Kapitel 10
♠Paul♠
Verdammt, ich hätte es wissen sollen. Phedoka verlässt das Resort doch nur, um zum Markt und zum Hafen zu gehen. Also wieso sollte sie mich in der Mall, in meinem Lieblingseiscafé treffen wollen? Ich wollte sie dazu überreden und war deshalb erfreut, dass sie es von selbst vorgeschlagen hat. Jetzt ist mir klar, wieso.
Doch nun ist es nunmal so. Mister Sanchez sitzt hier und will mit mir über gestern sprechen. Gestern, der Tag den ich gerne aus meinem Leben streichen würde. Noch nie ist mir etwas peinlicheres passiert.
Die ganze Nacht habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich Mister Sanchez mein Fehlverhalten am Besten erklären könnte, doch ich kam auf keine gute Ausrede. Es ist passiert, ich hatte mich nicht unter Kontrolle. Da gibt es nichts zu beschönigen. Ich muss zudem stehen, was ich getan habe. Und er verdient nicht nur eine anständige Entschuldigung, sondern auch die Wahrheit.
Wie süß er mir den Stuhl zurückgeschoben hat, bevor er sich, nachdem ich mich gesetzt habe, selbst auf den Stuhl gegenüber setzt.
"Okay", schnaufe ich, "dann lassen sie uns das hinter uns bringen. Mister Sanchez, ich kann mich nur bei Ihnen entschuldigen. Mein Überfall war unangemessen und taktlos. Ich habe mich gehen lassen und meinen Zorn und Enttäuschung an ihnen ausgelassen, in einer Art, die absolut unmöglich war. Doch leider kann ich es nicht mehr rückgängig machen. Ich hoffe nur, sie verzeihen mir irgendwann diesen Fehltritt."
So es ist raus. Mehr kann ich nicht sagen. Alles andere wäre dazugedichtet oder vielleicht sogar noch gelogen.
Nervös putze ich meine schwitzenden Hände an meinen Oberschenkeln ab und warte auf das vernichtende Urteil von Mister Sanchez, doch dieser lässt sich Zeit. Sein Blick liegt lächelnd auf mir und ich weiß absolut nicht, wie ich mich verhalten soll. Kann er nicht einfach schimpfend und zeternd aufspringen, mich zum Mond wünschen und gehen? Vielleicht noch sagen, dass er mich hasst, für das, was ich ihm angetan habe? Das wäre wenigstens eine angemessene Reaktion mir gegenüber.
Doch nein. Er strahlt über das ganze Gesicht und beobachtet mich.
"Paul. Ich verzeihe ihnen. Ja, es war im höchsten Maße unangemessen und eigentlich sollte ich mich gedemütigt und ausgenutzt fühlen. Aber nicht, weil sie über mich hergefallen sind, denn dieser Teil hat mir ehrlich gesagt sehr gefallen, sondern weil sie mich danach haben stehen lassen."
Fassungslos starre ich ihn an. Es hat ihm gefallen? Was? Was stimmt mit diesem Mann nicht?
"Haben sie nicht auch besondere Wünsche, Träume oder Vorstellungen, die sie nie offen mit jemandem teilen würden, den sie gerade erst kennenlernen?"
"Meinen sie, ihr Traum war es, vergewaltigt zu werden?", frage ich ihn schockiert, doch Mister Sanchez lacht lauthals, was mich noch mehr verwirrt.
"Also, da ich mich nicht gewehrt und es sogar zugelassen habe, war es wohl keine Vergewaltigung. Und bitte glauben sie mir, wenn ich ihnen sage, dass ich mich durchaus von ihnen hätte befreien können. Was ich nicht getan habe, wie sie sicher bemerkt haben. Stattdessen habe ich sogar mitgemacht."
Ich stoße die eben angehaltene Luft ungläubig aus und streiche mit meiner Hand über die Stirn.
"Paul, ich würde sie gerne näher kennenlernen", platzt er plötzlich raus. Dieser Mann macht mich fertig. Noch nie habe ich jemanden kennengelernt, der so forsch ist. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich damit umgehen soll.
