14. Con molto esspressione

Con molto esspressione (ital.): Mit viel Ausdruck

Träge wanderte seine Hand in gleichförmigen Kreisbewegungen über James Rücken. James hatte Recht gehabt sie hatten mehr Zeit füreinander, trotz des Lehrstuhls an der Universität. Die neuen Mitglieder des Netzwerkes (Norton, Carlson und Rogers) machten gute Arbeit. Sie trugen die Last der Verantwortung sicher und waren innerhalb der letzten Monate zu verlässlichen Größen im Netzwerk geworden.

Sebastian arbeitete ab und an mit ihnen zusammen, doch auch er trat inzwischen kürzer. Bei Besprechungen war er zwar oft noch anwesend, aber manchmal fehlte ihm das alte Feuer. Ohne Mary Ann, die nach Joes Tod anscheinend die einzige gewesen war, die gewusst hatte, was ein Feuer am Leben hielt, waren die Flammen erstickt. Es fehlte ihren Treffen an Elan und Tatgeist. Der spannendste Job der Welt war eintönig geworden und Sebastian ging ohne große Leidenschaft an seine Aufgaben im Netzwerk ran.

Er war nicht der einzige, denn auch James brannte nicht mehr so für das Netzwerk wie noch zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit. Der Consulting Criminal war immer öfter in seinem Büro in der Universität zu finden und hielt lieber Lehrveranstaltungen ab, als an Besprechungen teil zu nehmen. Es machte manchmal beinahe den Eindruck, als sei er aus den ganzen kriminellen Spielen herausgewachsen.

Seltsamerweise veränderte sich ihre Beziehung zueinander kaum. Eher wurde sie besser, jetzt wo sie sich weniger in die Belange des Netzwerkes einmischten. Es gab weniger Streitpunkte und sie hatten mehr Zeit sich auf das wesentliche zu konzentrieren. Das Netzwerk verschwamm, wenn sie einander nahe waren. So lagen sie auch jetzt gemeinsam im Bett und beinahe wäre Sebastian weggedämmert, als es an der Tür klopfte.

James blickte alarmiert auf, dann sprang er auf und zog sich hastig Hose und Hemd an. Es wirkte viel zu nachlässig für James, doch so gut kannten die wenigsten ihn. Sie tauschten einen schnellen Blick aus, Sebastian würde im Schlafzimmer bleiben, sich aber vorsichtshalber anziehen.

Während Sebastian sich die unachtsam auf den Boden fallen gelassene Hose angelte, hörte er James Schritte auf der Treppe. Die Haustür wurde geöffnet und Nortons aufgeregte Stimme waberte nach oben.

„Rogers ist verschwunden."
„Wie verschwunden?"
„Nicht mehr erreichbar. Damit ist uns der Kontakt zu einem Bereich des Netzwerkes weggebrochen", es klang atemlos.

Eine unbegründete Angst stieg in Sebastian hoch. Wie eine leise Vorahnung, dass die Jahre des Glücks enden würden. Dann zog der Moment vorüber und er hörte Moriartys Stimme, die Norton fortschickte.

„Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen. In ein paar Tagen taucht Rogers schon wieder auf und dann werde ich mich höchstpersönlich um ihn kümmern", die Haustür wurde erneut geöffnet, „Und nun würde ich gerne meine freie Zeit genießen, ohne mir Ihr unsägliches Gerede anhören zu müssen."

Wenige Minuten später stand James wieder im Schlafzimmer, ein Lächeln auf den Lippen. „Wo waren wir stehen geblieben?"

Sie machten weiter. Woche um Woche, ohne dass Rogers sich zurückmeldete. Moriarty tobte, der Kontakt zum Flügel war nicht zurückzugewinnen. Sie schliefen miteinander, James beruhigte sich wieder. Auf ein paar Menschen mehr oder weniger kam es nicht an.

Bei manchen Besprechungen hatte Sebastian das Gefühl, dass sich eine nervöse Unruhe mit Rogers Veschwinden im Netzwerk breit gemacht hatte, ein bedrohlicher Schatten, der sich über sie gelegt hatte und sich nicht abschütteln ließ. Dann schlief er mit James oder trank zu viel Whiskey und überzeugte sich selbst, dass es nichts gab, wovor man sich hätte fürchten müssen. James passte auf sie alle auf. Er war die Spinne und spürte, wenn sich jemand im Netz bewegte.

Anfang November wurde in London die erste U-Bahn eröffnet. Mitte November lud James ihn auf eine Fahrt ein. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge, als sie die Treppe unter die Erde nahmen. Sein Herz pochte heftig als die Bahn einfuhr und ein breites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sie ihre Plätze einnahmen. James saß ein bisschen zu nah bei ihm und ganz kurz streiften sich wie zufällig ihre Hände. Er sah zu James und hoffte, dass sein Blick ausdrücken konnte wie sehr er den anderen liebte.

