7. Petto

Petto (ital.): Brust

Sein Atem ging schwer und schnell. Die Welt um ihn herum wirkte seltsam verzerrt, als habe man ihr eine Milchglas Lupe übergestülpt. Der Schmerz in der Brust wurde ihm erst nach einigen Sekunden bewusst. Ein dumpfer Schmerz, der mit jedem Atemzug anzuschwellen schien. Er versuchte den Schmerz auszublenden, doch dieser hatte sich zu tief in sein Bewusstsein eingefressen, als dass er sich vertreiben ließ.
Müdigkeit überrollte ihn und er schloss die Augen. Er spürte wie er abdriftete und hieß die Bewusstlosigkeit herzlich willkommen.

Als er das nächste Mal aufwachte, füllte das goldene Licht der Sonne den Raum und das entfernte Zwitschern von Vögeln drang an seine Ohren. Jemand musste die Vorhänge aufgezogen und die Fenster geöffnet haben.
Er war kurz davor die Augen erneut zu schließen, als er die vertraute Stimme hörte.

„Wehe Sie schlafen wieder ein, Mr. Moran."

Er drehte seinen Kopf in Richtung der Stimme. Es brauchte einen Moment bis seine Augen scharf stellten, doch dann sah er jedes kleine Detail von James Moriarty. Der Mann saß auf einem Holzstuhl neben seinem Bett. Das Jackett hatte er über die Lehne gehängt, in der Hand hatte er ein Buch.

„Wo...", er hustete, so kratzig war sein Hals. Moriarty reichte ihm ein Wasserglas, welches er mit zittrigen Händen entgegennahm.

Und während er versuchte, das Wasser in seinen Mund zu befördern und nicht überall zu verschütten, begann der Professor zu erklären: „Du bist im Barth Hospital. Man hat dich bewusstlos auf einer Bank gefunden, ziemlich unterkühlt und sehr nass. Die Ärzte haben eine Lungenentzündung festgestellt und mich verständigt. Du hast echt Glück, dass du meine Visitenkarte noch immer im Mantel hast, sonst hätte ich dir kaum dieses Einzelzimmer organisieren können."

„Danke", flüsterte Sebastian und meinte nicht nur das Einzelzimmer, „Welcher Tag ist heute?"

„Der siebte September", antwortete Moriarty und nahm Sebastian das leere Wasserglas ab, „Du bist also seit acht Tagen im Krankenhaus. Himmel, Sebastian, ich dachte wirklich, ich hätte dich um sonst befördert."

„Oh", machte er und wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt, „Was für eine Papierverschwendung der Vertrag gewesen wäre."

„Darüber macht man keine Scherze", Moriarty wirkte wirklich nicht als sei er zu Witzen aufgelegt. Tatsächlich wirkte sein Boss ziemlich gestresst und augenblicklich fühlte Sebastian sich schlecht, weil er ihm so viel Arbeit machte.

„Tut mir leid."
„Das hoffe ich."
„Du...Sie müssen nicht an meinem Bett sitzen, wenn Sie noch etwas zu tun haben."

„Ich weiß", sagte Moriarty und blickte seufzend auf Sebastian, „Mary Ann und Singer der Idiot kümmern sich ums Geschäft. Sie hat dich übrigens auch schon besucht. Vor ein paar Tagen ich wusste gar nicht, dass ihr so gut befreundet seid."

„Sie müssen nicht eifersüchtig sein", zwinkerte Sebastian, aber es kam weniger lässig raus als beabsichtigt. Blöder Husten, blöder kratziger Hals.

„Wenn ich eifersüchtig wäre, wäre besagte Dame längst tot", Moriarty verzog keine Miene, warf einen schnellen Blick auf die Uhr und fügte dann ein wenig freundlicher hinzu, „Naja, ich muss los. Das Netzwerk leitet sich nicht von allein."

Er stand auf und für einen kurzen Moment schien er zu überlegen, ob er Sebastian umarmen sollte, dann berührte er ihn kurz an der Schulter und lächelte entschuldigend. Sebastian wünschte sich, er hätte sich für die Umarmung entschieden.

An der Tür drehte sich Moriarty noch einmal zu ihm um: „Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist."

Die Tür fiel mit einem leisen 'Klack' ins Schloss und Sebastian spürte wie sich ein viel zu breites Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Moriarty war da gewesen und froh darüber, dass er noch lebte. Dieser letzte Satz machte beinahe die entfallende Umarmung wett. Einem Mann wie Moriarty kümmerte es für gewöhnlich nicht, ob die Menschen in seinem Umfeld lebten oder starben, solange sie ihm nur nicht auf die Nerven gingen. Er wollte nicht, dass ich sterbe, dachte Sebastian und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.

Den restlichen Nachmittag verbrachte Sebastian damit Untersuchungen über sich ergehen zu lassen und in seinem Kopf das Gespräch mit Moriarty zu wiederholen. Er dachte an die dunklen Augen und bildete sich ein, Wärme in ihnen gesehen zu haben. Er rekonstruierte ihr Gespräch und ihm kamen tausend Möglichkeiten in den Sinn, was er besser hätte sagen können. Wie er sich dankbarer hätte zeigen können, klüger, liebenswürdiger.

