~Twentytwo~
Schockiert von dem lauten Knall und dem heftigen Ruck in meiner Schulter, schaute ich zu Yonathan, der sich auf die Hand stützte und keuchte.
„Nate!" Ich blickte über seine Schulter und sah Artjom direkt entgegen.
Es war ganz offensichtlich eine beschissene Idee, aber irgendwas musste ich tun, womit Artjom nicht gerechnet hätte. Als dieser sich noch immer nicht rührte, umfasste ich Yonathan's Schulter.
„Nate, komm schon!", rüttelte ich an ihm, in der Hoffnung er würde sich schnell von dem Schuss erholen. Er setzte sich auf und hielt sich kurz sein linkes Ohr zu, ehe er mich angrinste.
Allein sein Lächeln erzeugte in meinem Innern ein warmes Gefühl. Es war faszinierend, wie wir uns auch weiterhin ohne Worte verstanden. Als ich die Waffe auf ihn richtete, wusste er umgehend, dass ich niemals vorhatte auf ihn zu schießen.
Nur leider war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich überhaupt so ein Teil in der Hand hielt. Natürlich hätte ich mein Ziel niemals getroffen, geschweige denn den Rückstoß standhalten können.
Als ich den Abzug betätigte, hatte Nate meine fest umschlossenen Hände nach oben über seine Schulter gedrückt und mir den nötigen Halt für die Waffe gegeben. Artjom würde die Schusswunde überleben, aber vorerst war er eindeutig außer Gefecht gesetzt, wie ich auch erkannte, als er langsam zu Boden ging.
Die Patrone war nur knapp neben seine Schulter und nur minimal über seinem Herzen eingeschossen. Allerdings hatte ich auch nie vorgehabt, jemanden zu töten.
„Wir müssen weg", sagte Yonathan, als er sich anscheinend wieder unter Kontrolle hatte. Er hielt mir seine Hand entgegen, woraufhin ich diese eher missmutig betrachtete.
Die Vertrautheit zwischen uns war noch immer da, aber doch war auch noch immer ein riesiger Teil in mir, der zutiefst verletzt und enttäuscht von ihm war. Allerdings musste ich diesen Teil vorerst beiseiteschieben, denn ich wusste, wir beide würden entweder gemeinsam oder gar nicht aus dieser Villa fliehen können.
Ich ergriff seine Hand und gemeinsam gingen wir aus dem Ankleidezimmer und an Artjom vorbei, der von Stenja und Aljoscha bereits auf die Couch gesetzt wurde und mit einer Hand auf seine stark blutende Wunde drückte.
Ich sah Kirill, der mich mit seinem seltsamen Blick ansah, als mir einfiel, dass ich noch immer seine Sweatshirtjacke anhatte. Eilig wollte ich diese ausziehen und ihm zurückgeben, jedoch hielt er mich auf.
„Du kannst sie anlassen. Und dann verbrenne sie am besten einfach", meinte er mit seinem desinteressiert Ton in der Stimme. Beleidigt zog ich den Reißverschluss wieder zu und runzelte meine Stirn.
„Wir sehen uns", sagte Yonathan ausdruckslos zu Kirill.
„Mit Sicherheit, Boss."
Yonathan wandte sich ab, doch ich schaute noch einmal kurz skeptisch zu Kirill, der mich nicht einmal ansatzweise beachtete, ehe Yonathan mich auch schon aus dem Zimmer zog.
„Warte! Alle Ausgänge sind versperrt", teilte ich ihm mit, da ich dies von einer Unterhaltung von Aljoscha und Kirill aufgeschnappt hatte.
„Das ist richtig. Wir müssen es nur bis in die Garage schaffen. Das ist der einzige Ausgang der gesondert abgesichert ist", sagte Yonathan in leisem Ton zu mir. Ich nickte nur, ehe wir den Flur entlang liefen und die erste Treppe nach unten gingen.
