chapter 8 - one night in bangkok, pt. II
»This is how it ends
I feel the chemicals burn in my bloodstream
Fading out again
I feel the chemicals burn in my bloodstream
So tell me when it kicks in«
𝙗𝙡𝙤𝙤𝙙𝙨𝙩𝙧𝙚𝙖𝙢 𝘣𝘺 𝙚𝙙 𝙨𝙝𝙚𝙚𝙧𝙖𝙣
VON DIESEM MOMENT an registrierte Juniper nicht mehr wirklich, was um sie herum geschah. Es war ihr auch irgendwie egal, obwohl diese Gleichgültigkeit auch gerne von einem Gefühl der Übelkeit gereizt wurde, das sich jedoch ein Glück immer durch ein Schließen ihrer Augen bekämpfen ließ. Sie lag inzwischen irgendwie und irgendwo auf Jimin, soviel hatte sie mitbekommen. Und er hielt sie fest, so dass sie nicht einfach wegstürzte. Oder etwa in eine fremde Galaxie entschwebte, die sich ihr auftat. Einmal bekam sie mit, wie er sich irgendwie an seinem Gesicht zu schaffen machte, was den schwachen Verdacht in ihr aufkeimen ließ, dass er nun auch zu einem Konsum gezwungen worden war. Doch sie brachte es nicht weit mit ihren Gedanken dazu. Sie zerflossen viel zu schnell zu Brei und verloren sich im Nichts. Ab und zu meinte sie, ihren Körper nun vollständig zu verlassen. Als beobachtete sie sich plötzlich dabei, wie Jimin sie wie eine Puppe durch den Laden trug. Wie er versuchte, ihr ein bisschen Wasser anzudrehen. Ihre Hände griffen fünfmal daneben, ehe sich ihre Finger neben seinen um die Flasche schlossen und sie zusammen mit ihm zu ihrem Mund führten. Der Geschmack des Ketamins wurde ihr wieder bewusst, als sie ein paar Schlucke ihre Kehle hinabkämpfte. Jimin achtete dabei viel zu akribisch darauf, dass sie sich nicht verschlucken konnte. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, wie verdammt taub ihre Lippen und ihre ganze Mundhöhle eigentlich waren. Und wieder sank ihr Kopf auf irgendwas nieder, was sich verdächtig gemütlich nach Jimins Schoß anfühlte.
Sie wusste nicht, wieviel Zeit sie nach dieser Realisation noch in ihrem kräftezehrenden Delirium verbrachte. Irgendwann jedenfalls spürte sie, wie die Wirkung abflaute und durch ein dumpfes Müdigkeitsgefühl ersetzt wurde. Nur langsam schaffte sie es, ihre Umgebung wieder richtig wahrzunehmen und ihre Koordination wiederzufinden. Festzustellen, wo oben und wo unten war. Was ihr allerdings sehr schnell bewusstwurde, war die Tatsache, dass sie sich tatsächlich nicht mehr im hinteren Bereich der Bar befand. Dafür war die Musik zu laut und zu viel Bewegung herrschte um sie herum. Menschen, die tanzten und ausgelassen lachten, kreuzten ihr nach wie vor leicht verschwommenes Blickfeld.
»Oh, Himmel sei Dank, du bist wach«, drang eine ihr wohlbekannte, glockenhelle Stimme an ihr Ohr und ihre Liegefläche begann sich unnatürlich zu bewegen.
Juniper richtete sich langsam auf, wobei Jimin sie eisern stützte, bis sie ihm schließlich ins Gesicht blicken konnte. Seine Augen waren vor Sorge geweitet...genau wie seine Pupillen.
»Was hat er dir gegeben?«, nuschelte sie und ließ sich dabei völlig fertig in die Lederlehne der Couch fallen, auf der sie beide saßen.
Jimin winkte mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck ab. »Nur ein bisschen Speed. Der Idiot hatte wohl ein bisschen Schiss, nachdem er gesehen hat, was sein scheiß Fentanyl mit Hoseok ange–«
»Hoseok!«
Juniper saß sofort kerzengerade, was ihr Kreislauf ihr nicht gerade dankte. Doch die Erwähnung des Namens hatte sofort alle Sicherungen bei ihr durchbrennen lassen. Der Dealer hatte immerhin den verdammten Trip auf sich genommen, um sie davor zu bewahren! Gegen einen waschechten Fentanyl-Trip war ihr K-Hole wahrscheinlich geradezu entspannt, ja, lächerlich gewesen.
»Ihm geht's den Umständen entsprechend gut«, erwiderte Jimin und senkte dabei den Blick ein wenig. »Aber ich muss sagen...nicht einmal ich hätte gedacht, dass ihn das Zeug so wegschießen würde. Er war immer das eiserne Beispiel für jemanden, der nehmen konnte, was er wollte und der Droge gezeigt hat, wer der Boss ist, weißt du? Er wurde nie von irgendwas abhängig...nicht einmal von Zigaretten! Und schon gar nicht hat er sich je in unserer Gegenwart bis zur Besinnungslosigkeit zugedröhnt. Das gerade mitanzusehen...war echt hart. Scheiß Dreckszeug, ey.«
»Er hat das nur wegen mir nehmen müssen«, murmelte Juniper, gerade so laut, dass Jimin es noch durch die Musik verstehen konnte. Doch dieser schnaubte nur und schüttelte den Kopf.
»Wenn er es nicht getan hätte, hätte es Yoongi getan. Er mag vielleicht bisher nicht den Eindruck auf dich gemacht haben, aber er lässt seine Leute nicht leiden, nur weil er sein persönliches Ziel erreichen will.«
»Ich bin aber keiner seiner Leute.«
»Und wie du das bist. Vielleicht nicht aus freien Stücken, aber du bist unleugbar ein Teil des Sihyuk-pa's und damit ein Teil seiner Familie. Also im weitesten, unverwandten Sinne, versteht sich.«
Juniper kaute unruhig auf ihrer Zunge herum, ehe sie sich nach einer kleinen Bedenkpause wieder Jimin zuwandte. »Wieso...waren alle so dagegen, dass er was nimmt? Taehyung und Hoseok, meine ich.«
Der Kkangpae fuhr sich nervös durch die roten Haare und starrte sich an einem Punkt auf dem von lila Neonlichtern beschienen Fliesenboden fest. »Nun...Sag bitte niemandem, dass ich es dir erzählt habe, aber...dieser Wonho. Er ist eine alte Bekanntschaft von Yoongi, aus einer...sehr dunklen Zeit in seinem Leben. Die beiden waren...sowas wie Freunde, soweit Tae es mir vorhin erklärt hat. Und Wonho hat ihn damals...ziemlich in ein Loch gezogen, wenn du verstehst, was ich meine. Yoongi war jahrelang kokainabhängig. Taehyung hat mir das schon vor ein paar Monaten mal unter vier Augen gesteckt. Er hat einen Teil dieser Phase sogar mitbekommen. Genau deswegen schiebt er auch so einen Hass auf Wonho...und auf die Tatsache, dass er Yoongi nach seiner jahrelangen Abstinenz wieder was ziehen lassen hat.«
Ganz langsam machte sich eine eisige Kälte in Junipers Magen breit und sie spürte, wie dieses Wissen ihr Bild von Shadow auf eine seltsame Weise verzerrte. Jimin hatte ihr soeben mehr offenbart, als er vielleicht vermutete. Einen Riss im unzerstörbaren Panzer, den der Clanleader bisher für sie verkörpert hatte. Vielmehr machte ihn diese Tatsache...diese Schwäche...so viel menschlicher.
