Kapitel 1
♠Orion♠
Ich bin so müde. Doch gleichzeitig pumpt das Adrenalin durch meinen Körper. Wenn ich jetzt zur Ruhe kommen würde, würde ich sicher einschlafen. Einfach so.
Den ganzen Flug über rotiert mein Kopf.
Ein Flugzeugabsturz. Ein Toter, hunderte Verletzte. Ich bin so froh, dass es unmittelbar nach dem Start geschah und nicht Kilometer weit oben. In den Nachrichten meinten sie, es war ein Triebwerkschaden und dass die genaue Ursache noch ermittelt wird.
In den ganzen Jahren, es sind immerhin schon zehn, ist nichts passiert. Nie. Nicht mal ein Ausfall. Und jetzt sowas.
"Orion, kann ich dich was fragen?" Ich nicke Lee zu, der auf einem der bequemen Sessel gegenüber von mir sitzt.
"Also, ich habe mich gefragt...also der, wegen dem wir nach New York fliegen, ist aber nicht der Tote, oder?"
"Leroy!", kommt von Ibos Seite, gefolgt von einem strengen Zischen und Lee zieht sofort den Kopf ein.
"Entschuldige Orion, das war nicht sehr sensibel von Leroy." Ibos zorniger Blick streift Lee, der jetzt heftig nickt.
"Es tut mir leid", entschuldigt er sich und rutscht tiefer in den Sessel.
"Es ist okay. Nein ist er nicht, er lebt, aber musste notoperiert werden und liegt jetzt auf der Intensivstation", erkläre ich Lee, der sich nun wieder in seinem Sessel weiter nach oben schiebt und erleichtert ausatmet.
Ich reibe mir mit meinen Händen über die Augen, als ein leichtes Stück Stoff mich berührt. Ibo legt eine Decke über mich und dimmt die Leselampen über mir.
"Schlaf doch noch ein wenig, in zwei Stunden etwa landen wir. Du brauchst jetzt deine ganze Kraft."
"Danke." Lächelnd zieht er sich zurück und lässt mich allein.
Wer hätte gedacht, dass Ibo so fürsorglich sein könnte. Ich habe ihn damals kennengelernt, als er mit Lee ins Resort kam. Unnachgiebig, streng und kalt. Immer ganz der Geschäftsmann. Doch auch Lee hat sich verändert. Natürlich redet er immer noch ohne nachzudenken, zumindest oft, doch das ignorieren wir meistens, denn mittlerweile bewegt er sich nicht mehr unter der Gürtellinie. Was zu hundert Prozent an Ibos Einfluss liegt.
Ich merke wie mir die Augen immer mal wieder zufallen und ich sie erschrocken wieder aufreiße, bis ich sie dann doch geschlossen lasse und weg döse.
Knapp drei Stunden später stehe ich mit meinem Koffer in der Hand vor dem Krankenhaus. Mit fast zehn Grad Temperaturunterschied zu Windington fröstelt es mich hier schon ein wenig.
Auf meinem Weg hinein hole ich mir deswegen am Kaffeewagen einen Milchkaffee und wende meine Schritte dann in Richtung Intensivstation. Die Krankenschwester erklärte mir den Weg am Telefon. Mich wundert es, dass ich ihn mir überhaupt gemerkt habe. Doch im Gegensatz zu knapp 8 Stunden früher am Tag, bin ich jetzt nicht mehr so schockiert. Aufgeregt und ängstlich, ja, aber zumindest mit dem Kopf bei der Sache.
Am Telefon konnte sie mir die genauen Verletzungen noch nicht mal sagen, da er gerade mal zwanzig Minuten bevor sie mich anrief, eingeliefert wurde. Sie hatten von der Fluglinie wohl alle Vorsorgeinformationen direkt erhalten und brauchten von mir vor allem grünes Licht, um sich abzusichern.
Aber Not-OP bedeutet sicher nichts Gutes.
In der Etage angekommen, gehe ich auf die Zimmernummer zu, die mir die Krankenschwester nannte. Vor der riesigen Glasschiebetüre bleibe ich stehen und sehe zu dem Mann, der in diesem Bett liegt, als würde er nur schlafen.
Tränen drängen sich nach oben, doch ich lege den Kopf in den Nacken und kämpfe sie zurück.
Dieser Mistkerl sieht sogar in diesem Zustand immer noch verdammt heiß und wunderschön aus. Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht.
