~Sixty~

Kurze Zeit später saß ich auf der Rückbank in einem schwarzen SUV. Direkt vor mir war Tyson und neben ihm ein mir unbekannter Fahrer im schwarzen Anzug. Als wäre das noch nicht seltsam genug, fuhren auch hinter und vor uns dieselben Fahrzeuge mit der angeforderten Verstärkung. Ich bin in Mattapan aufgewachsen und fand diese Sicherheitsvorkehrung völlig überflüssig.

Mir war bewusst, dass die Kriminalitätsrate in diesem Teil von Boston am höchsten war, jedoch passierte nichts, umso unauffälliger man war.

„Finden Sie es wirklich so schlau mit einem Konvoi zu reisen?", fragte ich mit dem Blick durch die schwarz getönte Heckscheibe. Ich wusste nicht, wie viele Männer uns begleiteten, aber diese Art von Verstärkung fand ich etwas überzogen.

„Ihre Sicherheit ist oberste Priorität, also ja. Und jetzt setzen Sie sich vernünftig und lassen mich meine Arbeit machen."

Ich verdrehte genervt meine Augen, tat jedoch was Tyson verlangte und lehnte mich hinter ihm an den schwarzen Ledersitz. Am liebsten hätte ich ihm nochmal ganz langsam erklärt, dass wir nur meine Tante besuchten und in kein militärisches Kriegsgebiet zogen. Allerdings bezweifelte ich, dass es etwas gebracht hätte.

Daher blieb mir nichts anderes übrig, als die restliche Fahrt zu schweigen und mir gedanklich bereits zurechtzulegen, was ich meine Tante alles fragen wollte.

Wir kamen an dem heruntergekommen Trailer an und in meiner Kehle bildete sich allein von dem Anblick ein dicker Kloß im Hals. Als ich damals ging, schwor ich mir nicht nochmal hierher zurückzukommen. Es war wie eine Befreiung, als ich all das hinter mich lassen konnte. Als hätte ich endlich Luft bekommen. Nun legte sich erneut diese unsichtbare Schlinge um meinen Hals und gab mir das Gefühl ersticken zu müssen.

„Okay, Team 1 begibt sich auf die westliche Seite des Trailers. Team 3 bleibt an den Autos und wir begleiten Miss MacKenzie zur Tür", sprach Tyson ausdruckslos mit Blick zu mir nach hinten. Erst da fiel mir der kleine Kopfhörer in seinem Ohr auf. Gleich darauf öffnete der Fahrer seine Tür und stieg aus.

„Team 1,2 und 3? Etwas besseres ist Ihnen nicht eingefallen, Ty?", lachte ich, als auch schon meine Tür geöffnet wurde. Er ignorierte meine Aussage und stieg ebenso aus, um dann auf mich zu warten. Vor dem Auto erkannte ich, wie zwei der Wachmänner schwer bewaffnet um den Trailer gingen. Zwei weitere positionierten sich vor die Autos, ebenso mit geschulterten Gewehren.

„Ich möchte Ihnen nur ungern in die Arbeit grätschen, aber ich besuche nur meine Tante. Die ist absolut harmlos, was also sollen die Gewehre?", fragte ich missmutig. Ich bekam keine Antwort, weshalb ich mit einem Kopfschütteln an Tyson vorbeigehen wollte, jedoch umgehend von ihm am Arm gepackt wurde. Er schien auf irgendwas zu warten.

Mit meinen Augen folgte ich seinem Blick und sah die beiden Männer an der Trailerwand. Einer hob die Hand, woraufhin ich losgelassen wurde.

„Keine Gefahr. Wir können zur Haustür", teilte Tyson mir und seinem Kollegen mit. Ich ließ es unkommentiert und ging innerlich seufzend zu der Tür, um an dieser tief durchzuatmen. Tyson und der andere stellten sich links und rechts daneben, sodass meine Tante nicht direkt an einem Herzstillstand umkippte.

