6. Macabre
Macabre (franz.): z.B. Dance macabre: Totentanz
Der 30. August war ein grauer Montag, an dem die Luft nach Regen roch und ein kühler Wind den Herbst ankündigte. Sebastian hatte seinen alten Anzug hervorgesucht und während er die Knöpfe seines Hemdes schloss, hatte er das Gefühl eine Rüstung anzulegen. Auf in die Schlacht, auf zur Beerdigung.
Moriartys Brief hatte ihn nicht überrascht, lediglich wie schnell er gekommen war, hatte ihn schockiert. Zwei Tage zuvor hatte er noch an Joes Bett gesessen und Mozarts Requiem gesummt, als wäre die Totenmesse nicht bloß ein Lied, sondern ein Versprechen.
Er ließ sich in der Droschke zum Friedhof bringen, ignorierte den mitleidigen Blick des Fahrers.
Sebastian trat durch das Tor und sofort erfasste ihn die Stille des Friedhofs. Sein Vater hatte immer zu sagen gepflegt, dass an diesen Orten allein der Tod lache. Er lache über die Menschen, die demütig ihr Haupt senken im Angesicht der Vergänglichkeit.
Wie um dem Tod zu trotzen, ließ Sebastian seinen Blick über die Gräber und Mausoleen wandern.
An Marx Grab blieb er ein paar Sekunden länger hängen als bei den anderen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er dachte, dass Joe in Nachbarschaft eines Philosophen beerdigt werden würde. Wäre er nun hier, hätte Joe sicher einen dummen Spruch über sein Glück oder Unglück gemacht. Sebastian konnte förmlich hören, wie der Jüngere „Ich hatte auf ein bisschen Ruhe gehofft, aber mit dem als Nachbar muss ich wohl endlos über verschiedene Staatsformen diskutieren, dabei habe ich sein Buch nicht einmal gelesen" sagte.
„Hättest du doch besser in der Schule aufgepasst, Joe", antwortete Sebastian seinen Gedanken und mit einem Seitenblick in Richtung des Grabes fügte er hinzu, „Proletarier aller Länder vereint euch!"
Als er in der Kapelle ankam, war die vordere Reihe schon besetzt. Er erkannte einige Mitglieder aus dem Netzwerk. Die Kapelle war nicht einmal halbvoll und er wusste, dass es nicht mehr werden würden. Er setzte sich in die dritte Reihe, nachdem er Mary Ann sein Beileid ausgesprochen und sie tröstend in den Arm genommen hatte. Niemand hatte Joe so nah gestanden, wie Mary Ann Nichols. Soweit Sebastian es mitbekommen hatte, war Joe der einzige gewesen, der Mary Anns komplette Geschichte kannte.
Moriarty betrat die Kapelle kurz nachdem der Gedenkgottesdienst begonnen hatte. Er setzte sich direkt hinter Sebastian, welcher den heißen Blick seines Bosses den restlichen Gottesdienst im Nacken spürte. Er versuchte sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, doch auf die Worte des Pfarrers konnte er sich nicht mehr konzentrieren.
Dieser sprach in höchsten Tönen von Joe und Sebastian war sich sicher, dass Moriarty ihm einen falschen Lebenslauf hatte zukommen lassen. Kein richtiger Christ würde mit einer solchen Passion über einen Mörder sprechen.
Der Gottesdienst endete, der Sarg wurde in die Erde gelassen, jeder warf Erde und Blumen darauf. Machs gut, Kumpel, dachte Sebastian und trat einen Schritt zurück. Er hörte Mary Ann leise weinen und sah sich nach ihr um. Sekundenlang hielt er ihren Blick als wolle er ihr versprechen für sie da zu sein.
Die Stille am offenen Grab war erdrückend und Sebastian war beinahe dankbar, als die ersten seiner Kollegen sich abwandten und langsam Richtung Friedhofsausgang gingen. Moriarty war einer der ersten, die das Grab verließen, doch Sebastian blieb noch ein Weilchen stehen. Joe war sein Freund gewesen und von Freunden verabschiedete man sich gefälligst auf eine gebührende Weise.
Als auch er sich zum Gehen wandte, standen nur noch drei Leute am Grab. Mary Ann war eine von ihnen und er wusste, dass sie die Letzte sein würde, die Abschied von Joe nahm.
Er nickte ihr knapp zu und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen und als sich der erste Tropfen in seinem Haar verfing, hatte Sebastian endgültig das Gefühl, dass die ganze Welt um Joe Miller trauerte.
Er verlangsamte seine Schritte und als der Regen stärker wurde, ließ er den Tränen freien Lauf.
Er mochte es nicht zu weinen, aber er hatte sich viel zu lange zusammengerissen, als dass er nun irgendetwas dagegen hätte tun können. Kurz bevor er am Tor ankam, wischte er sich über die Augen, atmete einmal tief durch und sammelte sich.
Draußen stand Moriartys Kutsche. Mendelsohn nickte ihm zu und er stieg ein.
„Guten Tag, Sebastian."
„Hallo, Professor."
