1.11
Niemals hatte Agnes mit so vielen Kunden schon am ersten Tag gerechnet.
Die Planung für den zweiten Tag fiel ihr also nicht leicht. Sie wusste nicht genau, was einfach nur Erster-Tag-Kunden gewesen waren und welche oder wie viele von ihnen zurückkommen würden. Sie wusste nicht, wie viel Brot, Kuchen oder Gebäcke sie brauchen würde, aber klar war, dass es mehr als gestern in der Früh sein musste.
Mit Tinky bereitete Agnes also in der Früh alles für den Tag vor, hatte aber trotzdem das Gefühl, das es nicht reichen würde.
Besonders ihre Mitarbeiter würden nicht reichen, denn offiziell waren es noch immer nur sie und Tinky, die den Laden führten und bedienten. Gestern war Fred eingesprungen, ansonsten hätten sie den Sitz-Bereich wohl zusperren müssen.
Aber Agnes wusste, dass Fred auch noch andere Pflichten hatte und das keine dauerhafte Lösung war. Sie würde noch jemanden einstellen müssen, aber bisher hatte sie noch nicht die Chance gehabt, eine Anzeige loszuschicken.
Hilfe erschien um fünf Uhr in der Früh.
Aus irgendwelchen Gründen waren ein paar Leute schon vor der offiziellen Öffnungszeit von halb sieben unterwegs und einige von ihnen sahen wohl die Lichter in der Bäckerei. In der Erwartung, dass sie schon geöffnet hatte, klopften sie an der geschlossenen Glastür oder den Schaufenstern und Agnes schickte sie alle wieder weg. Später würden noch genügend Kunden kommen, sie nutzte die Zeit lieber für die Vorbereitungen für dann.
Aber als Molly Weasley an der Tür klopfte, wollte Agnes sie nicht wegschicken. Die Mutter ihres Verlobten, die sie aufgenommen hatte, als sie sonst niemanden gehabt hatte und die Familie geworden war, wie auch die anderen Weasleys, würde Agnes niemals wegschicken, auch wenn sie noch eineinhalb Stunden bis zur Öffnung hatte.
Sie ging also zur Tür und öffnete sie.
„Morgen, Molly", begrüßte Agnes sie, „Schon so früh unterwegs? Ich hoffe, du willst kein Frühstück holen, die Brötchen sind noch nicht einmal aus dem Ofen raus."
„Ich habe gehört, dass gestern eine Menge los gewesen ist", sagte Molly, „Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Hilfe brauchst."
Agnes stockte.
„Fred hat erzählt, dass du gestern keine Zeit für eine Pause gehabt hast – das ist in deinem Alter doch nicht gesund!", redete Molly weiter auf sie ein, „Sag mir nur, was ich tun muss."
„Ich... ich...", stammelte Agnes – etwas, das nicht häufig vorkommt, „Danke, Molly."
„Ach, bitte, Kind", Molly zog Agnes in eine Umarmung und drückte sie fest an sich, „Ich mach das doch gerne."
Agnes war so gerührt, sie hätte wahrscheinlich zu weinen beginnen können. Aber gleichzeitig hatte sie keine Zeit dafür, also wies sie Molly an, sobald sie sie losgelassen hatte: „Du kannst uns zuerst in der Küche helfen, wir bereiten gerade alles vor."
Zu dritt waren sie gleich viel schneller und während sie Kuchen dekorierten, Brote backten und alles in der Theke einordneten, erklärte Agnes Molly im Schnelldurchlauf alles, was sie wissen musste.
Zu dritt waren sie dann schon viel besser auf den Ansturm vorbereitet, der dann folgte.
Trotzdem kamen sie aber irgendwann an ihre Grenzen. Wenigstens blieb die Bäckerei dieses Mal aber bis zum Schluss offen und als Molly und Tinky müde nach Hause gingen, blieb Agnes noch länger und bereitete die Kuchen und Brote für den nächsten Tag vor. Es war ihr wichtig, dass sie das alles persönlich machte – immerhin war sie die Marke.
Danach setzte sie sich an einen der Tische ihrer Café-Ecke und formulierte eine Stellenanzeige für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Als Fred kam, war es schon beinahe zehn Uhr nachts, aber ihr war gar nicht aufgefallen, wie spät es geworden war, zu vertieft in ihrer Arbeit.
