1.6
Es hatte etwas beruhigend routiniertes, Agnes nach einem Vollmond abzuholen.
Fred hatte das häufig gemacht und er würde es noch oft in der Zukunft machen. Eigentlich war es kein Grund zur Freude, immerhin hatte Agnes eine Nacht des Grauens hinter sich – wie jeden Vollmond – und hatte bestimmt Schmerzen, war desorientiert oder verwirrt oder panisch und fühlte sich bestimmt müde, aber gleichzeitig bedeutete das, dass sie nicht mehr im St. Mungos war, um sich dort zu verwandeln.
Die Tatsache, dass Agnes Fred für sich Sorgen ließ, bedeutete Fred die Welt, obwohl das für Außenstehende seltsam klingen mochte, aber irgendwie hatte noch keiner in Freds Familie etwas dazu gesagt. Erstaunlicher Weise hatten sie es alle irgendwie verstanden.
Fred fand den Ort wieder, an dem er Agnes am Vorabend zurückgelassen hatte und einen Moment lang sank ihm sein Herz in die Hose, als Agnes ihn nicht erwartete. Trotzdem versuchte er, positiv zu bleiben und die Gedanken an das letzte Mal, als er Agnes nach einem Vollmond nicht sofort gefunden hatte zu vertreiben – damals hatte natürlich Agnolia Tripe ihre Tochter aus der Wohnung entführt und dabei Roger Davies umgebracht.
„Agnes! Ich bin's Freddie!", rief Fred heiter, bevor er höflich an der Tür klopfte und erst dann eintrat in der Hoffnung, dass das genug Vorwarnung für Agnes gewesen war, aber er lernte noch.
Die Hütte roch nach Erbrochenem und war zerstört mit zersplitterten und zerstörten Möbeln überall, die von einer anstrengenden Nacht zeugten, aber die magischen Barrieren hatten gehalten und Agnes hatte die Hütte nicht verlassen können. Das war ein Fluch und ein Segen zugleich, denn Werwölfe wurden nicht gerne eingesperrt – besonders nicht während Vollmonden. Gleichzeitig aber brauchte es Schutz, um andere zu schützen.
Je länger man darüber nachdachte, desto mehr erkannte Fred, dass Werwölfe eigentlich typische Buch-Helden waren. Sie opferten ihre eigene Gesundheit, ihr eigenes Leben und ihr eigenes Wohl für das anderer – das klang für Fred wie ein Held und trotzdem wurden sie noch immer eher verachtet in der Gesellschaft.
Kingsley – der neue Zaubereiminister – hatte natürlich sehr vehement neue Gesetze eingeführt, die das Leben von Werwölfen erleichterten, aber neue Gesetze veränderten die Welt nicht von einem Tag auf den anderen und Kingsley hatte viel Kritik einstecken müssen.
Im ersten Moment konnte Fred Agnes nirgends sehen und er konnte nicht anders, als sich sofort Sorgen zu machen, aber dann erblickte er ihre außergewöhnlich hellen Haare im dämmrigen Licht.
Sie lag nackt zusammengekauert mit dem Rücken zu ihm in einer Ecke und rührte sich nicht.
„Agnes!", rief Fred sofort erschrocken und rannte zu ihr.
Agnes rührte sich nicht, als Fred sich neben sie auf den Boden kniete und eine Hand auf ihre Schulter legte. „Agnes?", fragte er vorsichtig, „Bitte, sag, dass es dir gutgeht."
„Geh weg, Fred", wisperte Agnes so leise und sanft, dass Fred sie beinahe nicht gehört hatte, „Ich bin ein Monster."
Unendliche Erleichterung durchflutete Fred, als er einfach nur herausfand, dass Agnes lebte und dass sie wenigstens sprechen konnte. Er zog als erstes seine Jacke aus und legte sie über Agnes' zitterten, nackten Körper und er achtete darauf, dass alles bedeckt war, denn obwohl er Agnes nach ihren Verwandlungen schon einmal nackt gesehen hatte, so konnte man ihr trotzdem dabei helfen, ihre Würde zu bewahren.
„Agnes", sagte er lächelnd und strich ihr durch die zerzausten Haare, von Schweiß ganz nass, aber das interessierte ihn nicht, „Alles ist gut, ich bin hier."
„Ich bin ein Monster", wiederholte Agnes, „Ich habe ihn umgebracht."