Moriarty lächelte leicht und reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er sich das Gesicht abtrocknete. Dankbar gab er den Stofffetzen zurück an den Professor, dessen Initialen auf das Tuch gestickt waren.
Die Fahrt verlief ruhig, Moriarty überließ ihn seinen Gedanken, die noch immer an Joe hingen. Er dachte an die gemeinsamen Aufträge und daran, dass er nun Joes Position übernehmen würde. Es würde eine Menge Verantwortung auf ihn zu kommen und eine engere Zusammenarbeit mit Moriarty. Letztere allein hätte ihm gereicht, um die Stelle anzunehmen. Er brauchte das Geld nicht, welches lockte, allein die Zeit, die er mit dem Professor verbringen würde, war ihm Belohnung genug.
Er konnte nicht einmal sagen, was ihn veranlasste so zu denken. Er wusste nur, dass Moriarty einer der interessantesten Männer war, die er kannte und dass sich in dessen Nähe alles immer irgendwie richtig anfühlte. Sebastian sehnte sich nach ihren Gesprächen, ebenso wie nach ihrem stummen Zusammensitzen. Keine Minute mit dem Schwarzhaarigen schien ihm vergeudet, fast als hätte der Professor seinem Leben einen neuen Punkt gegeben, den es umkreisen konnte. Wie die Motten das Licht suchten, so verzehrte er sich nach Moriarty. Aber wie auch die Motten musste er aufpassen, dass er sich nicht die Flügel verbrannte.
„Wollen Sie noch länger über die Sinnhaftigkeit des Lebens sinnieren oder steigen Sie mit mir aus?", Moriarty hielt ihm die Tür auf. Ertappt blickte Sebastian auf, wurde rot, sah zu Boden und machte sich eilig daran dem Professor zu folgen.
Er stolperte hinter Moriarty ins Haus, nachdem dieser sich von Mendelsohn verabschiedet hatte. Automatisch fand er den Weg in die Stube und wie immer nahm er auf dem rot gepolsterten Sessel Platz. Moriarty holte den Whiskey heran und schüttete ihnen ein.
Für einen kurzen Moment sagten niemand etwas, dann räusperte sich Moriarty und sah ihn an.
„Sie wissen, warum Sie hier sind."
„Joes Stelle ist frei geworden", nickte Sebastian.
„Ja."
Sie verfielen wieder ins Schweigen. Sebastian nahm einen Schluck seines Whiskeys und blickte auf, als Moriarty sich aus seinem Sessel erhob. Unruhig begann sein Boss durch den Raum zu tigern, ohne ihn dabei eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Sebastian wurde unter dem Blick der schwarzen Augen zusehends nervös. Schließlich hielt es auch ihn nicht mehr im Sessel. Er stand auf, tat einen unsicheren Schritt auf Moriarty zu und blieb unschlüssig stehen.
„Ich nehme Ihr Angebot an. Ich werde Ihre rechte Hand, wenn Sie das wollen."
Augenblicklich stoppte Moriarty in der Bewegung. Eine unheilvolle Stille legte sich über den Raum und dann stand der Professor plötzlich direkt vor ihm.
„Sind Sie sicher?"
„J...Ja."
Moriarty nickte langsam und Sebastian wurde bewusst, wie unglaublich nah er ihm noch immer war. Er spürte sein Herz einen Moment aussetzen, ehe es in doppelter Geschwindigkeit gegen seine Rippen zu hämmern begann.
„Verunsichert Sie meine Nähe?", fragte Moriarty und pustete ihm heiße Atemluft über die Wange. Unfähig ein Wort zu sagen, schüttelte Sebastian den Kopf. „Gut. Wir werden in Zukunft nämlich öfter miteinander zu tun haben und ich kann niemanden an meiner Seite gebrauchen, der Angst vor mir hat."
„Ich habe keine Angst", presste Sebastian hervor.
„Ach?", Moriartys Augenbrauen schossen provokant in die Höhe, „Das wirkt anders auf mich."
Im nächsten Moment tat Sebastian etwas unglaublich Dummes. Er wusste nicht, weshalb er sich nach vorne gebeugt hatte und wie genau seine Lippen den Weg auf Moriartys Mund gefunden hatten. Er wusste nicht einmal, warum er tat, was er gerade tat. Er wusste nur, dass es sich seltsam gut anfühlte, den Professor zu küssen. Für den Moment verlor er jegliches Zeitgefühl, dann stießen ihn zwei Hände hart gegen die Brust und er taumelte zurück.
„Was war das?"
„Ein Kuss?!"
„Das habe sogar ich erkannt, Sebastian. Ich meine warum?"
„Ich sagte doch, ich habe keine Angst vor Ihnen."
Moriarty nickte. Er biss sich auf die Unterlippe und Sebastian wusste, dass er tief in Gedanken war. Als Moriarty aufsah. Konnte Sebastian eine tiefe Zerrissenheit in seinem Blick erkennen.
„Das hier ist nicht richtig, Sebastian", flüsterte er, bevor er die Distanz zwischen ihnen überwand. Dieses Mal war es Moriarty, der seine Lippen auf Sebastians drückte. Der Kuss hatte etwas verzweifeltes an sich. Sebastian umfasste Moriartys Arm wie ein Rettungsanker, von dem er sich erhoffte, er möge ihn aus der Tiefe ziehen.