„Hey, Agnes", begrüßte Fred sie sanft, „Was machst du noch hier?"
Agnes blickte auf und bemerkte, dass ihre Augen ganz trocken waren. Verwirrt rieb sie sie und blickte auf ihre Armbanduhr.
„Schon so spät – ich wollte heute kochen", fluchte Agnes, „Tut mir leid, Fred! Ich hab vollkommen die Zeit übersehen!"
„Wir gehen einfach essen – Tia und George sind auch ausgegangen", schlug Fred vor, „Aber zuerst lösen wir das Problem."
„Welches Problem?"
„Das, das dich dazu gebracht hat, noch immer hier zu sein", grinste Fred und setzte sich neben sie.
„Ich schreibe eine Stellenausschreibung und weiß nicht, wie ich es richtig formulieren soll", gestand Agnes.
„Du willst also keine Idioten haben?", erriet Fred grinsend.
Agnes grinste zurück. „Du kennst mich zu gut. Außerdem frage ich mich, ob ich dazuschreiben soll, dass ich ein Werwolf bin. Rassisten brauche ich auch keine."
„Ich würde das alles nicht erwähnen und sie bei einem persönlichen Gespräch aussortieren", schlug Fred vor, „Verbal kann man so etwas immer viel besser erklären – und der Tagesprophet verlangt zehn Knut pro Wort, also fass dich lieber kurz!"
„Ich habe Kindheitstrauma und tiefsitzende Komplexe", schnaubte Agnes, „Meine Menschenkenntnisse sind schrecklich!"
„Du hast vielleicht Trauma und Komplexe", stimmte Fred ihr nickend zu, „und Probleme – ganz viele Probleme. Und irgendwelche Störungen. Und Phobien. Und –"
„Es reicht wieder, Fred."
„Natürlich! Ich wollte eigentlich sagen, dass deine Menschenkenntnisse überhaupt nicht schrecklich sind! Schau dir deine Freunde an – wer von ihnen hat sich als mordender Psychopath herausgestellt?"
Agnes runzelte die Stirn. „Soweit ich weiß keiner, aber –"
„Ganz genau!", nickte Fred stolz.
„Vielleicht bin auch nur ich der mordende Psychopath. So, wie jeder einen schwulen Cousin hat, außer man ist selbst der schwule Cousin."
„Es haben also alle schreckliche Menschenkenntnisse, außer du!", folgerte Fred, „Gut, das wir das geklärt haben."
Agnes seufzte müde. „Ich hoffe, es kommen keine Idioten vorbei. Ich werde diese Anzeige gleich morgen an den Tagespropheten schicken. Vielleicht meldet sich ja jemand... und bis dahin hat Molly sich bereiterklärt, bei mir zu helfen."
„Ich glaube, Mum freut sich, dir helfen zu können", überlegte Fred, „Alle sind ausgezogen, Ginny geht dann wieder nach Hogwarts, Dad ist bei der Arbeit... Ich glaube, irgendwann wäre sie sonst wahnsinnig geworden."
„Ganz eindeutig", stimmte Agnes ihm zu und stand auf, streckte sich sodass ihre Knochen knackten und rieb sich noch einmal die müden Augen, „Ich hab Hunger."
„Dann suchen wir essen!", beschloss Fred und stand schwungvoll auf, „Auf, auf!"
Viel zu enthusiastisch rannte er hinaus. Agnes folgte ihn amüsiert schmunzelnd und schloss hinter sich ab.
Fred wartete draußen auf sie und nahm ihre Hand. Sie gingen zusammen essen.
Agnes fand es schön – es war wirklich friedlich.
Ab dem fünften Tag reduzierte sich der Ansturm der Kunden. Es kamen noch immer viele Leute und es gab noch immer viel Arbeit, aber Agnes und Tinky schafften es ab da auch zu zweit und Molly konnte die letzten paar Ferientage noch mit Ginny verbringen, bevor diese nach Hogwarts zurückkehren würde.
Am neunten Tag nach der Öffnung betrat Ganan Kumari die Vollmond-Bäckerei.
Es war gerade nicht viel los. Ein paar Leute saßen im Café-Eck und Agnes bediente gerade den einzigen anderen Kunden neben Ganan.