Sucht war für Juniper kein Fremdwort...wenn auch vielleicht nicht in dem brutalen Sinne, den meist eine Kokainsucht beschrieb. Auch von MDMA hatte sie schon Entzugserscheinungen bekommen. Wenn ihr Körper von dem Zeug runtergekommen war, hatte nicht selten der panische Wunsch nach dem nächsten Trip ihre Gedanken beherrscht. Geradezu wahnsinnig hatte sie sich herumgefragt, um noch mehr Stoff zu kaufen, der ihr den Spaß für das nächste Wochenende sichern würde...oder für die Afterparty. Oder manchmal sogar für einfache Zusammenkünfte mit ihren »Freunden« unter der Woche. Das war vor dem Dealen gewesen. Vor dem Abend, an dem ihr Vater sie im Club erwischt hatte. Genauso wie ihre Sucht nach Marihuana. Diese war nicht so penetrant und auswirkungsvoll gewesen, aber dennoch sehr lange sehr präsent. Man traute es dem als harmlos verschrienen Grünzeug kaum zu, aber in Sachen psychischer Sucht wurde es viel zu oft unterschätzt. Der Körper entwickelte nicht wirklich Entzugserscheinungen...der Kopf aber machte einen verrückt, bis man in völliger Blindheit wieder zum Joint griff und sich in der entspannten Belanglosigkeit des Herumhängens verlor. Juniper war froh, dass sie sich davon, sowie vom MDMA, Pep und allen anderen Partydrogen, soweit hatte lösen können, dass sie diese inzwischen nach einem ab und an mal alle paar Monate Nehmen nicht mehr vermisste. Auch wenn sie sich an diesem Abend schwor, ab sofort einen großen Bogen um Ketamin zu machen.
»Wo sind die anderen hin?«, fragte Juniper schließlich, um sich vor ihren eigenen abdriftenden Gedanken zu retten.
»Taehyung ist da vorne in einem ruhigeren Bereich mit Hoseok und passt auf ihn auf. Yoongi wird von Wonho an der Bar beschlagnahmt, weil er ihn jetzt wohl noch obendrauf mit allen Mitteln abfüllen will. Und Jeongguk...« Jimin verstummte und Juniper sah, wie er seine Hände unwillkürlich zu Fäusten ballte. »Ja...keine Ahnung, was sie mit ihm da hinten machen. Ich hoffe nur...«
Er brachte den Satz schlussendlich nicht zu Ende. Wirkte viel mehr ertappt und peinlich berührt von den Worten, die seinen Lippen soeben entwischt waren. Juniper hätte alles darauf verwettet, dass gerade ein leichter Rosaschleier auf seinen Wangen lag. Wäre da nicht dieses verdammte Neonlicht, das ohnehin allem Sichtbaren ein unnatürliches Glühen verlieh.
»Dir...liegt etwas mehr an ihm, als nur Freundschaft...oder?«
Sie hatte es kaum gewagt, den Satz auszusprechen, doch irgendwie erschien es ihr gerade mehr als angebracht. Jimin und sie saßen hier, zum ersten Mal seit langem alleine, am Rande der Tanzfläche auf dieser Couch. Und irgendwie fühlte es sich gerade wirklich so an, als wäre dies ein entscheidender Schritt in ihrer Beziehung zueinander. Er hatte sie gehalten und auf sie aufgepasst während ihres unfreiwilligen Trips. Irgendwie...fing sie so langsam tatsächlich an, so etwas wie eine tiefe freundschaftliche Zuneigung für den Rothaarigen zu empfinden. Für die Art, wie er die größte – und zugleich anmutigste – Kratzbürste dieser Welt sein konnte und doch ein Herz aus Gold besaß. Eines, das nicht davor Halt machte, sich um eine unfreiwillig aus Amerika angelachte Göre zu sorgen, die ihm und seiner Gang eigentlich nur Probleme machte.
»Ich...nun...das ist schwer zu erklären«, druckste Jimin herum, wirkte dabei jedoch nicht so, als ob er es gar nicht erst versuchen wollte. Kein Wunder...Pep drückte gerne Mal auf den Redebedarf-Knopf. Man entwickelte so ein unglaubliches Mitteilungsbedürfnis, dass es manchmal schon echt ungesund war. Nicht unbegründet waren MDMA- und Pep-Konsumenten für ihre sogenannten »Laber-Flashs« verschrien.
»Du stehst auf ihn«, kam Juniper nun direkt auf den Punkt, gefüttert durch die Gewissheit, dass er eigentlich sehr wohl darüber reden wollte. »Ist doch ganz einfach, oder?«
»So ein Schwachsinn!«
»Ach komm.«
»Nein, das ist es ganz sicher nicht!«
»Jimin.«
»Ich...ähm...« Er stöhnte und klatschte sich die Hand aufs Gesicht. »Ach fick dich doch.«
Juniper konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »War das ein Ja?«
»Nun...eventuell...?«
»Jetzt hör doch auf. Ich bin seit wenigen Tagen bei euch und selbst ich habe gemerkt, wie du ihn ansiehst. Es ist viel zu offensichtlich. Ein Wunder, dass er es scheinbar selbst noch nicht gecheckt hat.«
»Wem sagst du das...«, seufzte Jimin resigniert und warf ihr dabei einen unsicheren Blick von der Seite zu. »Du bist aber hoffentlich niemand von denen, die denken...das wäre irgendwie...unnatürlich, oder so...oder?«
Juniper hatte ihn noch nie mit so viel Unsicherheit in der Stimme sprechen hören. Unweigerlich kam ihr in den Sinn, wie Key, Tao und Hendery ihn als Youngbaes »Hure« bezeichnet und auf ihn herabgesehen hatten, als wäre er ein »widerlicher schwuler Prostituierter«. Und sie erinnerte sich zudem daran, was für einen Stellenwert die LGBTQ-Gemeinschaft in Korea im Vergleich zu New York besaß. Es war also nicht verwunderlich, dass Jimin sich gerade ernsthaft darüber Sorgen machte, seine Sexualität könnte sie anekeln. Auch wenn es für sie...fast schon irgendwie absurd war. Ihr Vater hatte sie, auch wenn es nicht selbstverständlich war, tolerant erzogen und sie hatte das große Glück gehabt, auch immer von sehr offenen Menschen in ihrem Leben umgeben gewesen zu sein. Wenn diese auch in anderen Bereichen...definitiv Verbesserungsbedarf vorzuweisen gehabt hatten.
»Das Einzige, was ich daran bedenklich finde, ist, dass du von allen Kerlen, die du haben könntest, dir ausgerechnet dieses aufmüpfige Kind herausgepickt hast«, erwiderte Juniper trocken, was sogar ein kleines Lächeln auf Jimins Gesicht erscheinen ließ.