Mit zittrigen Fingern betätigte ich die Klingel und spürte mit jeder vergehenden Sekunde, wie mein Herz schneller schlug. Meine innere Stimme schrie mich an, dass ich rennen sollte, solange es noch möglich war. Nur so würde ich keine Antworten bekommen, weshalb ich auch mit schlotternden Knien wie angewurzelt stehenblieb.

Nach einer Minute, die sich wie eine Stunde anfühlte, passierte noch immer nichts. Mittlerweile zitterte auch mein Brustkorb, als ich die Hand erneut hob, um an der Tür zu klopfen.

„Tante Beth?"

Die Tür öffnete sich und meine Tante sah mir mit großen Augen entgegen. „Skylar."

Sie trug einen hellen Morgenmantel. Ihre hellen, blonden Haare waren noch vollkommen zerzaust und auch die Überreste ihrer Schminke hing quer in ihrem Gesicht. Sie sah für ihr Alter und den Umständen entsprechend wesentlich jünger aus, was mich schon immer faszinierte.

Tante Beth seufzte und strich sich ihre wirren Haare aus dem Gesicht. Es war offensichtlich, dass ich sie soeben aus dem Bett geklingelt hatte.

„Hi", sagte ich zurückhaltend. Ein kalter Windstoß umwirbelte meinen Körper und brachte mich noch mehr zum zittern. „Könnte ich eventuell reinkommen?"

Ich konnte den Zwiespalt in ihrem Blick erkennen, dennoch trat sie wenige Sekunden später von der Tür weg und bat mich mit einer Handbewegung ins Innere.

„Das heißt nichts Gutes. Was in herrgotts Namen möchtest du hier? Geld habe ich keines, falls du deswegen kommst."

Ich musste auf meine Lippe beißen, um keinen abfälligen Ton von mir zu geben. „Das ist mir sehr wohl bewusst. Ist ja nicht so, als schuldest du mir noch genug."

Die Stimmung schlug in Sekundenschnelle um, wobei sie von Anfang an schon schlecht war.

„Ich schulde dir etwas? Du kannst von Glück reden, dass du einen warmen Arsch und Essen hattest", zischte sie mir entgegen. Wir standen noch immer in dem winzigen Flur, in dem sich absolut nichts verändert hatte. Meine Tante ging mit energischen Schritten an mir vorbei in Richtung des Wohnzimmers, das sich rechts befand.

Ich ging ihr hinterher und stellte fest, dass auch dort noch alles wie vorher war. Dieselbe alte, braune Couch, davor ein abgelaufener Teppich auf dem etliche Flecken waren von den herumliegenden Schnapsflaschen. Auf dem wackligen Tisch davor lagen Verpackungen von Essen, in denen vermutlich schon wieder irgendwelche Tiere lebten.

Der alte Fernseher flimmerte vor sich her und auch in der kleinen Küchenzeile neben dem Wohnzimmer stapelte sich das dreckige Geschirr, sowie leere Alkoholflaschen.

Sie ließ sich auf die Couch fallen und starrte zu dem Fernseher, als hätte sie keinerlei Interesse weiter ein Gespräch führen zu wollen.

„Mit dem Geld, dass du monatlich bekommen hast, hättest du mir aber durchaus mehr kaufen können, als nur halb verdorbene Lebensmittel", giftete ich zurück. Ihr Kopf ruckte augenblicklich in meine Richtung und sie erhob sich.

„Woher weißt du davon?", fragte sie und kam dabei auf mich zu. „Was hat er dir angetan?"

„Nichts. Wieso sollte Yonathan mir was antun?", rollte ich mit den Augen. Sie schlug sich beide Hände ins Gesicht und wirkte plötzlich ziemlich zerstreut.

„Herrje. All das wird nie ein Ende haben", murmelte sie und lief in die Küche, um eine der noch nicht leeren Schnapsflaschen an den Mund zu führen. „Es verfolgt nun auch dich, Kind."