Viel zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf, als dass ein anderer wichtiger Groschen hätte fallen können. Die Erkenntnis traf ihn erst, als Mary Ann Nichols am Abend an seinem Bett saß und ihn fragte, an wie viele seiner Fieberträume er sich erinnern könne.

„An keinen", sagte er, was gelogen war. An einen konnte er sich erinnern. Moriartys Küsse auf seinem Körper, nackte Haut auf nackter Haut. Im Traum hatte er ihn James genannt. Hatte den Namen gestöhnt, geschrien, gewispert. „An keinen", wiederholte er, dieses Mal sah er ihr in die Augen.

„Ich dachte nur... du hast geredet, weißt du", sie schien sich unwohl in seiner Nähe zu fühlen. Es machte ihn nervös, was hatte er gesagt?

„Was habe ich...?", und in Gedanken, bitte lass es nicht sein Name gewesen sein.

„Du hast von einer indischen Krankheit geredet. Der Arzt war gerade da, als du es gesagt hast und hat es mir erklärt... Sebastian, warum passen die Symptome dieser Krankheit so gut zu denen, die Joe hatte, bevor... bevor er..."

„Weiß nicht. Ich kann mich wirklich nicht erinnern", eine Tonnen schwere Last fiel von ihm ab, es ging um Joe, nicht um Moriarty. Joe nicht Moriarty. Joe, Moriarty.

Seine Gedanken stoppten. Nein, unmöglich.

Wenn ich eifersüchtig wäre, würde besagte Dame schon längst nicht mehr unter uns weilen, Moriartys Stimme. Klar und kalt und unmissverständlich. Wissen Sie Sebastian, ich glaube, dass Sie es in diesem Netzwerk weit bringen werden. Weiter als Joe Miller es jemals bringen könnte, auch Moriarty.

Weiter als Joe Miller. Weiter als Joe, dem jede Chance weit zu kommen genommen worden war. Er ist tot, weil ich lebe, dachte Sebastian und das Wort 'tot' hallte in seinen Gedanken wider. Tot, tot, tot. Meine Schuld.

„Sebastian?", Mary Ann klang besorgt, sie musste ihn schon vorher angesprochen haben.

„Mmh?", er sah auf.
„Alles okay? Du bist so blass und dann hast du nicht reagiert", sie schien sich tatsächlich Sorgen um ihn zu machen. Er wollte auflachen, womit hatte er ihre Sorge verdient?

„Nur müde", nuschelte er, ohne sie anzugucken, „Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann. Ich erinnere mich wirklich an nichts. Vielleicht habe ich von Indien und dem Krieg geträumt, tut mir leid."

„Schon okay", sie nickte langsam, „Du solltest dich ausruhen. Sieh zu, dass du gesund wirst. Ich... ich will dich nicht auch noch verlieren."

Er hatte sie nicht verdient. Unter dem Blick ihrer braunen Augen, wäre beinahe zusammengebrochen. Wie konnte sie so gut zu ihm sein, wenn er so schlecht war?

„Das wirst du nicht", murmelte er. Seine Augen brannten, als sie sich zu ihm herabbeugte, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Nicht weinen, befahl er sich selbst, während er ihren Duft inhalierte. Sie roch nach Rosen und Regen.

„Versprochen?"
„Versprochen."

Ihr Geruch hing noch in der Luft, als sie gegangen war. Er erinnerte ihn an Joe, auch wenn Joe nie nach Rosen gerochen hatte. Er wünschte, er könnte sich entschuldigen. Bei Joe, bei ihr, bei Moriarty.

Das Abendbrot kam, doch er hatte keinen Hunger. Wie gerne er nun einen Whiskey hätte oder zumindest eine Pfeife. Die spindeldürre Krankenschwester warf ihm einen angesäuerten Blick zu, als sie sein Tablett abräumte und ihm Morphium brachte.

„Gegen die Schmerzen", erklärte sie.
„Danke", murmelte er abwesend und warf einen Blick auf ihr Namensschild, „Danke, Ms. Jones."

Das Morphium verbannte die schmerzen aus seiner Brust, doch die Schuldgefühle blieben und fraßen sich wie Säure in sein Herz. Er sehnte den Schlaf herbei, doch sein Geist gönnte ihm die Erholung nicht. Seine Gedanken wollten nicht zum Stillstand kommen. Moriarty und Joe. Joe und Moriarty.
Joes Tod, seine Krankheit. Sein und Moriartys Kuss, seine Beförderung.

Er wachte auf, als die dürre Krankenschwester sein Frühstück auf den Tisch knallte. Lange konnte er nicht geschlafen haben, dafür war er zu müde.
Sebastian überlegte kurz, wie er die Schwester dazu bringen konnte, sein Tablett wieder mitzunehmen. Dann sah ihr verkniffenes Gesicht und schwieg.

„Danke", sie war schon wieder halb aus seinem Zimmer raus, doch er war sich sicher, dass sie ihn noch gehört hatte.