Die U-Bahn fuhr ruckelig durch die engen Tunnel und Sebastian wurde ob der Enge nervös. Es war anders als Zug fahren, aber etwas sagte ihm, dass sie sich alle an dieses neue Transportmittel würden gewöhnen müssen. Es gehörte zu London wie die Fabriken des East Ends und wie die Droschken.

Nach der Fahrt entführte James ihn in ein Restaurant. Sie redeten über die U-Bahn und James schwärmte von einer neuen Welt. Sebastian grinste, während er ihm zu hörte und fragte sich, ob diese neue Welt eines Tages auch Platz für sie haben würde. Oder ob tatsächlich alles an ihnen falsch war, obwohl es sich so richtig anfühlte.

„Woran denken Sie, Moran?", wie immer in der Öffentlichkeit siezte James ihn.
„Ich fragte mich, ob wir wohl diese neue Welt erleben werden, von welcher Sie schwärmen, Herr Professor."

„Wir werden sie nicht nur erleben, wir werden sie maßgeblich prägen, Moran", James lächelte und Sebastian wusste, dass er auf das Netzwerk anspielte und auf die Leute, die sie aus dem Weg geräumt hatten.

Selbst wenn das Netzwerk ihnen in diesen Tagen klein und eingestaubt erschien, so hatte es die Londoner Politik der letzten Jahre doch oftmals beeinflusst. Politiker waren scheinbar bei Unfällen ums Leben gekommen, Kaufleute hatten Verträge in exorbitanten Höhen geschlossen und das Verbrechen war in geordnete Bahnen gelenkt worden.

Niemand konnte leugnen, dass Professor Moriarty Geschichte geschrieben hatte.

Doch irgendwann hatte die Geschichte immer genug von den Menschen, die sie schrieben. Cäsars eigener Sohn hatte geholfen ihn zu erstechen, welch Ironie in dem Satz et tu Brute lag. Luther war dem Alkohol verfallen, nachdem er die Kirche gespalten hatte und selbst Napoleon war von den Mühlen der Geschichte zermalmt worden, die er zuvor geschrieben hatte.

Dass Moriarty ein ähnliches Schicksal erwartete, sollten sie erst begreifen, als es zu spät war.

Anfang Dezember verschwand Norton. Mit ihm brach der Kontakt zu großen Bereichen der Unterwelt ab, denn weder Sebastian noch der Professor selbst, kümmerten sich um die letzten Mitglieder der Kette. Wenn Mary Ann sie eins gelehrt hatte, dann dass Vertrauen gewagt und Freund gefährlicher als Feind war. Je weniger Menschen direkten Kontakt zu Moriarty hätten, desto sicherer saß dieser in der Mitte des Netzes. Eine einfache Rechnung.

Der Nachteil dieser Annahme bestand darin, dass an einer Kontaktperson viele Kleinkriminelle hingen. Riss der Faden zur Kontaktperson, fielen auch diese in den Abgrund. Das Netz bekam Risse, die Außenseiten zerfledderten, doch sie beide saßen in der Mitte und alles was zählte, war dass sie sich endlich wieder richtig gut verstanden.

Weihnachten verbrachten sie zusammen. Ohne Geschenke, ohne großes Essen. Sie lagen einfach den ganzen Tag im Bett. Moriarty erzählte ihm Geschichten aus der Universität und er redete von seiner Kindheit, von seinen Eltern, von der Zeit bei der Armee.

„Glaubst du manchmal, dass das hier falsch ist?", er hatte James diese Frage schon lange stellen wollen.

„Was meinst du?"
„Uns. Unsere Liebe, der Sex... alles."

James sah ihn an, sagte lange Zeit nichts, dann: „Ich weiß es nicht. Es fühlt sich nicht falsch an. Außerdem wer sollte über uns richten?"
„Mein Vater war ein gläubiger Mensch... also Gott."

„Wenn es Gott wirklich gibt, dann hat er viel mehr Sünden für die er uns bestrafen kann, als dafür dass wir wahrhaft geliebt haben", James fasste nach seiner Hand, „Die einzigen, die uns richten werden, sind die Menschen, die nicht begreifen, was es heißt zu lieben."

Er konnte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. Genauso wie er sich damit zufriedengegeben hatte, dass sein Leben an James gekettet war. Dass es kein Entkommen gab, dass er kein Entkommen wollte. James war zu seinem Fixpunkt geworden und manchmal bildete er sich ein, dass auch James sich mehr Mühe gab. Er wusste, dass James ihn nie so lieben würde wie er ihn liebte, doch er hoffte, dass er dennoch ein wichtiger Punkt in dem Leben des anderen war.
Nicht der Anker, aber das Bullsauge, welches den Blick auf eine schönere Welt freigab. Ein Blick in Richtung Horizont, ein Versprechen auf alles, was sein könnte.
Er verbrachte die gesamten Weihnachtstage bei James. Es war fast normal.