Mein ganzes Leben habe ich mehr oder weniger auf der Hoffnung nach Nick aufgebaut. Nick war der Kreuzkönig in meinem Kartenhaus. Diese Karte wurde gestern herausgerissen und brachte mein ganzes, mühsam aufgebautes Kartenhaus zum Einsturz.
Und jetzt finde ich in dessen Trümmern einen Herzkönig in Form von Mister Sanchez? Musste das alles passieren, damit er zum Vorschein kommt? Und sollte ich wirklich in all dem Unglück mein Glück finden?
Ich muss gehen und darüber nachdenken. Ich kann doch nicht hier und jetzt aus einer spontanen Laune heraus eine Entscheidung fällen. Will ich ihn überhaupt näher kennenlernen? Ich brauche Zeit.
Kopfschüttelnd erhebe ich mich von meinem Stuhl und starre Mister Sanchez an.
"Noch einmal, es tut mir leid, was passiert ist, Mister Sanchez. Es wird nicht noch einmal vorkommen. Danke, dass sie so verständnisvoll sind und mir verzeihen. Doch über alles andere muss ich erst nachdenken. Ich brauche etwas Zeit", erkläre ich ihm. Er steht auch auf. Legt seine Hand auf meine Schulter und lächelt mich an.
"Natürlich. Lass dir so viel Zeit wie du brauchst."
Nickend drehe ich mich um und eile fluchtartig aus der Mall.
***
Am Abend setze ich mich ausnahmsweise mit einem Glas Whiskey an die Bar. Da ich morgen frei habe und Phe mir heute - für unser Treffen in der Mall - eher freigegeben hatte, kann ich es mir mal erlauben. Zudem ist mir daheim einfach die Decke auf den Kopf gefallen. Ich bin wirklich gerne Zuhause. Ich mag mein kleines Häuschen. Damals, als Phe und ich hierher kamen, wollte ich nicht ins Resort ziehen, musste es jedoch vorübergehend tun, bis ich eben etwas Passendes gefunden hatte. Ich glaube, es dauerte ein Jahr, bis ich das Häuschen am Rand gefunden habe. Es ist klein, aber es hat einen offenen Kamin im Wohnzimmer. Etwas, was ich schon immer wollte. Ich sitze gerne auf meinem Bigsofa und beobachte das Feuer im Kamin.
Heute war ich dafür einfach viel zu unruhig.
Ich stieg in mein Gedankenkarussell ein und kam für ein paar Stunden einfach nicht mehr raus. Schlauer war ich danach allerdings auch nicht. Nur noch viel verwirrter.
Wie schnell es passieren kann, jemand anderen im Kopf zu haben als gewohnt. Da wo jahrzehntelang Nick saß, beherrscht jetzt ein lebhafter, junger, wunderschöner Mann meine Gedanken. Einer, der über sich selbst lachen kann, der das blühende Leben verkörpert und ausgerechnet mich kennenlernen will.
Ich nehme einen Schluck von meinem Whiskey und drehe mich zur Tanzfläche, wo mein Blick sofort auf den gut gebauten spanischen Mexikaner, englisch - schottisch - afrikanischer Herkunft fällt. Mister Sanchez tanzt mit Damons Lebensgefährten Eric und beide scheinen viel Spaß zu haben.
Ein komisches Gefühl breitet sich in mir aus, als ich sehe, wie Eric mit seinen Fingern am Saum von Mister Sanchez' Hemd zieht. Ich dachte, Eric fasst niemanden an? Wieso ausgerechnet ihn?
Hastig leere ich mein Glas und schiebe es zu Damon rüber.
"Hey Paul, alles in Ordnung mit dir?", fragt der besorgt.
"Ja, klar", knurre ich und gebe ihm zu verstehen, dass er noch ein Glas einschenken soll.
Wieso zum Teufel bin ich eifersüchtig? Und dann auch noch auf einen Mann, der eine glückliche Beziehung mit zwei Männern führt. Von dem einer mir gerade das nächste Glas Whiskey zuschiebt.
Uff...auf Nick zu hoffen war nur halb so anstrengend wie das, was ich jetzt erlebe.
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