Ganan sah sich neugierig um, beinahe etwas unsicher, aber als Agnes den Kunden verabschiedete und ihn fragte, was sie ihm geben konnte, hob er unsicher einen Zeitungsartikel hoch.
„Ich habe gelesen, dass Sie jemanden suchen", sagte Ganan und zeigte Agnes die Stellenanzeige, die sie schon vor einigen Tagen im Tagespropheten veröffentlicht hatte. Er hatte einen ausländischen Akzent – indisch, wie Agnes erkannte, aber das störte sie nicht. Er sprach sehr gut Englisch.
„Ah, bist du interessiert?", fragte sie ihn. Innerlich war Agnes absolut begeistert davon, dass sich überhaupt jemand gemeldet hatte. Bisher war das noch nicht passiert und Agnes hatte schon beinahe aufgegeben, dass jemand hier arbeiten würde. Innerlich hatte sie sich selbst die schuld daran gegeben – wer arbeitete schon gerne mit einem Werwolf zusammen?
Aber nun stand da Ganan und nickte.
„Mein Name ist Ganan Kumari. Ich wollte meinen Lebenslauf schicken, aber dann habe ich mir gedacht, dass ich zuerst einmal vorbeigehen könnte und nachfragen. Ist zufällig der... Manager hier?"
„Die Besitzerin steht direkt vor ihnen", stellte Agnes sich vor, „Ich bin Agnes."
„Oh", Ganan hatte den Anstand, nur einen Moment lang überrascht auszusehen, „Nun – perfekt! Ich hoffe, der erste Eindruck war gut genug für ein Vorstellungsgespräch?"
„Haben Sie gerade Zeit?", schlug Agnes vor, „Es ist gerade nicht viel los."
Ganan blinzelte überrascht, nickte aber.
Agnes rief Tinky zu sich nach vorne und Ganan wirkte wieder einen Moment überrascht, eine Hauselfe zu sehen, sprach es aber nicht an.
Agnes machte zwei Tassen Tee und brachte das Tablet an einen der Tische in der Café-Ecke. Ganan folgte ihr und die setzten sich.
„Also... ich habe das noch nie gemacht", gestand Agnes, „Ihr Name ist Ganan Kumari, richtig?"
„Ganan reicht vollkommen", stellte er sich noch einmal vor, „Ich bin aus Indien – dort geboren und aufgewachsen. Vor ungefähr einem Jahr bin ich los und... seitdem reise ich eigentlich von Land zu Land."
„Oh, beeindruckend", staunte Agnes höflich, „Und jetzt bist du in England?"
Ganan nickte. „Ich habe vor, hier ein wenig länger zu bleiben. Ich habe einige Freunde hier, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe und ich mag London. Aber dafür brauche ich auch einen Job, also..."
„Hast du schon einmal gekellnert?", fragte Agnes.
„Andauernd – meistens nur in Muggel-Restaurants, weil ich Geld für Zug und Bus gebraucht habe", bestätigte Ganan, „In einer Küche habe ich auch schon einmal ausgeholfen, aber nur als Tellerwäscher. Meine maan hat mir kochen beigebracht, aber zugegeben, gebacken habe ich noch nie."
„Das meiste bereite ich vor und bisher bin ich jeden Tag hier – ich brauche eher jemanden für die Theke und als Kellner für den Café-Bereich hier", gestand Agnes, „Kannst du in der Früh aufstehen? Du müsstest manchmal schon ab fünf hier sein, da bereiten wir alles vor."
„Ich kann aufstehen, wenn ich muss."
„Bist du Rassist?"
Ganan blinzelte überrascht. „Ich bin Inder."
„Ändert nichts an meiner Frage", schnaubte Agnes.
Ganan runzelte die Stirn. „Nein?"
„Wirklich nicht?", harkte Agnes nach, „Ich bin nämlich ein Werwolf."
Ganan sah Agnes überrascht an, als würde er sich fragen, ob das ein Witz war, aber dann reimte er sich wohl zusammen, woher die Narben in Agnes' Gesicht kamen. „Oh", machte er, „Also... ich muss zugeben, ich bin noch nie einem Werwolf begegnet..."
„Jetzt schon", bemerkte Agnes trocken, „Wird das ein Problem sein?"
„Nein", beschloss Ganan, „Mir fällt eigentlich keine Situation ein, in der das ein Problem wäre..."
