13. Stentando
Stentando (ital.): Mühsam
Es war seltsam wie einfach die Menschen weitermachen konnten, nachdem das Unsagbare geschehen war. Manchmal fragte Sebastian sich, woher er die Kraft nahm, so zu tun als wäre die ganze Geschichte mit Mary Ann und alles was sie nach sich gezogen hatte, nie geschehen. Einmal hatte er an Joes Grab gestanden und sich entschuldigt. Dafür, dass er so ein Versager war, dafür dass er so schwach war.
Noch am selben Abend hatte er im Bett des Professors gelegen. Im Bett des Professors hatte auch das Jahr 1889 begonnen. Es war komisch wie leise sich das alte Jahr ausgeschlichen hatte.
Und sie hatten weitergemacht. Als wäre nie etwas geschehen, als hätte Mary Ann nie gegeben. Der Alltag war zurückgekehrt und das neue Jahr kräftigte sie in dem Glauben nun wahrhaft unbesiegbar zu sein. Mary Ann hatte sie nicht besiegen können, wer also hätte eine Chance gegen sie?
Ja, Mary Ann hatte sie verraten, aber Holmes fischte im Trüben und war nun ohne Informanten unterwegs. James zerstreute Sebastians Sorgen, indem er Holmes einen Stümper schimpfte, der sich leicht um den Finger wickeln ließe und der mehr Glück als Verstand besaß. Und wenn das letzte Jahr irgendwas gezeigt hatte, dann doch wohl, dass das Glück ihnen gnädig gesinnt war.
Auch 1889 verließ das Glück nicht. Im Gegenteil, die Auftragslage war besser als jemals zuvor. Es schien nichts zu geben, was ihnen nicht gelang. Kein Auftrag war zu schwer, kein Gegner war stark genug, um sie aufzuhalten.
Einzig die Zeit schien in diesem Jahr Mangelware zu werden. Hatten sie sich im Vorjahr mindestens dreimal in der Woche gesehen, so war Sebastian nun froh, wenn er James einmal in der Woche zu Gesicht bekam. Wenn sie sich sahen, gab es kaum Zeit Zärtlichkeiten auszutauschen, weil sie über die Arbeit sprechen mussten.
Sebastian versuchte sich nicht daran zu stören, was ihm zunehmend schwerer fiel. Zum einen, weil er sich wirklich nach James sehnte und zum anderen, weil dieser im Oktober zu Beginn des neuen Semesters eine Stelle an der Universität annahm.
„Ich dachte, wir wollten mehr Zeit miteinander verbringen. Stattdessen halst du dir noch mehr Arbeit auf", frustriert blickte Sebastian auf das Mathematikbuch, welches zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Sie hatten gerade zwei Stunden damit verbracht, die Aufträge der kommenden zwei Wochen zu planen, als James ihm aus dem Nichts gesagt hatte, dass er einen Lehrstuhl an der Universität angenommen hatte. Für einen Moment war Sebastian sprachlos gewesen, dann hatte er sich gefangen.
James seufzte und blickte auf. Auf seinem Gesicht machte sich der Ausdruck milder Enttäuschung breit und Sebastian überkam das Gefühl, dass einen wichtigen Gedanken von James verpasst hatte.
„Du verstehst nicht", stellte James fest, dann redete er so langsam weiter, als spräche er mit einem kleinen Kind oder mit einem sehr alten Menschen, „Meine Organisation begeht derzeitig so viele Verbrechen wie niemand in der Geschichte Englands zuvor. All das geht auf mein Konto und da dachte ich, dass es eine gute Idee wäre mir selber ein Alibi zu verschaffen. Die meisten Menschen achten nur auf das Äußere und wer würde einem angesehenen Professor der Mathematik schon ein Verbrechen unterstellen."
„Du fängst jetzt an dir Sorgen zu machen, dass wir auffliegen könnten?", Sebastians Augenbrauen schossen in die Höhe.