Ein weiterer Kuss, er schmeckte salzig und Sebastian verstand, dass er angefangen hatte zu weinen. Dies war kein Rettungsanker, dies war das Meer, in dem sie gemeinsam ertrinken würden. Er müsste loslassen, um nicht runter gezogen zu werden, doch sein Griff wurde fester, sein Kuss fordernder.
Als sie sich schwer atmend voneinander löste, verriet ihm ein Blick in Moriartys dunkle Augen, dass sie beide verdammt waren.
„Kein Wort zu niemanden", Moriarty klang gehetzt. Sebastian nickte, noch immer unfähig ein Wort herauszubringen. Inzwischen war es ihm egal, dass der andere seine Tränen sah. Dieser Tag war zu viel für ihn und das obwohl er nicht einmal halb um war.
Moriarty sah ihn an und seufzte: „Es ist okay, Sebastian."
Mehr hatte der Professor nicht mehr zu dem heillosen Durcheinander gesagt, in das sie hineingestolpert waren. Statt etwas zu sagen, hatte er Sebastians Whiskey Glas nachgefüllt und ihm einen Vertrag vorgelegt, der Sebastian zum zweiten Mann in Moriartys Netzwerk machte. Knapp 5000 Pfund würde er verdienen, solange er sich gut schlug. Sein Versagen würde seinen Tod bedeuten.
Es war nichts Neues, was auf dem Stück Papier festgehalten wurde und dennoch las er sich jeden Punkt genaustens durch. Es beruhigte ihn, die Sachlichkeit der Sprache holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, in der er Moriarty geküsst hatte und dennoch dessen rechte Hand werden würde.
Er setzte seine Unterschrift unter den Vertrag, ohne noch einmal darüber nachzudenken. Dann verabschiedete er sich von Moriarty, dessen Nähe noch immer zu viel für ihn war. An der Tür überlegte er, ob er noch etwas sagen sollte, was die Situation zwischen ihnen weniger Verfahren hätte erscheinen lassen. Er ließ es bleiben, reichte dem Professor stattdessen die Hand und lächelte verkrampft.
„Mach es gut, Sebastian", sagte Moriarty und drückte seine Hand ein wenig doller.
„Immer doch", murmelte er und hatte endlich das Gefühl wieder er selbst zu sein.
Er hörte die Tür ins Schloss fallen und war beinahe froh, nach Hause gehen zu dürfen.
Den restlichen Tag verbrachte er in Gedanken abwechselnd bei Moriarty und Joe. Er wünschte sich letzterer wäre da, obwohl er wusste, dass er mit niemanden über den Kuss reden durfte. Erst neulich hatte ein Artikel in der Zeitung gestanden, dass ein wohlbekannter Kaufmann (Namen wurden keine genannt) zu zwei Jahren Zuchthaus mit harter Arbeit verurteilt worden, weil man ihn mit dem Penis eines anderen Mannes im Mund erwischt hatte. Es hatte einen riesigen Aufschrei gegeben zumal besagter Kaufmann Frau und Kinder zu Hause hatte und gerade bei den Kleinen machte sich die Öffentlichkeit Sorgen, könnte der Unzucht betreibende Vater bleibende Spuren hinterlassen haben.
Nein, er hätte Joe nicht davon erzählen dürfen, aber es war besser sich zu zweit zu betrinken, als allein ein Bier nach dem anderen hinunter zu stürzen.
Der Alkohol machte ihn müde, aber er wusste, dass alles zurückkommen würde, wenn er sich nun hinlegte. Also warf er sich den Mantel über und wankte nach draußen.
Der Regen hatte zugenommen und innerhalb weniger Minuten war er nass bis auf die Knochen. Trotz das er fror, lief er weiter durch die Nacht. Irgendwann begann er zu rennen so gut es eben im betrunkenen Zustand möglich war. Seine Schritte hallten durch die Nacht, ein Geräusch, welches ihn beruhigte.
Er lief weiter und weiter, bis seine Beine bleischwer waren und seine Lungen brannten. Er sah sich um und stellte fest, dass die Themse zu seiner Rechten leise vor sich hinplätscherte. Vollkommen fertig ließ er sich auf eine Bank fallen, starrte auf den dunklen Strom.
Sein Atem normalisierte sich, doch eine bleiende Müdigkeit ergriff Besitz von ihm.
Sie war zu schwer, um sich abschütteln zu lassen und so galt Sebastians letzter Gedanke Moriarty, der nicht hier war, um ihn zu wärmen.
[...✴...]
Na ihr?
Wie geht es euch?
Habt ihr das Wochenende gut genutzt und habt ihr schöne Pläne für heute?
Ich werde wohl was für die Uni machen und dann noch ein wenig lesen oder schreiben.
Immerhin ist diese Geschichte mit diesem Kapitel nun an dem Punkt angekommen, wo es für die zwei ernst wird.
Wie hat euch der erste Kuss gefallen?
Wir lesen uns,
A.S.
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