»Oh June...«, seufzte er nach einigen Sekunden und stützte die Ellenbogen auf seinen Knien ab. »Ich mach mir...echt Sorgen. Und ich hasse es, dass dieser Mistkerl hier seine Spielchen treibt, du und Hoseok so verdammte Trips ertragen musstet und Jeongguk jetzt die ganze Nacht in einem Hinterzimmer verrottet. Ich würde ihn so gerne da rausholen...aber ich kann nur hier sitzen und hoffen, dass diese scheiß Nacht endlich vorbei ist.«
Juniper beobachtete missmutig, wie Jimin seinen Kopf in seine Hände legte und geradeaus ins Leere starrte. Wie gerne hätte sie ihm in diesem Moment irgendwie gut zugeredet...aber sie fühlte sich einfach nicht fähig dazu. Die Müdigkeit, die das Ketamin und die wahrscheinlich schon fortgeschrittene Nacht in ihr hervorriefen, lähmten allmählich ihre Gedanken. Wenn sie sich nicht bald etwas bewegen würde, könnte sie Gefahr laufen, erneut auf Jimins Schoß wegzudösen. Und das wollte sie ihm um Himmels Willen nicht nochmal antun!
»Ich...hol uns was zu trinken...okay?«, brachte sie mühsam hervor und hoffte, damit wenigstens irgendwelche positiven Gedanken bei dem Kkangpae zu wecken. Er hob verwirrt den Blick und nickte schließlich langsam.
»Wenn...wenn du magst? Und es dir gut genug geht? Wonho meinte, wir bekommen alles umsonst...« Er schnaubte verächtlich. »Einfach zu gütig von ihm, oder?«
„Der Wahnsinn", brummte Juniper, ehe sie sich vorsichtig von ihrem Platz erhob. Zu ihrer Erleichterung war ihr Kreislauf schon nach wenigen Sekunden des Schwindels wieder vollständig hergestellt. Ein Glück löste Keta nur relativ kurze Trips aus...ihr Gehirn wäre wirklich zu Brei zerflossen, hätte sie sich diesen Zustand noch länger antun müssen.
Es fühlte sich dennoch fast schon vergleichbar mit einem High an, als sie ihren Weg vorbei an den Go-Go-Tänzerinnen und sich amüsierenden Gästen zur bunt ausgeleuchteten Bar bestritt. Eigentlich war sie die letzten Tage mehrmals fast gestorben...nun holte sie für einen mehrfachen Mörder und sich Bier in einer der bekanntesten Rotlicht-Schuppen in Bangkok.
Erst, als sie direkt an der Theke stand, hallten Juniper Jimins Worte wieder durch den Kopf und sie erinnerte sich daran, wer sich eigentlich seiner Aussage nach hier aufhalten sollte. Oder hatte er vielleicht eine andere Bar gemeint? Dieser Laden war so verdammt verschachtelt und unübersichtlich...
Mit dem Gedanken, auf Wonho und Shadow stoßen zu können, fühlte sie sich jedenfalls augenblicklich eine ganze Spur unbequemer. Zwar verhinderte die betäubende und angstlösende Wirkung der Droge nach wie vor, dass sie völlig in Panik geriet, doch sie war nüchtern und beisammen genug, um zu wissen, auf wessen Gesellschaft sie gerade getrost verzichten konnte...allerdings offenbarte ihr banger Blick nach links ein Bild, das ihre Hoffnungen sehr schnell zunichte machte.
Shadow saß auf einem der Barhocker und schien gerade mit einer unwirschen Handbewegung eine nun ziemlich beleidigte Go-Go-Tänzerin abgewimmelt zu haben. Kaum war sie abgezischt, umschloss er wieder mit seinen tätowierten Fingern den Drink, den er vor sich stehen hatte. Einen Whiskey, wenn Juniper sich nicht irrte. Er hatte sein Jackett inzwischen abgelegt, so dass das Neonlicht sich geradezu gespenstisch auf seinem halbdurchsichtigen Hemd abzeichnete. Leicht eingesunken saß er da und starrte seinen Drink nieder, als wäre er mit den Gedanken gerade irgendwo am anderen Ende der Welt. Die Szenerie hatte etwas genauso Malerisches an sich, wie die, als er am Fenster geraucht hatte...wenn auch viel düsterer und melancholischer.
Es geschah im Bruchteil einer Sekunde, dass er zu ihr herübersah und sich ihre Augen trafen. Drei freie Barhocker befanden sich zwischen ihnen, doch sie waren nicht genug, um zu verhindern, dass Juniper wie so oft ein Schauer über den Rücken lief.
Für einen kurzen Moment verharrten sie beide in ihrer Starre. Rührten sich nicht einen Zentimeter. Es war dann schließlich Shadow, der den Blick wieder abwandte und erneut seinem Alkohol die volle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Juniper konnte nicht leugnen, dass vielleicht ein Hauch von Missmut sie streifte. Irgendwas...ja, irgendwas wollte sie das nicht akzeptieren lassen. Warum hatte er versucht, sie vor einem Fentanyl-Trip zu bewahren, wenn dafür jetzt eines seiner langjährigen und engsten Mitglieder hatte leiden müssen? Warum tat er das und brachte ihr dennoch in jeder noch so kleinen Konversation nur Abneigung entgegen? Einmal Fentanyl hätte sie – in ihrer beschönigten Vorstellung und mit der richtigen Dosierung – bestimmt nicht umgebracht. Also...warum?
Eine gefühlte Ewigkeit stand Juniper also da und rang mit sich. Vergaß völlig, dass sie Jimin und sich eigentlich zwei Bier bestellen wollte. Ihre Gedanken befassten sich viel lieber mit wirren Szenarien, wie sie auf Shadow zugehen könnte und trotzdem nicht ihre Menschenwürde dabei verlor. An allererster Stelle stand deshalb, das Gespräch mit einer halben Beleidigung zu beginnen...Verdammt, wieso wollte sie überhaupt mit ihm reden? Nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte und eventuell sowas wie...Mitleid, weil er, genau wie sie selbst, zum Drogenkonsum gezwungen worden war? Dazu noch ausgerechnet mit dem Zeug, von dem er sich Jimins Aussage nach nur mit Mühe und Not hatte lösen können? Scheiße, wenn er rausfand, dass sie das wusste, war sie ohnehin toter als tot.
Es war absurd, zu ihm zu gehen. Völlig schwachsinnig. Und doch konnte sie sich einfach nicht dazu durchringen, endlich ihre Bestellung aufzugeben oder zumindest einfach ihren Arsch zurück zur Couch zu bewegen. Bis dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ihre Beine sich selbstständig machten und sie mit weichen Knien in Richtung des Clanleaders trugen.
Entweder bemerkte er sie erst spät oder er hatte sie gekonnt ignoriert. Erst, als Juniper vorsichtig auf den Barhocker neben ihm kletterte, drehte er ihr ganz langsam den Kopf zu und starrte sie unverwandter denn je an. Beim Blick in seine kalten Augen musste sie unwillkürlich schlucken und gleich darauf beten, dass er es nicht bemerkt hatte.
»Du siehst nicht so aus, als würdest du den Deal sonderlich gut einhalten«, merkte sie an und versuchte dabei, ihren Kopf lässig auf ihrem Arm an der Theke abzustützen. »War nicht abgemacht, dass du Spaß haben sollst?«
Shadows dunkle Augenbrauen zogen sich unwillkürlich ein wenig zusammen. Für einen kurzen Moment sah es wirklich so aus, als würde er einfach von seinem Stuhl rutschen und ohne ein Wort zu sagen gehen. Doch er blieb tatsächlich sitzen. Und nach einigen Sekunden des kühlen Analysierens öffnete er sogar endlich den Mund.
