanlagen die Umwelt mit zirka 133 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Jahr. Auf diese Weise verursacht die Produktion tierischer Lebensmittel rund ein Viertel der weltweiten Treibhausgas Emissionen.
Du siehst, ich bin ein globales Thema. Aber trotzdem scheint sich kaum einer für mich zu interessieren.
Man isst seinen Hänchenschlegel abends vor dem Fernseher. Sieht das Elend der Welt und denkt sich, man müsste doch irgendetwas tun, gegen die Missstände auf dieser Erde.
Aber das Fleisch schmeckt einfach zu gut.
Doch was weiß ich denn schon von solchen Dingen? Ich bin ja schließlich nur ein dummes Huhn und einem Huhn wie mir steht es nun einmal nicht zu einen eigenen Willen oder gar eigene Meinung zu haben.
Aber ich sollte mich nicht beschweren, denn inzwischen bin ich schon 13 Monate alt.
Was mein Problem damit ist?
Nun ja, sagen wir mal so, eigentlich können wir Hühner bis zu zwanzig Jahre alt werden, aber spätestens in ein paar Wochen werden sie auch mich hohlen, abtransportieren und köpfen. Denn auch wenn wir Legehennen zu klapprig sind, um als Brathähnchen genutzt zu werden, so haben die Landwirte auch einen Weg der Gewinnmaximierung bei nicht mehr rentablen Subjekten gefunden.
Man verarbeitet uns zu Suppenpulver.
So kann ich ihnen selbst dann noch nützlich sein, wenn meine Legeleistung aufgrund der andauernden Strapazen nicht mehr rentabel ist.
Isst du eigentlich gerne Hühnchen?
Vielleicht werden wir uns dann ja einmal wiedersehen?
Auf deinem Teller?
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