„Ich mache mir seit jeher Sorgen. Ich habe nur zu diesem Zeitpunkt beschlossen deswegen tätig zu werden."
„Das klingt einfach nur nach mehr Arbeit. Verrückt, auch wenn ich das Wort in deiner Anwesenheit nicht gebrauchen darf."
„Mehr Arbeit nur für ein paar Monate. Ich rechne fest damit, dass es einige Studenten gibt, die sich in den Dienst unserer Sache stellen. Außerdem werde ich Hyde befördern, sodass es für uns ab Januar weniger zu tun gibt. Das ist alles andere als verrückt."
„Wenn du meinst", es kam schnippischer heraus als er intendiert hatte und am liebsten hätte er die Worte zurückgezogen, den James wirkte alles andere als erfreut über diesen Einwurf.
„Sebastian, zügel deine Zunge", die Worte waren leise gesprochen worden, doch es reichte, dass Sebastian zusammenzuckte. Eigentlich kannte er Moriarty inzwischen lang genug, um zu wissen wie weit er gehen durfte und wann er eine unsichtbare Grenze überschritt. Eigentlich war ein gefährliches Wort.
„Jaja, tut mir leid", er klang wie ein trotziges Kind, „Ich weiß nicht mal, warum dieses Wort aus meinem Wortschatz verbannt wurde..."
„Weil du dich benimmst wie ein kleines Kind und keine Ahnung hast, was dieses Wort überhaupt bedeutet", James seufzte genervt und in die dunklen Augen hatte sich ein gefährliches Funkeln geschlichen.
„Dann klär mich auf", forderte Sebastian, doch wusste noch in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, dass er es lieber hätte bleiben lassen sollen.
„Ich glaube es wäre besser, wenn du jetzt gehst", sagte James und es klang weder sauer noch sonst emotional berührt. Einfach nur kalt und müde und final.
„Wenn du meinst", auch Sebastian klang müde. Doch er stand auf und ohne einen weiteren Blick zurück, verließ er die Villa des Professors.
Es tat weh, aus der Tür zu treten, nachdem sie sich so voneinander verabschiedet hatten. Selten hatten sie sich auf solche Art und Weise getrennt. Klar hatten sie schon oft gestritten, dann hatten sie einander angeschrien, bis Sebastian aus der Tür gestürmt war. Aber solange sie sich anschrien, hatte er immer das Gefühl, dass er James etwas bedeutete, immerhin war er dessen Wut wert. Kalt war James nur, wenn er mit Menschen redete, die nach seinem Beschluss sterben mussten.
Er verfluchte sich selbst und einen winzigen Augenblick lang überlegte er umzudrehen, um an der roten Backsteinvilla zu klopfen. Dann würde er James bitten ihm auf der Stelle zu verzeihen oder ihn umzubringen. Doch er besann sich eines Besseren, zumindest einen Hauch Würde wollte er behalten.
Sein Apartment in Westminster war viel zu groß. Gerade in Momenten, in denen er nicht mit sich allein sein konnte. Momente, in denen er nicht in den Spiegel blicken konnte oder in denen James Stimme in seinem Kopf so laut war, dass er sich nur noch die Ohren zuhalten und weglaufen wollte. Aber zum Weglaufen war es zu spät. In dem Moment in dem Joe vor langer Zeit das Leben lassen musste, damit Sebastian nachrücken konnte, war es zu spät zum Wegrennen gewesen.
Deshalb tat Sebastian nun das einzig logische. Er setzte sich ans Klavier (der Vorteil der großen Wohnung war, dass ein Klavier Platz in ihr fand) und zimmerte eine undefinierbare Melodie in die Tasten. Laut und schräg und grausam. Sein Vater hätte den Kopf geschüttelt. Sebastian lachte, was für ein armer Mann sein Vater doch war.