»Wer sagt, dass ich je an irgendwas Spaß habe?«
Juniper verzog unwillkürlich die Lippen. »Nun...niemand. Aber du tust nicht mal so...auch wenn mich das rein gar nicht überrascht.«
»Ach ja? Bin ich so durchschaubar?«
»Du bist kalt und zielgerichtet. Was also sollte dich dazu verleiten, für eine Nacht all deine Prinzipien über den Haufen zu werfen, obwohl es dir theoretisch möglich wäre?«
Shadow schnaubte und drehte sich auf seinem Hocker ein wenig in ihre Richtung, so dass er unwillkürlich etwas mehr Blick auf sein Brusttattoo freigab. Es schimmerte zwar immer noch ziemlich undeutlich durch den halbdurchsichtigen, dunklen Stoff des Hemds, aber dass es sich dabei um eine angreifende Eule mit weit ausgebreiteten Flügeln handelte, war deutlich erkennbar. Über ihr erhoben sich rechts und links große Rosen über sein Schlüsselbein. Juniper musste sich zwingen, sich von den sauber gestochenen Linien zu lösen und dem Clanleader wieder ins Gesicht zu schauen. Hoffentlich hatte er die Wanderschaft ihrer Augen genauso wenig registriert wie ihr peinliches Schlucken gerade eben.
»Im Prinzip kann Wonho froh sein, dass ich seinen Laden stehen lasse«, sprach Shadow monoton und sah sich dabei milde gelangweilt um. »Das hier...ist so eine Zeitverschwendung. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich nochmal mit so kleingeistigem Mist herumschlagen muss.«
»Wieso hast du die Hütte dann nicht in die Luft gejagt, wenn du es eigentlich so gerne getan hättest?«
»Nun...wir haben dich leider nach wie vor gezwungenermaßen am Hals und ich dachte, ich bin mal so nett und erspar dir den dritten Kampf ums Überleben in einer Woche.«
»Oh wow, wie gnädig und zuvorkommend von dir.«
Juniper wusste nicht, wo es herrührte, aber sie musste sich gerade ernsthaft zwingen, dass ihre Mundwinkel nicht leicht und unkontrolliert nach oben zucken. Seit wann genoss sie solche Schlagabtausche auf ihre ganz eigene perfide Weise?
Zu ihrer Überraschung konterte Shadow mit dem winzigen Hauch eines zynischen Lächelns. »Zudem...bin ich nicht so der Fan von der Verstümmelung von Zivilisten. Kollateralschäden und vorherrschende Primitivität hin oder her. Noch mehr Sauerei, als es hier ohnehin jede Nacht gibt, muss echt nicht sein.«
Nun war es an Juniper zu schnauben. »Du tust gerade so, als würdest du über all dem hier stehen. Als wäre euer Milieu so viel besser.«
»Ich sehe mich gewiss über den Menschen, die hierherkommen, um sich zu amüsieren«, erwiderte Shadow und war plötzlich wieder todernst. »Nicht über denen, die hier sind, um zu überleben.«
Es klang fast schon wie ein Vorwurf und unwillkürlich ließ Juniper ihren Blick durch den Raum schweifen. Über die betrunkenen Touristen, die den anzüglich lächelnden Thailänderinnen Geldscheine in den Slip schoben und sich benahmen wie die letzten hormongesteuerten Freaks. Sie kannte die Hintergründe der Frauen nicht, die in den Rotlicht-Vierteln arbeiteten, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass viele von ihnen ihren Beruf als »Traumjob« bezeichnen würden.
»Wo ein Bedarf ist, da ist auch ein Markt«, fuhr Shadow fort, der ihren Augen gefolgt war. »Und wenn dir nichts anderes übrigbleibt, bietest du eben auf den widerlichsten von ihnen.«
Sein Blick blieb an einer jungen Frau hängen, die sich gerade mit all ihrem Charme auf dem Schoß eines bierbauchigen Touristen mit großen Schweißflecken auf dem Shirt platzierte. Er und seine Begleiter, die nicht weniger am Rentenalter zu kratzen schienen als er, lachten der Go-Go-Tänzerin, die ihre Tochter hätte sein können, anzüglich entgegen. Juniper wusste in etwa, was für einen Stellenwert Frauen in Thailand besaßen. Dass vielen von ihnen keine andere Wahl blieb, als ihr Geld über den Sextourismus zu verdienen. Umso verwunderlicher war es für sie, dass Shadow dies in gewisser Hinsicht mit seinen Worten fast schon...bedauerte.
Juniper hätte ihn in diesem Moment gerne auf eine zynische Art und Weise gefragt, wo bitte beim Drogenmarkt die Nachfrage wäre, da man ja in vielerlei Hinsicht die Leute auch in eine Abhängigkeit stieß, um seinen Profit daraus zu ziehen. Man streckte den Scheiß, um mehr Kohle zu machen und machte die Drogen damit teilweise noch gefährlicher, statt ihnen den Zündstoff herauszunehmen. Zu oft hatte Juniper beobachtet, wie Dealer sich mit Heroin und Crystal Meth an irgendwelche jungen, blauäugigen Partygänger herangeschmissen und ihnen Gratisproben angeboten hatten. Natürlich in diesen Fällen mit dem besten Zeug, das sie hatten, um sich die Leute, die sie gerade in die Sucht stürzten, als zukünftige Kunden zu sichern. So lief das eben in der Branche. Keiner konnte Juniper erzählen, dass nur die Nachfrage den Markt machte. Dafür waren die Anbieter zu gierig und rücksichtslos.
...aber dann fiel ihr ein, dass sie bis vor wenigen Tagen selbst noch ein Opfer der Verdrängung jener Tatsachen gewesen war. Dass sie selbst mit Gras, MDMA, LSD, Speed, Benzos, Xanax und jeglichem anderen Schrott, der gerade noch unter die »weicheren Drogen« fiel, gedealt hatte. Dazu besaß sie kaum einen blassen Schimmer darüber, aus was Shadows Geschäfte wirklich bestanden. Ihm bissige Vorwürfe an den Kopf zu werfen, wäre wahrscheinlich nicht nur fatal für ihre Gesundheit, sondern auch einfach nur peinlich.
Erst viel zu spät bemerkte sie, dass der Clanleader seine Augen inzwischen wieder auf sie gerichtet hatte. Sein Gesicht schmückte die übliche, von einem Hauch Grimmigkeit getränkte Ausdruckslosigkeit, die keinen Einblick in seine Gedankenwelt zuließ. Und plötzlich kam Juniper wieder das Kokain in den Sinn. Die von Jimin erwähnte Sucht, die Shadow eigentlich in den Griff bekommen hatte. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund spürte sie, wie erneut eine Mischung von Wut und Mitleid in ihr aufstieg. Alleine durch die Tatsache, dass sie noch genau wusste, was für eine riesige Menge er ziehen hatte müssen und wie geweitet seine Pupillen deswegen nun waren. Auch, wenn es bei der dunklen Färbung seiner Iriden so gut wie gar nicht auffiel.