Er liegt da, als wäre er mit sich und der Welt im Reinen. Seine Gesichtszüge sind so entspannt wie schon lange nicht mehr.
Dieser Gedanke mag nicht unbedingt richtig sein, aber vielleicht ist das, was hier passiert ist, gerade das Beste, was hätte passieren können, denn so ist er gezwungen, mal einen Gang runter zu schalten und zur Ruhe zu kommen.
Als Pilot hat man eh schon zu wenig freie Zeit, die meiste davon verbringt er nicht einmal zu Hause. Zuhause. Er hat nicht mal ein richtiges Zuhause.
Ich öffne die Türe, schiebe meinen Koffer voraus, stelle meinen Kaffee auf den kleinen Beistelltisch und streiche Chris über die Wange, bevor ich ihm einen Kuss darauf hauche.
Dann ziehe ich meine Jacke aus und drapiere sie über den Stuhl an der Wand.
Ich schiebe die Ärmel meines Hoodies nach oben und verlasse das Zimmer wieder auf der Suche nach dieser Krankenschwester, oder im Zweifelsfall nach einer anderen, die jetzt Dienst hat.
Lange muss ich nicht suchen, denn ich finde eine, die sich gerade zu einem jungen, weinenden Mann beugt, um ihm ein Taschentuch zu geben.
Ich räuspere mich und die Krankenschwester sieht mich an, gefolgt von dem jungen Mann.
"Mister Rigel?", fragt sie mich und ich nicke ihr mit einem "Hallo" zu.
"Danke, dass sie so schnell kommen konnten. Er liegt dort drüben in Zimmer...."
Zusammen gehen wir ein Stück zurück zu Chris Zimmer, als der junge Mann aufspringt und mit wütendem Schritt auf uns zukommt.
"Wieso darf der hier rein und ich nicht? Ich bin sein Partner", schreit er. Und in diesem Moment sickert die Erkenntnis durch mich durch.
"Mister Lund, Mister Rigel ist Herrn Rigels Ehemann und Notfallkontakt...."
Weiter kam sie nicht, da reißt er die Augen auf und schaut mich ungläubig mit einem lauten "WAS?" an.
Müde und erschöpft fahre ich mir mit den Händen durchs Gesicht und schüttle leicht den Kopf.
Oh man Chris, wieso erzählst du ihnen nicht einfach alles, wer dich wirklich liebt, dem ist das egal.
Ich gehe auf sein Bett zu und ziehe mir den Stuhl näher ran, sodass ich nach seiner Hand greifen kann.
Die Krankenschwester betritt das Zimmer, nachdem sie Mister Lund beruhigt und er sich wieder auf die Stühle im Wartebereich gesetzt hat.
"Er ist schon lange da", erklärt sie. "Er weint die ganze Zeit. Es tut mir leid, dass sie es so erfahren mussten."
"Was erfahren?", frage ich sie verwirrt. Ihr Blick spricht Bände, ich kann sie ganz genau lesen. Doch will ich, dass sie es ausspricht.
"Na, dass ihr Mann sie betrügt."
Sie sagt es so, als wäre ich nicht ganz knusper in der Birne und schon ist sie in meinen Augen um ein paar Kilometer gesunken.
"Er betrügt mich nicht. Er ist polyamorös. Das ist alles", erkläre ich kurz angebunden.
"Oh", ist alles was sie sagt, kontrolliert dann seinen Herzmonitor und will gerade das Zimmer wieder verlassen, da kommt ihr ein Arzt entgegen.
"Mister Rigel, ich bin Doctor Tao, ich habe unter anderem ihren Mann behandelt."
Ich stehe vom Stuhl auf und schüttle ihm die Hand.
"Mister Rigel hat eine Platzwunde am Kopf, durch den Aufprall. Außerdem eine offene Beinfraktur, da sein Bein in der Armatur festklemmte. Die mussten wir operieren und mit einem Fixateur ruhig stellen. Doch was uns die meisten Sorgen bereitete, war sein Herzinfarkt, den er während der Operation hatte. Darum bleibt er zur Beobachtung auf der Intensivstation."
Oh Gott.
Nun laufen die Tränen ungehindert meine Wangen entlang und tropfen auf den Boden. Fassungslos setze ich mich auf den Stuhl und lege mein Gesicht in meine Hände.
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