Prolog

Introitus (lat): Einleitung, Eröffnung.

1894

Stumm starrte er an die Wand seiner Zelle. Endloses Grau stierte ihm entgegen und erinnerte ihn in aller Deutlichkeit daran, was aus seinem Leben geworden war. Grau wie die Farben des östlichen Teils von London, in denen der Smog der Fabriken in der Luft hing, und alle, die dort lebten daran erinnerten, was sie alles niemals haben konnten. Viele von ihnen waren nach London gekommen, in der Hoffnung eine gute Arbeit in einer der Fabriken zu finden, die wie Unkraut aus dem Boden schossen und alles Lebendige verdrängten.

Viele seiner Nachbarn im East End hatten diesen Traum bereits nach wenigen Monaten aufgegeben. Wenn sie Arbeit in den Fabriken fanden, dann waren es harte Jobs, die nur wenig Geld brachten. Die Fabriken Londons produzierten nicht nur Textilien und andere handwerkliche Produkte, sondern in erster Linie verschlissen sie Menschen und saugten ihnen ihre Energie aus.

Er selbst ging nicht arbeiten, sondern verlebte das letzte Geld glücklicherer Tage im Spiel. Dieses Geld war Anfang des Jahres 1894 aufgebraucht, obwohl er schon 1893 zurück nach East End gezogen war.

Aber Geld spielte in seinem Leben schon lange keine Rolle mehr. Denn alles Geld der Welt konnte ihm keine weitere Sekunde mit ihm kaufen. Es gab nichts, was James Moriarty zurückbrachte und so kreisten seine Gedanken um einen Einzigen. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde er vielleicht noch leben. Dann wäre er umsichtiger gewesen, vorsichtiger. Dann hätte er ihn kommen sehen.

Doch auch diese Gedanken brachten James nicht zurück und so drängte er sie zurück, wann immer sie ihn zu überwältigen drohten. Das Ganze ging so lange gut, bis Sherlock Holmes Anfang des Jahres nach England zurückkam.

Für den beratenden Detektiv war es eine glückliche Heimkehr, für seinen Mitbewohner John Watson ein noch größeres Glück. Vermutlich hatte Sebastian selbst die Rückkehr des Detektivs beschleunigt, als er den jungen Baron Ronald Adair umgebracht hatte, weil der Mistkerl im Spiel betrogen hatte.

In Sebastian weckte die Rückkehr des Genies den Zorn, welcher ihn später in diese Zelle katapultieren sollte. Wie konnte Sherlock Holmes leben, wenn James Moriarty es nicht mehr tat?

Unter dem Bett seines winzigen Zimmers wurde Sebastian dann fündig. Kalt und schwer lag das deutsche Scharfschützengewehr in seiner Hand. Eine totbringende Waffe, eigens für ihn angefertigt und seit nunmehr drei Jahren nicht mehr im Einsatz.

Der Plan war schnell in ihm gereift. Vielleicht zu schnell, um wirklich kugelsicher zu sein, aber der süße Ruf der Rache lockte und in Sebastians Leben gab es nur noch wenig, auf das es sich zu warten gelohnt hätte.

Also stand die Sache fest und noch in derselben Woche sollte der Plan in die Tat umgesetzt werden. Über den jungen Parker, einer der wenigen von Moriartys Anhängern, der noch auf freien Fuß war, hatte er erfahren, dass Holmes seit einem Tag zurück in London. In dem albernen Kostüm eines alten Mannes hatte der Detektiv seinen treuen Gefährten Watson überrascht.

Am Abend war Sebastian dann in die Baker Street gefahren. Er hatte sich das gegenüberliegende Haus ausgeguckt, von wo aus er ein freies Schussfeld direkt in Holmes Wohnzimmerfenster hatte.

Er packte sein Gewehr aus und kauerte sich nieder, den Lauf der Maschine auf die Fensterbrüstung gestützt. Für einen Moment war alles still, dann atmete er einmal tief durch und drückte ab. Das Gewehr gab ein leises 'Ptsch' von sich und dann folgte der Ton des auf der gegenüberliegenden Seite aufschlagenden Geschosses.

Das Geräusch des Aufschlages war seltsam. Sebastian hatte vielen Menschen Kugeln in den Kopf gejagt und es hatte sich immer anders angehört als dieses Mal.

Und dann war Holmes ihn in den Nacken gesprungen, hatte ihn niedergerungen und als auch noch Watson seinem Freund zur Hilfe geeilt war, hatte Sebastian aufgegeben. Er hatte einfach aufgehört, sich zu wehren, und als Inspector Lestrade, einer von Holmes Ergebenen, den Raum betreten und ihm Handschellen angelegt hatte, hatte er gewusst, dass es vorbei war.

„Sie Teufelskerl! Sie ganz getriebener Teufelskerl", hatte er Holmes entgegen geschleudert, während die Erkenntnis zu ihm durchdrang. Er hatte James nicht rächen können, Sherlock Holmes war noch immer am Leben.

„Ja, ja Herr Oberst", hatte Holmes gegrinst und dann hatte er im nächsten Satz die Reichenbachfälle erwähnt und die Erinnerungen waren über Sebastian hereingebrochen. Er hatte Holmes nicht mehr folgen können, als dieser über die Tiger und Reservegewehre referierte. Letzten Endes hatte er Lestrade gebeten ihn endlich abzuführen, um endlich diesem grausamen Menschen entkommen zu können.

Sie hatten ihm den Prozess gemacht. Holmes hatte alle Beweise beschaffen können, um ihn des Mordes an Ronald Adair zu überführen.

Sebastian hatte stumm der Urteilsverkündung gelauscht, hatte in Holmes selbstzufriedenes Gesicht gesehen und gehofft, dass James ihm verzeihen möge.

Nun saß er hier in seiner grauen Zelle.

Seine glorreichen Tage lagen weit zurück. Er war nicht mehr der zweitgefährlichste Mann Londons, er war nicht mehr Moriartys rechte Hand, er war nicht mal mehr ein Tigerjäger.

Doch es waren nicht diese Titel die zu missen ihn schmerzte. Es war nicht das fehlende Geld, welches ihn schmerzte und unter Moriarty hatte er eine Menge davon zur Verfügung gehabt (tatsächlich hatte er mit 6000 Pfund mehr verdient als der Premier).

Nein, auf all das konnte Sebastian verzichten, er brauchte kein Geld und keine Titel. Um glücklich zu sein, hätte ihm James Anwesenheit vollkommen gereicht.

Es tat ihm in der Seele weh, dass er seinen Boss, seinen Geliebten, nicht hatte rächen können. Holmes lebte und Moriarty war tot. Ertrunken in den grauen Gewässern der Reichenbachfälle, hatte er Sebastian in einer dunklen Welt des Schmerzes zurückgelassen.

Eine Welt, die durch die vergitterten Fenster der Zelle noch ein bisschen düsterer geworden war. Einer Welt der Sebastian schon lange überdrüssig war.

[...✴...]

Liebe Leser,
ich freue mich euch an Bord meiner 'Requiem' begrüßen zu dürfen und hoffe der erste Rundgang auf dem Schiff hat euch gefallen.

In den kommenden Wochen werden wir durch das viktorianische London segeln, Briefe an unsere Liebsten verschicken und hoffentlich das ein oder andere Abendteuer erleben.

Ich freue mich über jeden Kommentar bezüglich meiner Segelkünste etc.!

Jeden Sonntag werden wir zu neuen Häfen aufbrechen. Also alle an Deck, setzt die Segel und volle Kraft voraus.

Viel Spaß wünscht eure Kapitänin,
Adia Stark

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