Aus einer plötzlichen Bewegung in ihren Augenwinkeln heraus, fiel ihr Blick von einem auf den anderen Moment über seine Schulter. Als hätte sie ein sechster Sinn gewarnt und aufschauen lassen. Und die Worte, die ihr gleich darauf aus dem Mund rutschten, waren so unüberlegt und spontan, dass sich Juniper keine Sekunde später selbst für vollkommen übergeschnappt erklärte.
»Komm, wir gehen tanzen.«
Shadows Stirn zog sich augenblicklich kraus und er legte den Kopf schief, als würde er plötzlich an seiner eigenen Wahrnehmung zweifeln. Er hatte Wonho nicht bemerkt, der mit allem, nur ganz sicher keinen guten Absichten im Gepäck nach wie vor hinterrücks auf ihn zukam.
»Komm jetzt«, würgte Juniper weiter hervor und wagte es dabei sogar, mit einer gewissen Dringlichkeit seinen Unterarm zu umfassen, während sie selbst bereits von ihrem Stuhl rutschte. »Du willst alles, nur nicht hierbleiben.«
Mit etwas Mühe schaffte sie es, dass der Clanleader sich mit ihr drehte, als sie sich frontal vor seinen Hocker stellte. Sein völlig verstörter, abwehrender Ausdruck veränderte sich augenblicklich, als seine Augen zu ihrer großen Erleichterung, beeinflusst durch die neue Sitzposition, in Wonhos Richtung zuckten. Kurz verharrte er in einer Starre, ehe er Juniper wieder ins Gesicht sah und abzuwägen schien, welches das kleinere Übel darstellte. Dass er seine Wahl letztendlich mit einem Sprung von seinem Stuhl besiegelte, beflügelte sie auf eine so seltsame Weise, dass sie kurz dachte, Überreste des Ketamins würden wieder in ihr aufleben und ihr Gehirn verweichlichen.
Auf der Tanzfläche, auf der sie letztendlich landeten, wirkten sie fast wie zwei Aliens. Und das, obwohl um sie herum so gut wie jede volljährige Altersgruppe und Ethnizität vorhanden war, durchgemischt mit den Tänzerinnen der Bar, die ihr Bestes gaben, um die paar eigenständig Herumhüpfenden bei Laune zu halten. Kaum hatten Shadow und Juniper sich auf einem freien Plätzchen inmitten der Menschen einander zugewandt, wirkte der Clanleader, als hätte ihn jemand an Ort und Stelle eingefroren. Als wüsste er plötzlich nicht mehr, was er hier überhaupt suchte. Als verspürte er viel eher den Drang, einfach wieder auf der Stelle kehrt zu machen und in irgendeiner dunklen Ecke der Bar zu verschwinden.
Die Lautsprecher begannen in diesem Augenblick lautstark Flo Ridas Turn Around zu dröhnen, was Juniper daran zweifeln ließ, ob diese Ecke Bangkoks bereits realisiert hatte, dass 2011 schon sieben Jahre zurücklag. Es passte so absolut nicht zu dem, was sie sah. Was sie fühlte. Gerade Shadow wirkte wie ein einziges Paradoxon mit diesem Song als Kulisse. Der einzige, zu dem das Gedudel irgendwie passte, war Wonho, dessen Blick Juniper von der Bar aus fing. Er beobachtete den Clanführer und sie mit Adleraugen. Als würde er nur darauf warten, dass einer von ihnen beiden aufgab und sich gezwungenermaßen in seine Höhle begeben musste.
Sie riss ihre Augen von dem widerlichen Kerl los und sah wieder in Shadows Gesicht, der sie nach wie vor mit einer Mischung aus »Was zur Hölle soll das hier?« und »Ich bring mich gleich um« anstarrte. Juniper wusste nicht, welcher Teufel sie in diesem Moment ritt, dass sie es tatsächlich wagte, sich zur Musik zur bewegen.
»Uh-oh baby...Want some more baby...I love the way you do it 'cuz you do it so crazy...I'm counting down...so turn around...Five, four, three, two, one, and I make that booty go...«
Ihr Herz raste, wie es das schon lange in einer solchen Situation nicht mehr getan hatte. Es war so befremdlich und doch irgendwie das Natürlichste der Welt. Und dieses Mal war es nicht solch ein Ding der Unmöglichkeit, Shadows Blick standzuhalten, der wie Sekundenkleber an ihr haftete. Er stand immer noch wie der steifste Stock im Lande mitten auf der Tanzfläche, doch sein Ausdruck spiegelte nicht mehr diese absolute Abscheu wider. Viel mehr Verwirrung. Als würde ihn das alles in einer Heftigkeit vor den Kopf stoßen, dass selbst er vergaß, sein Pokerface zu wahren.
»Beweg dich jetzt, wenn du nicht willst, dass er dich zu der nächsten verdammten Line zwingt«, zischte Juniper und traute sich, noch einen Schritt weiter zu gehen. Sie tanzte mutiger und wagte es sogar, ein Stück näher an ihn heranzurücken. Hilfe, wie konnte das alles so unangenehm und befriedigend zugleich sein?
Shadows Lider zuckten und sein Kopf ruckte ein wenig nach oben. Dann, ganz langsam, machte er auch einen Schritt auf sie zu. Er ließ es zu, dass Juniper nach seinen Händen griff und sie locker an ihrer Hüfte platzierte. Dennoch musste sie zu ihrer eigenen Panik noch weiter an ihn heranrücken, um ihre eigenen Arme auf seine Schultern zu legen, wohlbedacht, dabei keinen Druck auf die verletzte Haut auszuüben. Und zum ersten Mal benebelte sein Geruch ihre Sinne, der sich aus Zigarettenrauch und etwas zusammensetzte, bei dem sie beim besten Willen nicht entscheiden konnte, ob es sich um ein angenehmes Aftershave oder seinen Eigengeruch handelte.
Die plötzliche Nähe schien Shadow genauso sehr zu überfordern wie Juniper selbst und irgendwie war es beruhigend zu wissen, dass das bei einem Kerl wie ihm überhaupt möglich war. Auch die Tatsache, dass all seine folgenden, etwas steifen »Tanzbewegungen« aus ihrer Führung resultierten, war mehr als befremdlich. Seine Hände an ihrer Hüfte und ihre auf seinen Schultern waren so...seltsam. Sie senkte unwillkürlich den Blick, da sie es mit einem Mal doch nicht mehr aushielt, ihn direkt anzusehen...Stattdessen blieben ihre Augen an den nun so nahen Tätowierungen an seinem Schlüsselbein hängen. Den akkurat gestochenen Rosen und dem Schriftzug, den sie rahmten. Doomed. Oh ja, gottverdammt...das war er.
Seltsam, wieso genau es exakt dieses eine Wort war, welches Juniper letztendlich doch wieder dazu brachte, nach oben und dann auch noch direkt in Shadows Augen zu sehen. Sein Ausdruck war zu ihrem eigenen Schock weicher geworden. Und nicht nur das...Lag da etwa Unsicherheit in seinen Zügen? Ließ der große, starke Clanleader sich tatsächlich so schnell mit etwas Körpernähe und sogenanntem »Spaß« überfordern?!