Nach dem Mittagessen kam Moriarty. Der Anblick des Verbrecherkönigs schickte Übelkeitswellen durch Sebastians Körper. Er wollte ihn küssen, er wollte ihm wehtun für das, was er Joe angetan hatte.

„Alles okay, Sebastian?", Moriartys Stimme war sanft. Der Teufel sprach mit der süßesten Stimme von allen. Deshalb folgen wir ihm, dachte Sebastian

„Sag du es mir", ein Lachen bahnte sich seinen Weg, unaufhaltbar und wahnsinnig.
„Was ist denn los mit dir?", Moriarty klang genervt, als habe er ein kleines Kind vor sich.

„Was los ist? Wann wolltest du mir sagen, dass du Joe getötet hast? Er war mein Freund und deine rechte Hand, wie konntest du nur?", er war mit jedem Satz lauter geworden.

„Ich habe ihn nicht getötet", Moriartys Stimme war gefährlich leise, „Ich habe ihn töten lassen, das ist ein Unterschied."

„Du bist verrückt", schrie Sebastian und bereute es in dem Moment, da er sah wie Moriartys Gesicht sich in eine Maske verwandelte. Vielleicht fiel die Maske aber auch von seinem Gesicht ab und der einzig wahre Moriarty kam zum Vorschein. „Entschuldige. Ich habe niemanden außer ihn."

„Pass auf, was du sagts", sagte Moriarty und es schien Sebastian, dass er noch ein bisschen leiser geworden war, „Ich. Bin. Nicht. Verrückt. Verstanden?"

Sebastian musste seinen Blick senken, denn mit einem Mal war all seine Wut verpufft. Klar, er war sauer wegen Joes Tod, aber nun stand Moriarty vor ihm und der dumme emotionale Teil von Sebastian, wünschte sich sie würden aufhören zu streiten. Er wollte, dass Moriarty aufhörte ihm zu drohen. Er wünschte sich, dass Moriarty Joe nicht umgebracht hätte und dass alles wieder so war wie vorher. Als er unwissend war, als er Moriarty geküsst hatte, als er mit Joe in der Kneipe gesessen hatte.

„Tut mir leid", er hatte seine Stimme gesenkt und betete lebend aus diesem Gespräch herauszukommen, „Ich versuche nur zu begreifen, warum Sie ihn getötet haben."

„Ich dachte das wäre offensichtlich", sagte Moriarty und wirkte nicht, als habe er große Lust die Aussage weiter auszuführen. „Miller ist ein guter Mann gewesen, aber das Netzwerk braucht jemanden wie dich an der Spitze. Außerdem arbeiten wir jetzt näher zusammen. Ich dachte, dass es dich freuen würde."

Mit offenem Mund schaute Sebastian auf. Hatte Moriarty gerade gesagt, dass er näher mit Sebastian zusammenarbeiten wollte? Ja, es freut mich, jubelten Sebastians innere Stimmen, natürlich freute es ihn. Es freute ihn, obwohl er hätte sauer sein sollen.

Ein letzter verzweifelter Versuch wütend zu sein, dann gab er auf und erlag Moriarty.

Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht und er wusste, dass er den Kampf gegen den Teufel verloren hatte. Er war nicht mehr als eine Marionette Moriartys, gebunden an den Professor bis ans Ende seiner Tage. Er begriff, dass Moriarty alles tun konnte und dass er ihm immer verzeihen würde. Der Schwarzhaarige brauchte nur ein nettes Wort in seine Richtung sprechen und er würde ihm für all seine Sünden vergeben. Er würde ihm vergeben, weil er nicht leben wollte in einer Welt, in der er mit Moriarty verstritten war. Er würde vergeben, weil nicht vergeben mehr wehtat.

„Es freut mich", flüsterte er und spürte wie Tränen in seinen Augen brannten, „Es freut mich, aber... es tut weh. Ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben. Für uns, meine ich."

„Für uns wird es nie einen anderen Weg geben, Sebastian", Moriarty beugte sich zu ihm herab, verwehrte ihm den Kuss. Nicht hier, wo sie alle Welt hätten sehen können.

„Ich möchte, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen, aber das erfordert einen gewissen Umgangston von dir. Nenn mich noch einmal verrückt, Sebastian, und unser Weg endet genau dort. Wenn du an meiner Seite stehst, Sebastian, verspreche ich dir die Welt. Mehr als die Welt. Es ist deine Entscheidung."

In diesem Moment betrat Ms. Steward das Zimmer und Moriarty zuckte zurück. Er stand auf und warf einen wissenden Blick auf Sebastian.

„Ich glaube, wir haben uns verstanden, Mr. Moran." Dann trat er aus dem Zimmer, vorbei an der Krankenschwester, die ihn misstrauisch beobachtete

[...✴...]

Na?
Jetzt weiß Sebby also was passiert ist...

Ich war lange am hadern, dass er zu 'nett' reagiert, dass er James zu schnell verzeiht.
Und manchmal habe ich das Gefühl, dass mein James zu nett rüberkommt, weil er eher auf der psychischen Ebene spielt.

Was denkt ihr?
Und wie sähe eure Interpretation von Moriarty aus?

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