Agnes musterte ihn noch einen Moment länger misstrauisch, bevor sie zufrieden nickte.
„Sehr gut. Wann kannst du anfangen?"
Ganan schien wieder überrascht, als hätte er nicht erwartet, dass das ihre Antwort wäre. „So bald wie möglich?"
„Es ist gerade wenig los", schlug Agnes vor, „Ich kann dir alles zeigen – dann kannst du morgen schon anfangen."
„Wirklich? Einfach so?", fragte Ganan überrascht.
Agnes runzelte die Stirn. „Spricht etwas dagegen?"
„Hoffentlich nicht", lachte Ganan, „aber die meisten nehmen sich gerne ein paar Tage Zeit, bevor sie zusagen."
„Ich habe nicht wirklich Zeit. Seit wir geöffnet haben, ist hier jeden Tag die Hölle los, ich habe nicht wirklich Zeit, mir irgendetwas zu überlegen. Wenn du inkompetent bist, kündige ich dir wieder."
„Sehr konsequent und direkt", bemerkte Ganan, „Ich glaube, damit kann ich arbeiten."
„Dann darf ich dir als erstes Tinky vorstellen!" Agnes führte Ganan hinter die Theke – Tinky legte gerade ein paar Brötchen in einen Korb. „Tinky, das hier ist Ganan."
Tinky verbeugte sich vor ihm. „Tinky freut sich, Ganan kennen zu lernen!"
„Er wird vielleicht mit uns hier arbeiten", erzählte Agnes, „Ganan, das ist Tinky. Sie mag vielleicht eine Hauselfe sein, aber sie ist eine genauso wichtige Mitarbeiterin in dieser Bäckerei wie du – eigentlich sogar noch bedeutender. Wenn du also Probleme damit hast, Anweisungen von einer Hauselfe anzunehmen, muss ich dich leider bitten, wieder zu gehen."
„Ich denke, daran kann ich mich gewöhnen", beruhigte Ganan sich.
Agnes lächelte leicht. „Ganz schnell – wir haben hier nicht wirklich Zeit. Dann also weiter mit unserer Führung! Es arbeitet derzeit noch jemand mit uns – Molly Weasley, meine Schwiegermutter. Sie ist heute nicht hier, aber wahrscheinlich wird sie regelmäßig hier arbeiten – das haben wir noch nicht ausgehandelt. Tinky und ich sind jeden Tag hier."
Agnes führte Ganan herum und zeigte ihm, wie alles funktionierte.
Zu ihrer Erleichterung schnappte er ziemlich schnell alles auf und verstand alles sofort, also musste Agnes sich nicht wiederholen.
Später kamen wieder mehr Kunden und mit einer umgebundenen Schürze konnte Ganan schon einmal seine Fähigkeiten als Kellner unter Beweis stellen.
Sie schlossen pünktlich und bevor Ganan ging, blieb er noch etwas zurück.
„Also... bin ich jetzt eingestellt?", fragte er.
„Klar – wenn du das noch immer willst", versicherte Agnes ihm, „Es ist etwas chaotisch hier und vielleicht nicht so, wie du es woanders gewohnt bist, aber wenn du damit zurechtkommst –"
„Es ist ziemlich perfekt für mich", versicherte Ganan ihr eilig, „Ich würde mich geehrt fühlen, hier arbeiten zu dürfen."
Agnes lächelte zufrieden. „Ausgezeichnet! Besprechen wir gleich morgen deinen Lohn und wie viele Stunden oder Tage du arbeiten willst. Kannst du morgen um ungefähr elf kommen?"
„Sicher", grinste Ganan, „Und... danke!"
„Keine Ursache", winkte Agnes ab, „Du arbeitest für mich – du hast heute schon gesehen, dass uns Mitarbeiter fehlen."
„Dann noch einen schönen Abend", verabschiedete sich Ganan und ging.
Agnes sah ihm hinterher und lächelte leicht. Er war ihr sympathisch. Sie hoffte, dass Fred mit seinen Worten nicht gelogen hatte und sie wirklich eine gute Menschenkenntnis hatte, denn sie wusste nicht gerade viel über Ganan, aber er hatte einfach irgendetwas, das Agnes sofort gewusst hatte, dass sie ihn als einen Mitarbeiter akzeptieren würde.
Und das bedeutete bei Agnes so einiges.
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