Doch es war nicht so, dass Juniper in diesem Augenblick Schadenfreude oder das Gefühl von Macht verspürte...nein. Vielmehr hallten ihr erneut seine Worte von vor wenigen Stunden durch den Kopf. Wie er nicht zugelassen hatte, dass sie das Teufelszeug von Droge hatte nehmen müssen. Sie sah vor sich, wie sich seine Clanmitglieder um ihn gesorgt hatten, als er eisern auf die anderen Forderungen von Wonho eingegangen war. Seinem alten Feind, dem Kokain, erneut die Nase hingehalten hatte. Und plötzlich sah Juniper nicht mehr Shadow, den Leader eines koreanischen Clans. Sie sah Min Yoongi. Ein Mensch mit einem Namen, den ihm seine Eltern einmal gegeben hatten und nicht die Personen, die ihn fürchteten...oder gar er selbst, gerade um allen anderen das Fürchten zu lehren. Juniper akzeptierte zum ersten Mal, dass diese Person vor ihr wirklich diesen Namen trug. Dass sie existierte, wenn auch hinter dem harten Panzer namens Shadow, dem kalten, pragmatischen Anführer, der keine Schwächen vorwies. Min Yoongi jedoch hatte Schwächen...nur war Juniper sich noch nicht so sicher, ob er wirklich auch sowas wie ein Herz besaß. Ihre Rettung vor der Droge könnte ein Indiz dafür gewesen sein...doch letztendlich gab es bestimmt auch noch tausende andere Möglichkeiten, die ihn dazu bewegt haben könnten und eher strategischer Natur entsprachen.
Es war der Moment, in dem Flo Rida von David Guetta, Ludacris und Taio Cruz mit Little Bad Girl abgelöst wurde, als sich zum ersten Mal wieder Bewegung in Yoongis Gesicht breitmachte. Und die Art und Weise ließ Juniper fast an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Er verzog seine Miene bis zur Unkenntlichkeit, wobei er den Mund in einem kleinen, stillen Schrei öffnete, die Augen fast komplett zusammengekniffen. Es lag solch ein gespielter Ekel in diesem Ausdruck, dass sie unwillkürlich auflachen musste. War das wirklich er, der da gerade so eine Grimasse aufgrund des dämlichen Songs zog?!
»Die DJs hier sind wirklich irgendwann 2011 steckengeblieben«, pflichtete sie ihm unwillkürlich bei, obwohl sie beide sich nach wie vor mit den Händen beim jeweils anderen zur Musik bewegten.
»Meine Ohren bluten«, schnaubte Yoongi, der seine Grimasse zur Hälfte wieder abgelegt hatte. »Scheiße, lass diese Nacht bitte schnell vorbei sein.«
Junipers Mundwinkel steckten immer noch in ihrem seltsam ungelenken Grinsen fest, als er einen frustrierten Seufzer von sich gab und seinen Blick um sie herum schweifen ließ. Von Sekunde zu Sekunde verlor sich die lockere Stimmung wieder, die wie kurz aufleuchtende Weihnachtsbeleuchtung zwischen ihnen geherrscht hatte. Mit jedem Augenblick, in dem sich sein Ausdruck wieder mit mehr Düsternis füllte.
»Wieso hasst du mich eigentlich so?«
Die Frage war aus Juniper geplatzt, ohne dass sie es hatte kontrollieren können. Keinen Moment später bereute sie es auch schon wieder, als die Augen des Clanleaders mit einer gewissen Unverwandtheit zu ihr zurückschnellten. Für eine kurze Zeit schaute er einfach nur auf sie herab und sie hielt dabei durchweg den Atem an. Dann begann er langsam zu sprechen.
»Du denkst...ich würde dich hassen. Weißt du überhaupt, was es bedeutet, jemanden zu hassen?«
Juniper reagierte völlig perplex auf diese Frage. Nein, tatsächlich hatte sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Doch das konnte sie nun unmöglich vor ihm so offen zugeben.
»Zu hassen bedeutet, auf eine hochgradig intensive Weise zu fühlen. Jemandem oder etwas gegenüber. Hass ist groß, gefährlich, unkontrollierbar und sorgt dafür, dass du irrational handelst. Ich vermeide es, zu...hassen. Du solltest dich nicht für so überaus wichtig halten, dass dir die Ehre einer derart heftigen Gefühlsregung meinerseits zuteilwird.«
Yoongi sagte es mit einer Spur von Verachtung, doch irgendwas in seiner Stimme ließ den leisen Verdacht aufkeimen, dass ihn ihre Frage auch irgendwo amüsierte. Er sah auf sie herab, als würde er gerade ein Kind über die wahre Grausamkeit der Welt aufklären und auch noch irgendwo Genugtuung darin finden.
»Tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben könnte, ich würde das glauben«, schaffte Juniper es schließlich hervorzupressen. Mit dem ungerührtesten Ausdruck, den sie in dieser Situation aufbringen konnte.
Der Clanleader musterte sie forschend, ohne dabei aus seiner nach wie vor steifen Tanzroutine zu fallen. „Du denkst, ich bin ein Monster."
Es war ganz klar nicht als Gegenfrage, sondern als Feststellung formuliert. Wahrscheinlich da die Tatsache ohnehin schon für ihn feststand.
Juniper schluckte unwillkürlich, sah ihm aber dennoch standhaft in die Augen. »Bist du das denn?«
In diesem Moment war sie sich nicht sicher, ob sie mit Yoongi oder Shadow tanzte. Wem von beiden sie da in die geweiteten Pupillen schaute, die sich wie zwei schwarze Löcher auf sie gerichtet hatten. Alles, was sie wusste, war, dass ein sehr mulmiges Gefühl von ihr Besitz ergriff. Sich wie ein Nervengift durch ihren Körper fraß und ihn Stück für Stück taub werden ließ.
Er legte den Kopf etwas schief, so dass ein paar seiner silbernen Strähnen aus ihrer seitlichen Position entfleuchten und ihm ein wenig ins Gesicht fielen. »Die Frage ist wohl eher, was du unter einem Monster verstehst.«
Juniper öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Die Tatsache, dass sie sich immer noch so nah waren, machte diese ganze Unterhaltung so unfassbar schwierig. Unter anderen Umständen hätte sie bestimmt nicht gezögert, nun eine ellenlange Liste an schwerwiegend schlechten Eigenschaften und Missetaten aufzuzählen...aber gerade war ihr Kopf einfach nur wie leergefegt.
»Ich schätze...jemand, der rücksichtlos Menschen verletzt...und ermordet«, brachte sie schließlich mit Mühe und Not hervor und konnte dabei nicht verhindern, dass Angst von ihr Besitz ergriff. Unweigerlich war ihr wieder bewusst geworden, dass Shadow ein Mann war, der nicht umsonst seinen Posten innehaben musste. Sie wusste nicht, was er alles getan hatte...sie wusste nur, dass.
»Tja, so jemand bin ich wohl«, antwortete er ungerührt. »Reicht dir das als Bestätigung? Oder willst du mehr Details, um mir den Titel rechtmäßig verleihen zu können?«
»Wie viele?«
»Wie viele was?«
»Wie viele hast du getötet?«
Er starrte sie an, ohne dabei auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. »Als die Zahl dreistellig wurde, habe ich aufgehört zu zählen.«
Ein ekelhafter Schauer jagte über Junipers ganzen Körper und hinterließ ein unangenehmes Kribbeln auf ihrer Haut. Plötzlich fühlten sich die Arme auf ihren Schultern wie unangenehme Gewichte an und sie bekam Angst, sehr bald unter ihnen zusammenzubrechen.