Fred horchte auf. Jemanden umgebracht? Er suchte nach Anzeichen, dass Agnes tatsächlich jemanden umgebracht hatte – vielleicht Blut auf ihrer Haut oder sonst irgendetwas, aber da war nur ihr eigenes Blut von ihren eigenen Wunden.
„Nein, du hast niemanden umgebracht", versprach Fred unendlich sanft, „Da ist nichts – nur du bist verletzt."
„Ich habe es doch gesehen – ich habe mich erbrochen", hauchte Agnes leise.
Fred seufzte und strich ihre Haare zurück, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie hatte wohl geweint und sah zudem sehr müde aus und wenn Agnes solche Einbildungen hatte, dann musste es eine harte Nacht gewesen sein.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause, okay?", fragte Fred sie sanft, „Dann kannst du Baden und schlafen und essen."
„Ich bin ein Monster, ich verdiene das nicht", wisperte Agnes und eine Träne rann über ihre Wange.
„Du bist kein Monster", widersprach Fred ihr lachend, „Agnes, du hast die letzte Woche damit verbracht, ungefähr eine Tonne Kekse zu backen! Das klingt für mich nicht nach etwas, das ein Monster tun würde."
„Aber ich habe es doch gesehen", weinte Agnes und schluchzte auf, „Da ist Blut in meinem Erbrochenem – ich habe jemanden umgebracht und ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern!"
Nun klarte alles ein wenig auf und Fred sah sich im Raum um – es roch nach Erbrochenem, also hatte Agnes sich sicherlich übergeben, aber von dem Ort aus, dem Fred neben Agnes kniete, sah es nicht so aus, als wäre da Blut.
Nur die Übliche Kotze, die man nun einmal fand, wenn sich jemand übergab – Fred fand es wirklich seltsam, dass er Erbrochenes analysierte, aber was tat man nicht alles für die Liebe.
„Da ist kein Blut", versprach er also, „Es war nur ein Traum – ein schlimmer Traum."
„Aber ich habe es doch gesehen", bestand Agnes schluchzend.
„Ich mag dich trotzdem", grinste Fred, „Willst du mich jetzt nach Hause begleiten?"
Agnes wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel. „Du bist ein Idiot."
„Jepp", bestätigte Fred, „Das bin ich wohl. Komm her – ich trage dich."
„Nein – ich kann selbst gehen", verlangte Agnes, aber Fred hörte nicht auf sie und hob sie geschickt hoch – sie war so klein und dünn und leicht, dass er keine Schwierigkeiten damit hatte, obwohl er nicht unbedingt der stärkste Typ der Welt war.
„Ich übe am besten schon für unsere Hochzeit", grinste Fred und lachte, als er sah, dass Agnes rot wurde.
Er apparierte mit Agnes so nahe an die Wohnung heran, wie möglich – seit dem Einbruch von Agnolia hatten sie einen Apparierschutz aufgestellt – und öffnete die Wohnungstür mit seinem Ellenbogen, immer darauf bedacht, dass Agnes sich nirgendwo anschlug, während er sie trug.
„Zuerst ein Bad", schlug Fred vor, ohne Agnes abzusetzen, „Um den ganzen Dreck loszuwerden!"
„Du kannst mich jetzt absetzen – du hast die Schwelle hinter dir", erinnerte Agnes ihn.
„Nah, ich glaube, ich halte dich noch ein wenig", lehnte Fred grinsend ab, „Alle anschnallen – nächster Halt: Badezimmer!"
Agnes verdrehte amüsiert die Augen, als er sie quer durch die Wohnung trug und dabei tatsächlich Geräusche wie von einem Zug machte.
Erst im Badezimmer setzte er sie auf einen Stuhl dort und begann schon, ein Bad einzulassen mit duftenden Ölen und genau die richtige Temperatur, was nicht immer so einfach war, denn das Hitze-Gefühl von Werwölfen war anders als bei anderen Menschen.
Agnes blieb nicht sitzen, sondern holte sich aus einem Kasten ihre Zahnbürste und putzte sich mit einer Menge Zahnpasta die Zähne – Fred sah ihr dabei nicht zu und kommentierte es kein bisschen, sondern behandelte sie so, als würde sie noch immer auf dem Stuhl sitzen. Am besten, man beobachtete Agnes bei solchen banalen aber in ihren Augen doch irgendwie beschämenden Handlungen nicht. Jeder hatte sich schon einmal die Zähne putzen müssen, um den Geschmack von Erbrochenem loszuwerden – in Agnes' Augen war das trotzdem etwas Erbärmliches und Schreckliches.