Als seine Hände anfingen zu zittern, holte er den Whisky aus der Anrichte nahm einen Schluck, spielte weiter, nahm noch einen Schluck.
Irgendwann taumelte er ins Bett, wo er in einen komatösen Schlaf fiel.
Er erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Er fragte sich ob James sich bei ihm melden würde, doch er kannte die Antwort bereits. James meldete sich nie bei ihm. Manchmal hatte Sebastian das Gefühl nur eine Marionette des Professors zu sein. Einmal hatte er diesen Gedanken geäußert. Da hatte James ihn geküsst und sie hatten miteinander geschlafen und James hatte ihn Tiger genannt und er war so verdammt glücklich gewesen, dass ihm nicht aufgefallen war, dass James kein Wort zu seinen Gedanken geäußert hatte.
Dieses Mal sagte er sich, würde James nicht so einfach wegkommen. Seit Monaten hatten sie kaum mehr Zeit füreinander und immer, wenn Sebastian es ansprach, winkte James ab. Sie stritten sich wegen Nichtigkeiten (so auch gestern) und er war derjenige, der angekrochen kam, um sich auf Knien bei vor dem großen Professor Moriarty zu entschuldigen. Er ballte seine Hand zur Faust und schlug gegen die Wand. An manchen Tagen fühlte er sich gefangen, in einem Leben, das sich schon vor langer Zeit seiner Kontrolle entzogen hatte.
Mangels besserer Optionen machte er sich kurz vor dem Mittag auf den Weg zum Professor. Vor der roten Backsteinvilla zögerte er. Was wollte er hier? Den Professor bitten, dass er ihn endlich auch seinen Fängen entließ? Mit James schlafen und darauf hoffen, dass dieser endlich die drei erlösenden Worte sagen würde? James anschreien und dann mit ihm schlafen?
Er seufzte und Klopfte. James öffnete, wirkte nicht überrascht und bat ihn herein.
„Ich hätte früher mit dir gerechnet", sagte James, während er die Tür schloss.
„Ich habe nachgedacht."
„Tatsächlich?"
„Ja", er fühlte sich schrecklich. Nahm James ihn überhaupt ernst? „Ich kann so nicht weitermachen. Wir streiten uns... du wirfst mich raus... ich komm zurück, aber dir scheint es alles egal zu sein..."
„Halt. Ich habe auch nachgedacht Sebastian. Ich glaube, du solltest wissen, warum ich so eine Abneigung gegen die Bezeichnung verrückt habe", James Stimme war sanft, als er die Kontrolle über das Gespräch an sich nahm.
Sebastian kam ins Straucheln. Er hatte noch so viel zu sagen, wusste nicht wie er die Worte hervorbringen sollte.
„Setzt dich", James deutete auf den Sessel. In seinem Kopf schien es zu arbeiten, als er ihnen Whiskey eingoss. „Weißt du Sebastian, ich rede nicht gerne über die Vergangenheit. Das, was ich dir jetzt sage, weiß sonst niemand."
Plötzlich wirkte der Schwarzhaarige verletzlich und Sebastian wünschte sich, er könnte ihn in den Arm nehmen, ihm sagen, dass die Vergangenheit keine Definition des Jetzt darstellte. Er selbst hatte manchmal mit seiner Vergangenheit zu kämpfen.
„Ich... nein, meine Mutter... es war nicht immer einfach mit ihr. Ich meine, sie war eine großartige Frau, die uns Kinder immer geliebt hat, aber es war schwierig. Es gab keinen Grund dafür, dass sie wahnsinnig geworden ist. Mein Vater hat immer nach einem Mittel gesucht, ihr zu helfen, doch dann... er ist gestorben und sie haben meine Mutter geholt. Verrückt haben sie sie genannt und man hat sie ins Irrenhaus gesteckt. Wir Kinder haben sie noch ein paar Mal besucht...", James Blick war in die Ferne gerichtet und Sebastian konnte nur ahnen, was er hinter dem Vorhang der Vergangenheit sah.