„Tante Beth, wovon redest du? Was verfolgt mich?"

„Die Schandtaten deiner Mutter!"

Wieder lief sie davon. Dieses Mal in die Richtung des Schlafzimmers, dass sich links von dem Flur befand. Daneben war eine Abstellkammer, in der mein Bett stand. Bei dem Anblick schnürte es mir erneut die Kehle zu. Jede Nacht hatte ich hier verbracht und aus dem winzigen Fenster direkt neben dem Bett gestarrt.

„Du musst mir erzählen, was damals vorgefallen ist", bat ich meine Tante, die sich mittlerweile ihren Morgenmantel ausgezogen und diesen gegen eine Jeans, sowie einen Pullover ausgetauscht hatte.

„Was hast du mit diesem russischen Abschaum zu tun? Skylar, er ist gefährlich!", sagte sie und packte mich so plötzlich an den Schultern, um mich an dieses kräftig zu schütteln.

„Du meinst Yonathan?", hakte ich nach und nahm dabei ihre Hände von meinem Körper. Sie nickte und presste ihre Lippen dabei zu einer schmalen Linie zusammen.

„Er tut mir nichts. Im Gegenteil, er kümmert sich um mich", versuchte ich ihr zu erklären. Ihre Augen weiteten sich und fast schon panisch schüttelte sie ihren Kopf.

„Nein! Nein, Sky! Die sind alle gleich!"

„Yonathan ist nicht wie sein Vater und auch nicht wie Artjom", sagte ich, woraufhin ihr ein leiser Schrei entfuhr.

„Erwähne diesen Namen niemals wieder in meinem Haus", knurrte sie und rannte erneut vor mir weg. Ich spürte sehr deutlich, dass eine Menge zwischen ihr und den Russen vorgefallen sein musste. Ihre Reaktion zeigte mir, wie viel Angst sie vor ihnen hatte.

„Und dieser Kingsley ist keineswegs besser, nur weil er seinen Namen geändert hat!", schrie sie aus dem Wohnzimmer.

„Tante Beth, was genau ist denn überhaupt vorgefallen?" Abermals folgte ich ihr und erkannte, wie sie vor sich her murmelte und den Kopf schüttelte. Sie drehte sich zu dem Fenster und schaute sich vollkommen paranoid um.

„Bist du allein?", fragte sie, als sie draußen nichts erkannte.

„Naja", setzte ich an und bekam von ihr von Neuem diesen irren Gesichtsausdruck. „Es sind nur einige Männer hier, die für meine Sicherheit sorgen."

„Sicherheit? Nein, nein, nein, Skylar!"

„Tante Beth, beruhige dich doch und erzähle mir, was wirklich zwischen Mom und den Russen war", drängte ich. Sie sah aus, als stünde sie unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch, allerdings brauchte ich erst Antworten, bevor sie die Fassung gänzlich verlieren konnte.

„Du solltest dich mit alle diesen Dingen nicht befassen und schon gar nicht, solltest du diesen Russen vertrauen!"

„Nate ist mehr Amerikaner, als Russe. Zudem muss ich mich aber mit diesen Dingen befassen, da man mich einfach entführt, beinahe prostituiert und dann verkauft hat! Ich kann von Glück reden, dass Yonathan derjenige war, der mich gekauft hat. Allerdings mein Pech, dass ich nun gezwungen bin, bei ihm zu bleiben."

„Aber natürlich! Dein 21. Geburtstag", hauchte sie nachdenklich, ehe sie erneut an mir vorbei huschte.

„Beth! Was hat meine Mom damals getan? Und warum hast du nie erzählt, dass du einen Sohn hast, den du einfach im Krankenhaus zurückgelassen hast!", rief ich ihr hinterher. Unmittelbar hielt sie in ihrer Flucht inne und drehte sich mit einem gequälten Gesichtsausdruck zu mir herum.

„Kilian, woher weißt du von ihm?"