»Und...warum?«, zwang sie sich, weiter zu fragen. Umso mehr sie wusste, desto mehr Gewissheit konnte sie über ihre eigentliche Lage innerhalb dieses Clans sammeln. Auch wenn ihr die weiteren Antworten vielleicht nur noch mehr Unbehagen bereiten würde.
Yoongi nahm sich erneut Zeit, bevor er reagierte. Sekundenlang musterte er ihr Gesicht und bereitete ihr damit heftige Schwierigkeiten, seinem Blick so lange standzuhalten. Wie war es möglich, dass so zarte, ja, hübsche Züge zu einem solchen Menschen gehören konnten? Ob sich die Natur einen Scherz bei ihm erlaubt hatte?
»Würde es einen Unterschied machen, wenn ich dir das sage?«, entgegnete er schließlich und ohne eine Miene zu verziehen. »Denkst du, es gibt irgendwelche Rechtfertigungen dafür, die solche Taten relativieren?«
»Nun...wenn man sonst selbst draufgehen würde...oder dass ohne den Tod der anderen Person nur noch viel mehr Menschen sterben würden...«
Juniper faselte. Sie wusste, dass sie das tat. Aber sie wusste nicht, wieso. Sie konnte sich einfach nicht erklären, warum sie das auch nur ansatzweise zu rechtfertigen versuchte. Tatsache war einfach, dass sie gerade mit einem Massenmörder tanzte. Und nichts, rein gar nichts auf dieser Welt konnte entschuldigen, was er in seinem Leben bisher alles getan hatte. Erschreckend war nur, dass der Teil in Juniper, der Shadow für diese Taten verachtete, sie gerade so ungehindert diesen Müll reden ließ.
»...du solltest wirklich weniger Filme schauen.«
Der Clanleader beugte er sich zu ihrem großen Schrecken zu ihr herab, so als wollte er ihr etwas ins Ohr flüstern...und das tat er dann auch.
»Die meisten von ihnen waren minderjährig und hatten ihr Leben noch vor sich, wenn du es genau wissen willst. Das ist mal ein Grund, um jemanden zu hassen...denkst du nicht? Nun...wäre besser für dich, wenn du es tust. Ja, ich bin ein Monster. Und das wird auch immer so bleiben.«
Kaum hatte er ihr diese Worte entgegengehaucht und ihr dabei mit seinem heißen Atem die Haut versengt, ließ er auch schon wieder komplett von ihr ab. Er schenkte Juniper einen letzten berechnenden Blick, ehe er sich umdrehte und zwischen der tanzenden Menge verschwand. Und sie blieb an Ort und Stelle stehen, als hätte sie jemand gerade gewaltsam aus einem eigentlich ganz passablen Traum gerissen. Wie hatte diese Situation so schnell so dermaßen eskalieren können?!
Vielleicht, wisperte eine hinterhältige Stimme in ihrem Kopf, war es einfach nur wegen des Gesprächs mit Jimin, das du noch so dreist belauscht hast. Vielleicht willst du genau deswegen glauben, dass da noch etwas Gutes in ihm steckt. Und natürlich wegen des Fentanyls, vor dem er dich gerettet hat...was aber eigentlich ja Hoseok war. Nur zur Erinnerung, falls du es vergessen haben solltest.
Juniper wusste um ehrlich zu sein nicht mehr, was sie denken sollte. Hatte sie ernsthaft auch nur für einen Moment in Betracht gezogen, dieser Kerl könnte ein guter Mensch sein? Wie war sie nur so blind gewesen? Das Ketamin...es musste daran liegen! Es hatte ihre Birne verweichlicht und ihr vorgegaukelt, dass sich schon eine rechtfertigende Erklärung für alle von Shadows Missetaten finden ließe. Was für ein unfassbar schlechter Witz. Wie hatte sie es überhaupt fertigbringen können, mit ihm zu tanzen? Ihm so...nah zu sein? Es auf irgendeine verrückte Weise auch noch irgendwie zu genießen? Lächerlich, June! Einfach nur lächerlich!
Doch all diese nachträglichen Realisationen taten dem Gefühl keinen Abbruch, das ihr gerade höllische Magenschmerzen bereitete. Das dafür sorgte, dass sie weiterhin wie angewurzelt auf der Tanzfläche stehen blieb, die Hände zu Fäusten geballt und das Gesicht so heiß, als würde es jemand in einen bereits vorgeheizten Backofen halten. Erst ein plötzlicher Druck auf ihrer Schulter ließ sie aufschrecken und herumfahren. Es war Jimin. Und seine Augenbrauen waren gänzlich unter den verstrubbelten Strähnen seiner roten Mähne verschwunden.
»Was wird das hier?«, fragte er und warf dabei einen demonstrativen Blick in die Richtung, in der eine gewisse Person gerade erst verschwunden war. »Wolltest du nicht was zu trinken holen?«
»Ich...ähm...«
Juniper war sich fast todsicher, dass Jimin sie gesehen hatte. Wie auch nicht? Die Couch – und das bemerkte sie jetzt erst – besaß eine perfekte Aussicht auf ihre derzeitige Position. Schöne Scheiße. Was zur Hölle musste er sich bei diesem ganzen hirnrissigen Spektakel nur gedacht haben?!
»Lass uns bitte erstmal hier verschwinden, ja?«, merkte der Kkangpae an und umgriff in seiner üblichen Gewohnheit Junipers Handgelenk, um sie mit sich zu ziehen. Kurze Zeit später hatte er sie in eine freie Nische an der Bar geschleift, wo er erst einmal mit eindringlichen Bewegungen den Barkeeper herbeipfiff und auf wackeligem Englisch zwei Bier bestellte. Erst, als der Mitarbeiter ihnen die gekühlten Flaschen vor die Nase gestellt und abgezischt war, wandte er sich wieder ihr zu.
»Mit was zur Hölle hast du Yoongi bestochen, dass er mit dir tanzt, hm? Dass du dir doch einen Fentanyl-Trip abholst? Dich im Chao Phraya ertränkst? Seine Achziger-Jahre-Schallplatten-Sammlung verbrennst?«
Juniper spuckte fast ihr Bier wieder aus. »Seine...was?!«
Sie konnte sich beim besten Willen keinen Yoongi ausmalen, der den nostalgischen Klängen von beispielsweise David Bowie oder den Rolling Stones auf einem Plattenspieler lauschte. Doch noch ehe sie dieser interessanten Vorstellung nur ansatzweise nachkommen konnte, hatte Jimin auch schon wieder ihre ganze Aufmerksamkeit für sich beansprucht.