„Das tut mir Leid, James, es war nicht eure Schuld", er griff über den Tisch nach James Hand.
„Es fühlt sich ein wenig so an", murmelte James, dann sah er auf, „Ich hoffe, du verstehst weshalb ich so allergisch auf das Wort reagiere."
Sebastian nickte. Kurz überlegte er, was er hatte sagen wollen, bevor James das Gespräch an sich gerissen hatte, dann kam es ihm dumm vor. James hatte ihm gerade etwas sehr Privates erzählt, da konnte er doch nicht um Freilassung bitten. Außerdem war der Streit denn wirklich so schlimm gewesen? Und weshalb sollte James sich nicht ändern, immerhin hatte er ihm dieses Geheimnis anvertraut?!
„Genug von der Vergangenheit", sagte James, der aufgestanden war und lächelnd auf ihn zukam, „Ich habe eine sehr gute Idee, was wir mit der nahen Zukunft anfangen können."
Als Sebastian am frühen Abend die Villa verließ, fühlte er sich seltsam leer. Er war wieder im Bett des Professors gelandet (es wäre eine Lüge zu sagen, er hätte es nicht genossen), und ein Teil von ihm hasste sich dafür. Eigentlich hatte er reden wollen. Dann hatte James geredet und der naive Teil in ihm, glaubte auch jetzt noch, dass tatsächlich alles wieder gut werden würde. Insofern es je gut gewesen war.
Er wünschte sich jemanden zum Reden. Jemanden wie Mary Ann, die als einzige den Mut gehabt hatte James als Mistkerl zu bezeichnen. Er erinnerte sich, dass sie sich gewundert hatte, weil Moriarty ihn nicht besaß. Weil der Professor ihn nicht gerettet hatte und er nie in der Schuld des Professors gestanden hatte. Vielleicht war ihr im Moment ihres Todes klargeworden, dass James ihn mehr besaß, als er die anderen je besitzen konnte. Denn Liebe machte gefügiger als Schuld, Dankbarkeit und Angst. Und Sebastian liebte James. Liebte ihn mit jeder Faser seines Köpers. Liebte ihn so sehr, dass er bereit war ihm in die Hölle zu folgen.
Er musste lachen. Die Liebe zu Joe hatte Mary Ann befreit. Die Liebe zu Joe und ihr Verrat. In dem Augenblick, in dem sie sich an Sherlock Holmes gewandt hatte, musste ihr klar gewesen sein, auf welch dunklen Pfand sie sich begab. Ein Pfad, der sie entweder in die Freiheit oder in den Tod führte. Niemand war mächtiger als Moriarty. Nicht einmal ein selbsternannter Detektiv. James sah alles und jeden und er hatte eine Art, die es schwer machte, ihm zu widerstehen. Sebastian wusste das. Er wusste es so gut.
Er fragte sich, ob es ewig so weiter gehen würde. Fürchtete sich davor, doch fürchtete sich noch mehr davor, James eines Tages zu verlieren. Sie alle mussten Kompromisse eingehen. Dass James an der Universität lehren würde, gehörte nun eben dazu. Vielleicht hatte James ja Recht und im nächsten Jahr würden sie wieder mehr Zeit füreinander finden. Nächstes Jahr... das schien noch ewig hin zu sein. Nächstes Jahr kannten sie sich seit fünf Jahren. In einer anderen Welt wären sie dann vermutlich bereits verheiratet. Wie viel er für diese andere Welt geben würde.
[...✴...]
Hi,
ich bin ehrlich, ich mag dieses Kapitel nicht. Aber ich wollte es auch nicht neu schreiben weil es in gewisser Weise zeigt wie abhängig Sebastian ist. Und was für ein manipulatives Arschloch James sein kann.
Wie geht es euch?
Ich hoffe ihr hattet eine gute Woche.
Wir lesen uns,
A.S.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top