Sie kochten und tranken und abends schliefen sie nebeneinander ein. Er spielte Klavier und wenn er besonders gut drauf war, sang er. James mochte seinen Gesang, ihm selbst war es meist unangenehm.

Lacrimosa dies illa,
Qua resurget ex favilla
Iudicandus homo reus:
Huic ergo parce Deus.

„Das Requiem", James legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Es war das Lieblingsstück meines Vaters", erklärte er.
„Es ist schön."
„Das ist es."

Dann stimmte er das Stück erneut an. Dunkle Klänge hingen in der Luft und er fragte sich ob die Totenmesse nicht sein Leben beschrieb. Ob auch er gnadensuchend vor das oberste Gericht treten und den Richter um ewige Ruhe beten würde. Gab es für Mörder überhaupt Gnade und konnte ein Sünder ewige Ruhe finden? Wenn schon nicht im irdischen Leben, dann wenigstens danach.

Neujahr kam. Sie schrieben das Jahr 1891. Ihr Leben ging weiter, doch hinter der Fassade des Netzwerkes begann es zu bröckeln. Ungesehen hatte sich ein Virus in ihre Reihen geschlichen und eine irrationale Angst machte sich unter den Mitgliedern breit.

Moriarty konnte sie nicht mehr beschützen. Das Schiff sank, doch der Kapitän vergnügte sich in seiner Kajüte mit dem besten Matrosen.

Am vierten Januar kreuzten sich Moriartys Wege das erste Mal mit Holmes. Nie zuvor waren sie einander so nah gekommen, doch nun musste auch Moriarty erkennen, dass er Holmes unterschätzt hatte.

Er besuchte Sebastian an diesem Abend in seiner Wohnung, was ungewöhnlich war, und tobte. Selten hatte Sebastian James so wütend erlebt. Die dunklen Augen sprühten Funken, seine Stimme zitterte vor Wut und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sebastian konnte ihm nur zu schauen. Zum Schluss schliefen sie miteinander. James war wütend.

Mitte Februar. Holmes war ihnen noch näher gerückt, er bereitete ihnen nun ernsthafte Schwierigkeiten.
Ende März waren alle Unternehmungen des Netzwerkes lahmgelegt.

„Ich war blind", schrie James und er zuckte zusammen, „Ich habe ihn nicht gesehen, wie konnte ich ihn nicht sehen?!"
„James, bitte", er tat einen Schritt auf den Schwarzhaarigen zu, „Es war nicht deine Schuld."

„Nein", James Stimme war flach und kalt, „Es ist deine."
„Wie meinst du das?"
„Du hast mich abgelenkt. Wenn du nicht da gewesen wärst, dann hätte ich ihn kommen sehen, aber jetzt ist es zu spät."

„Das ist nicht wahr", flüsterte er, dann wurde er lauter, „Das ist nicht wahr und das weißt du."
„Na und, Holmes ist da und er wird uns alles nehmen."
„Das kannst du nicht zulassen." Bitte James, rette uns ein letztes Mal.

„Nein, kann ich nicht", plötzlich klang James müde. So unendlich müde, als hätte er sein Leben lang gekämpft und letzten Endes doch verloren.

In dieser Nacht hielten sie einander. Hielten sich fest, verzweifelt, panisch, geschlagen.

James Worte hallten in seinem Kopf wider. Du bist Schuld. Seine Augen begannen zu brennen, was wenn sie es nicht schafften? Dann war er Schuld, dass man James die Freiheit raubte.
Er schüttelte den Kopf, sie würden es schaffen und dann würden sie von Vorne anfangen.
Umsichtiger, besser.

[...✴...]

Lacrimosa dies illa,
Qua resurget ex favilla
Iudicandus homo reus:
Huic ergo parce Deus.
(Tag der Tränen, Tag der Wehen,
Da vom Grabe wird erstehen
Zum Gericht der Mensch voll Sünde:
Lass ihr, Gott, Erbamen finden)

Hey,
wir nähern uns dem Ende...
Ich hoffe, dass es in diesem Kapitel nicht alles ein bisschen zu schnell ging, aber ich wollte nicht groß über die Schrecken schreiben, die Holmes verbreitet.

Wie gestaltet ihr eure freie Zeit?

Inwieweit seid ihr von den Maßnahmen und dem Virus betroffen?

Ich schreibe gerade wieder etwas mehr.
Vielleicht kommen noch ein bis zwei Kapitel.
In denen werde ich dann ein wenug vom Canon abweichen, denn den Canon hat ja "Watson geschrieben" und der würde sicher ein paar Kleinigkeiten verändern, um seinen Freund ins rechte Licht zu rücken...

Außerdem wird es ein Bonus Kapitel geben, welches eigentlich nie geplant war. Aber als ich mitten in meiner Schreibblokade hing, habe ich von einem Ende für diese Story geträumt, welches ich interessant fand.

Das Bonuskapitel wird also eine Form des Endes sein, wie es sich in meine Träume geschlichen hat.

Bis bald
A.S.

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