Mittlerweile war absolute Stille in der Villa, die mich weitaus mehr beunruhigte, als die Schüsse, die noch vor kurzer Zeit fielen. Als wir im ersten Stockwerk ankamen, deutete Yonathan mir mit einem Finger an den Lippen, dass ich mich leise verhalten soll.
Nur langsam lehnte er sich an der Wand vor und schaute um die Ecke.
„Die Luft ist rein", sagte er und ging mit gestrafften Schultern vor. Ich folgte ihm ängstlich und schaute mich hektisch um. Irgendwas stimmte nicht, wenn die Villa plötzlich, wie leergefegt war.
Yonathan nahm seine Waffe zur Hand und hielt diese vor sich, als wir der Treppe näher kamen. Anscheinend empfand nicht nur ich diese Stille als alarmierend. Wir gingen auch die restlichen Stufen nach unten, ohne dass sich etwas in dem Gebäude tat.
„Denkst du wirklich, es wäre so schlau, einfach durch das Foyer zu stolzieren, als wäre nie etwas gewesen?", flüsterte ich, als Yonathan bereits losging.
„Hast du einen besseren Plan?", stellte er mir eine Gegenfrage und ging tatsächlich quer durch die Halle. Nur widerwillig folgte ich ihm, als plötzlich mehrere Waffen gleichzeitig entsichert und auf uns gerichtet wurden.
Die Wachleute hatten sich im ersten Stock und auch im Erdgeschoss um uns versammelt, weshalb Yonathan mich eilig schützend hinter sich zog. Abermals schaute ich mich panisch um und sprach innerlich mein letztes Gebot, als Artjom schwerverletzt und keuchend auf uns zukam.
„Es war ein Fehler zu glauben, du würdest davonkommen, wenn du mich am Leben lässt. Wie sagt man so schön: keine halben Sachen", sagte Artjom, während er noch immer fest auf seine Wunde drückte.
„Erschießt diesen Abschaum und seine kleine Hure gleich mit!"
Mit rasendem Herzen ergriff ich Yonathan's Hand und klammerte mich schutzsuchend an ihn, als eine weitere männliche Stimme ertönte, die mich ebenso einschüchterte, wie Artjom's.
„Waffen sofort runter!"
Erstaunt schaute ich zu Nikolaj, der sich neben Yonathan und gegenüber von Artjom gestellt hatte und seinem Bruder ernst entgegenblickte. Nate wirkte ebenso verwundert, da er sich umgehend anspannte.
„Dein Bastard von Sohn zerstört alles, was wir uns aufgebaut haben! Das Geschäft, die Familie!", schrie Artjom wütend, woraufhin Nikolaj ihn ausdruckslos entgegensah.
„Du hast dich doch nie für diese Familie interessiert", entgegnete Yonathan's Vater und ging die wenigen Schritte auf Artjom zu. „Und jetzt heuchelst du hier so etwas wie Trauer vor!"
Er zischte die Worte leise und bedrohlich und Artjom starrte seinem Bruder fassungslos und mit geweiteten Augen an.
„Du hast keine Ahnung!", knurrte er ebenso bedrohlich. Die beiden waren auf derselben Augenhöhe und ihre Gesichter waren nur Millimeter voneinander entfernt.
Yonathan betrachtete beide und wirkte ebenso verwirrt wie ich es war. Behutsam zog er mich einige Schritte von den streitenden Brüdern weg, als Nikolaj einfach seine Pistole aus dem Hosenbund zog.
„Doch genau das habe ich", sagte Nikolaj gefühlskalt und erschoss ohne ein Zögern sein Gegenüber. Artjom fiel umgehend leblos zu Boden und Nikolaj drehte sich zu uns herum. In seinem Gesicht waren etliche Blutspritzer und vollkommen teilnahmslos stieg er über den Körper hinweg.
Er nahm sich ein weißes Stofftuch zur Hand und wischte sich mit diesen das Blut von der Haut.
„Nächstes Mal zielst du besser", meinte Nikolaj an mich gewandt. Ich verstand absolut nichts mehr und schaute irritiert zu Yonathan, der seinen Vater nicht weniger misstrauisch ansah.