„Als das Bad fertig eingelaufen war, legte Fred noch Handtücher zurecht.
„Brauchst du noch irgendetwas? Ich bringe dir noch Kleidung und einen Tee vorbei – willst du auch essen?"
„Nicht im Bad", bemerkte Agnes trocken und unbeeindruckt.
„Dann danach? Ich könnte uns etwas zaubern", grinste Fred, „Also... wortwörtlich – ich kann noch immer nicht ohne Zauberstab kochen, ich weiß nicht, wie du das schaffst."
Agnes durfte noch immer keinen Zauberstab tragen und backte und kochte noch immer manuell wie Leute, die eben nicht zaubern können.
Agnes lächelte leicht. „Ja... warum nicht. Irgendetwas wirklich –"
„Fettiges – richtig tropfend fettig mit viel Speck und Eier und Toast, aber hauptsächlich Speck!", rief Fred dazwischen, „Jepp! Mein Lieblingsfrühstück! Ich bin gleich mit Kleidung und Tee zurück!"
„Muss du nicht in die Arbeit?", fragte Agnes ruhig.
„Natürlich nicht – George übernimmt heute", versprach Fred lächelnd, „Ich habe mir den Tag für dich freigenommen."
„Der Laden gehört dir – du kannst dir jederzeit freinehmen", erinnerte Agnes ihn.
„Ruiniert jetzt nicht diese Geste und tu einfach so, als wäre es etwas ganz besonders", bat Fred sie schmollend und Agnes kicherte tatsächlich amüsiert – das war alles, das Fred erreichen wollte.
„Ich lass die Tür offen, okay? Und ruf einfach, wenn du etwas brauchst – etwas zum Trinken, Seife, Handtücher – vielleicht Gesellschaft?"
„Fred!", rief Agnes empört und wurde knallrot. Es war wirklich niedlich. Sie warf ihm eine Seife hinterher und Fred verließ lachend das Bad.
Nachdem er einen Tee genau so vorbereitet hatte, wie Agnes es mochte und ein besonders hübsches Sommerkleid herausgesucht hatte, das Agnes gerne trug, wenn sie das Haus nicht verließ – nachdem sie sich noch immer irgendwie für ihre Narben schämte und obwohl sie sie nicht mehr aktiv versteckte, so trug sie doch lieber längere Kleidung – und von dem Fred das Gefühl hatte, dass Agnes sich wohl fühlte, ging er vorsichtig zurück ins Bad.
„Ich habe die Augen geschlossen!", rief er mit dem Tablett mit einem wirklich heißen Tee in den Händen, „Du musst mich führen!"
„Du bist ein Idiot – du hast mich gerade davor schon nackt gesehen", erinnerte Agnes ihn.
„Oh, ich kann meine Augen natürlich auch öööööööffneeeen –"
„Nein!", rief Agnes schnell und Fred wusste, dass sie wieder ganz rot war, „Ich sage dir, wohin du gehen musst. Also... zwei Schritte nach vorne – WAS MACHST DU DA?"
„Zwei Schritte nach vorne?", fragte Fred unsicher – es war seltsam so ganz blind zu sein.
„Deine Schritte sind riesig! Mach kleinere", verlangte Agnes und Fred gehorchte und machte einen weiteren, kleinen Schritt nach vorne.
„Und jetzt nach links drehen – das andere links! Da ist der Stuhl, darauf kannst du es abstellen", wies Agnes ihn an und Fred tastete danach und ertastete den Rand der Badewanne und den Stuhl daneben.
Vorsichtig stellte er das Tablett ab und richtete sich erleichtert, dass er zumindest seine heiße Ware losgeworden war wieder auf.
„Und jetzt wieder zurück", bestimmte Fred und drehte sich um 180 Grad um, „Also – zwei Schritte?"
„Ja, aber warte, du –"
Fred wartete natürlich nicht und stieß gegen den Türrahmen.
„Alles gut?", fragte Agnes mit einer Mischung aus Müdigkeit und Belustigung in der Stimme.
„Alles gut – nur eine Beule!", sagte Fred heiter, ging etwas zur Seite und schaffte es dieses Mal sogar durchdie Tür – Agnes war wirklich stolz auf ihn.
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