„Ki- was?", entkam es mir. Ich war mir nicht sicher, ob wir über dieselbe Person sprachen.

„Sie haben ihn mir weggenommen, mit der Begründung, ich könnte mich nicht um ein Baby kümmern. Aber ich weiß, dass er es war! Weil er wusste, ich würde abhauen."

Ich war vollkommen verwirrt, als sie mir diese Fetzen vor die Füße warf und wusste überhaupt nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

„Er?", kam es nur fragend aus meinem Mund.

„Der Mann, von dem deine Hurenmutter nicht die Finger lassen konnte! Sie ist doch an all dem Schuld! Das mein Kilian weg ist, dein Vater tot ist und vor allem uns all der scheiß verfolgt", sagte sie und ging dabei abermals in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete eine Schublade an der Kommode und nahm eine kleine Mappe.

„Das ist alles, was ich von ihm habe", schluchzte sie, ehe sie mir die Mappe gab. Ich öffnete diese und erkannte die Geburtsurkunde. An dieser war auch das kleine, blaue Krankenhausarmbändchen befestigt.

Kilian Knight ...

„Er hatte dein Nachnamen, als er geboren wurde", stellte ich murmelnd fest. Ein Bild rutschte heraus und landete vor mir auf den Boden. Es war ein Babyfoto und erneut ertönte ein Schluchzen von meiner Tante. Ich hob es eilig auf und betrachtete kurz das Baby mit den hellen Haaren und den mir bekannten grünen Augen.

„Was meinst du damit, er hatte meinen Namen?"

„Ich weiß nur, dass er mit Vornamen Kirill heißt. Aber ich gehe davon aus, dass auch sein Nachname geändert wurde", teilte ich mit ihr mein Wissen.

„Natürlich haben sie ihm so einen schrecklichen russischen Namen gegeben! Kennst du ihn? Wie ist er so?", hakte sie augenblicklich nach. Ich presste meine Lippen fest aufeinander und überlegte, wie ich ihr schonend beibringen konnte, dass ihr Sohn der größte Psychopath war, den ich kannte.

„Ich hatte nur einige Aufeinandertreffen mit ihm", versuchte ich ihre Fragen abzuwimmeln. Dabei kam mir die skurrile Situation in der Dusche in den Kopf und wie ich Kirill meine Zunge in den Rachen gesteckt hatte. „Er ist ... einzigartig."

Mehr fiel mir nicht ein, um ihre Gefühle nicht noch mehr zu verletzen. Sie sah mich mit gehobenen Augenbrauen an, da sie merkte, dass ich mich unwohl fühlte.

„Also ist er genau so ein Freak, wie all die anderen Russen auch", stellte sie nüchtern fest.

„Ich kenne ihn nicht wirklich, da er eher der verschlossene Typ ist. Aber viel wichtiger ist die Frage, wer sein Vater ist und was genau das alles mit meiner Mom zu tun hat."

„Ich kann dir diese Antworten nicht geben. Dafür müsstest du mit jemanden reden, der mehr in die Angelegenheiten von Scar involviert gewesen war", meinte meine Tante, ehe sie mir die letzten Überbleibsel ihres Sohnes entwendete und zurück in die Kommode legte.

„Und wer soll das sein?", fragte ich mit einem flauen Gefühl in der Magengegend.

„Ich kann dich zu ihm bringen", schlug sie vor. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es besser gewesen wäre, wenn ich einfach gegangen wäre. Allerdings stand ich so kurz davor die ganze Wahrheit zu erfahren.

Es folgt nun nur noch ein Kapitel und dann der Epilog ❤️ danach beende ich den zweiten Band und es geht natürlich direkt mit den Dritten weiter 🫶🏻 dafür lade ich auch bereits das Cover und den Klappentext hoch 🥰

Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr 🎉🥂🍾🥳✨
Und vor allem ein erfolgreiches Jahr 2024 🥂🍾❤️❤️❤️

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