„Warum schaut ihr so? Es war ohnehin lange überfällig", zuckte er desinteressiert mit den Schultern und warf das benutzte Tuch auf die Leiche seines Bruders. „Ich lasse dir eine offizielle Eintrittskarte zukommen. Darauf findest du auch die Bedingungen und die Regeln für die Veranstaltung."
Yonathan nickte nur halbherzig, ehe Nikolaj breit zu grinsen anfing. „Was steht hier noch so dumm in der Gegend herum? Verschwindet endlich."
In seiner Stimme war absolut nichts Feindseliges zu finden. Er sagte es mit einer leichten Belustigung, als wären wir zwei Besucher, die er freundlich verabschiedete und jederzeit wieder zu sich einladen würde.
Nate umfasste meine Hand und zog mich an dieser durch die Eingangshalle, wobei ich mehr stolpernd hinter ihm herlief und absolut verwirrt über meine Schulter Nikolaj anstarrte.
„Und ihr bewegt endlich eure Ärsche und macht hier alles sauber!", brüllte er durch die gesamte Villa. Die Wachleute rührten sich auch umgehend und liefen wie aufgescheuchte Ameisen an uns vorbei.
Wie in Trance verfolgte ich Yonathan, bis wir in einer Garage ankamen, die eher einem Fuhrpark glich und wie ein Autohaus roch. Der Mix aus Gummi, Benzin und Leder lag in der Luft und überfordert mit all diesen Luxuswagen schlenderte ich nur langsam zu Yonathan.
Dieser hatte sich einen Schlüssel aus einer Vitrine genommen, in der all die Schlüssel von den Autos waren. Abermals ließ ich meinen Blick über die vielen motorisierten Spielzeuge gleiten, als mir ein lustiger Gedanke kam.
„Welcher von all denen ist Demjan's?", fragte ich. Yonathan sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, ehe seine Lippen sich zu einem kleinen Schmunzeln verzogen.
„Der Mercedes AMG-GT", antwortete Yonathan, weshalb ich meinen Kopf schief legte und ihn fragend ansah, da ich mit Automarken generell nicht viel anfangen konnte.
„Der Mattgraue", erklärte er, als auch er bemerkte, dass ich mich auf dem Gebiet nicht auskannte.
„Ah der da?", fragte ich und zeigte auf ein graues Auto mit einem Mercedes Stern. Yonathan nickte bestätigend und ich lächelte zufrieden.
„Lass uns den nehmen", meinte ich, woraufhin er den Schlüssel austauschte und den Mercedes öffnete.
„Das trifft ihn vermutlich mehr, als die beiden Kugeln in seinen Beinen", murmelte Yonathan, als wir gemeinsam zu dem Auto gingen. Ich warf ihm einen kurzen schockierten Blick zu, den er jedoch geflissentlich ignorierte und mir stattdessen wortlos die Tür öffnete.
Ich stieg in den Wagen und ließ mich erschöpft in das weiche Leder sinken, während ich mich kurz in dem luxuriösen Innenraum umsah. Yonathan stieg ebenso ein und startete den Motor, ehe er die Heizung auf höchste Stufe stellte.
„Ruhe dich ein wenig aus. Bis zur nächsten größeren Stadt fahren wir einige Zeit", sagte er und rollte langsam aus dem Fuhrpark heraus. Der Motor brummte laut in der Garage, doch dies hielt mich nicht davon ab, sofort meine Augen zu schließen und meinen Kopf an das kühle Fenster zu lehnen.
Erleichterung durchströmte meinen Körper, da ich allem Anschein nach doch nochmal davongekommen bin. Zwar wusste ich nicht, wo Yonathan mich hinbrachte und ob er mich ebenso wie eine Gefangene halten würde, aber alles war besser als in dem modrigen Keller eingesperrt zu sein.
Meine Flucht konnte ich auch noch später planen.
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