»Nein, im Ernst jetzt! Was hast du ihm geboten? Meine Fresse, nicht mal Jin – und du glaubst nicht, wie viel Einfluss diese kleine Diva tatsächlich auf ihn hat – hätte es, selbst mit der Unterstützung eines Raketenwerfers, hinbekommen, diese Mimose auf so etwas wie eine Tanzfläche zu bekommen. Oder schiebt er gerade Halluzinationen von Wonhos Zeug? Muss ich mir irgendwie Sorgen machen?!«
»Jetzt chill mal! Er hatte die Wahl: Entweder Tanzfläche oder weiter die Zeit mit diesem Mistkerl totschlagen. Wenn du mich fragst, war das keine schwere Entscheidung.«
Jimin öffnete den Mund, schloss ihn wieder, nur um seine Lippe kurz zu einer schmalen, abschätzigen Linie zu verziehen. »Schön...ich will es mal auf seine Unzurechnungsfähigkeit in dieser nur bedingt nüchternen Lage schieben. Das erklärt mir jedoch trotzdem nicht, wieso er gerade abgezischt ist wie eine aufgescheuchte Katze.«
Juniper biss sich unwillkürlich auf die Innenseite ihrer Wange. War es klug, ihm zu erzählen, was für ein bitteres Gespräch zu diesem Abgang geführt hatte? Warum eigentlich nicht? Jimin war der Einzige, zu dem sie den Ansatz einer Vertrauensbasis besaß. Und gerade erst hatte er ihr auch eines seiner eigenen wohlgehüteten Geheimnisse anvertraut. Also atmete sie tief durch...und erzählte ihm von dem Gespräch.
»Oh June...«, seufzte Jimin mit einer tiefen Furche auf der Stirn, nachdem sie geendet hatte. »Du hast ihm nicht ernsthaft...diese Frage gestellt.« Er räusperte sich und fuhr nach einem kurzen verstohlenen Blick um sich fort: »Ich weiß, dass für dich nun alle Indizien dafürsprechen, dass Yoongi genau das ist, was er dir versucht hat, klarzumachen. Aber du kennst ihn nicht wirklich. Und du hast keine Ahnung von den Umständen, die dafür gesorgt haben, dass diese Zahl an Morden...so hoch ist.«
»Ach ja?«, schoss Juniper zurück, die sich inzwischen wieder erfolgreich in ihre Abwehrhaltung katapultiert hatte. »Und wie ist sowas bitte zu entschuldigen?«
Jimin zog verärgert die Augenbrauen zusammen. »Hey, nicht so zickig. Du warst diejenige, die es für schlau hielt, mit ihm zu tanzen und ihn so einen Mist zu fragen.«
»Okay, schon gut...aber trotzdem. Wie willst du rechtfertigen, was er getan hat? Wie soll ich je wieder mit ihm in einem Raum sein ohne...daran zu denken?!«
Wie willst du dir selbst je wieder in die Augen sehen, nachdem du es vor Yoongi selbst noch zu rechtfertigen versucht hast? Hm?
Jimin schnaubte. »Du stehst doch auch mir gegenüber und redest ganz normal mit mir, nachdem ich vor deinen Augen einen Typ abgeknallt habe.«
»Ja, weil er sonst uns abgeknallt hätte!«
Er schloss die Augen und fuhr sich frustriert mit einer Hand durch die Haare. »Oh June...Hör zu, ich werde dir die Geschichte dazu erzählen, okay? Aber nicht heute...nicht hier. Es ist eine ziemlich...sensible Sache, klar?«
»Die Daegu-Sache?«
»...ja. Aber jetzt kein Wort mehr darüber, verstanden? Nimm dein Bier, wir gehen jetzt erstmal wohin, wo es ruhiger ist.«
Ehe Juniper auch nur den Gedanken an einen Protest verschwenden konnte, hatte Jimin sie auch schon wieder gepackt und an einen freien Tisch geschleift, der etwas mehr Privatsphäre bot, als die Couch, auf der sie zuvor gesessen hatten. Erst beim zweiten Mal Schauen bemerkte sie, dass auch Taehyung und Hoseok sich ins Dunkel der Nische gedrängt hatten. Der Dealer hing an der Schulter des dunkelhaarigen Kkangpae, der mit einer hochgradig imposanten Verachtung seinen stählernen Blick durch den Raum schweifen ließ. Kurz bevor Jimin und Juniper sich zu ihnen auf die Bank quetschten, sah er dann endlich zu ihnen...auch wenn er dabei nichts an seinem Ausdruck änderte. Er wirkte, als wäre er dieser ganzen Veranstaltung so überdrüssig...und Juniper konnte es ihm noch nicht einmal übelnehmen.
»W-wie geht's dir?«, fragte sie vorsichtig, nachdem sie auf dem Platz neben Hoseok gelandet war.
Müde hob er seinen Kopf von Taehyungs Schulter, nur um sich ächzend in die gepolsterte Lehne der Bank sinken zu lassen. Er sah ein wenig blass um die Nasespitze herum aus und seine Mundwinkel hingen in einem mitleiderregenden Winkel nach unten. Trotzdem brachte er den Hauch eines Lächelns zustande, als er zu ihr herüberschielte.
»Mir geht's, als ob ich mich nicht entscheiden könnte, ob ein Joint nun eine gute oder schlechte Idee wäre«, säuselte er grinsend. »Wobei ich eigentlich echt nicht riskieren will, dass Taehyung mich am Ende zum Hotel zurücktragen darf.«
»Wer sagt, dass ich das überhaupt tun würde?«, schnaubte Erwähnter und verdrehte die Augen, ehe er seinen herablassenden Blick wieder auf Wanderschaft schickte.
Hoseok seufzte und nahm sich darauf die Zeit, Juniper zu mustern, soweit es ihm in seiner eingesunkenen Position möglich war. »Du scheinst deine Portion Ochsenschlafmittel ja auch ganz gut überlebt zu haben. War der Trip wenigstens gut?«
»Überragend«, erwiderte Juniper lakonisch und mit vor Sarkasmus triefender Stimme.
Er kicherte, ehe er seine Augen schloss und die Arme vor der Brust verschränkte, als wollte er sich nun wirklich ein Nickerchen genehmigen. Sie beobachtete ihn für eine Weile und überlegte, ob es der richtige Zeitpunkt war, um sich zu bedanken. Dafür, dass er den weitaus härteren und gefährlicheren Trip auf sich genommen hatte. Doch noch ehe sie zu einem eindeutigen Ergebnis kommen konnte, hatte jemand anderes die volle Aufmerksamkeit des Tisches auf sich gezogen.
Yoongi war vor ihnen erschienen wie ein Geist. Den Gesichtern der anderen nach hatte ihn keiner wirklich kommen sehen. Sogar Taehyung wirkte überrascht über das plötzliche Auftauchen des Clanleaders. Dessen Miene war unterdessen undurchschaubar, doch alleine seine alles einnehmende Aura verriet in diesem Moment eindeutig, dass etwas nicht stimmte. Junipers Magen begann bei seinem Anblick fast augenblicklich unangenehm zu kribbeln.
»Planänderung«, sagte er fast schon tonlos und ließ seinen scharfen Blick dabei über all seine Männer, nur nicht sie schweifen. »Wir holen Jeongguk und verschwinden sofort.«
»Aber...Hyung«, meldete sich Taehyung vorsichtig zu Wort. »Es ist gerademal halb vie–«
»Zählt quasi schon als Morgen. Wonho ist gerade ohnehin mit etwas anderem beschäftigt«, unterbrach ihn Yoongi unwirsch. »Wir haben gerade aber ein viel größeres Problem als ihn an der Backe.«
Es folgte ein langer Blickaustausch zwischen Taehyung und ihm, bei dem sie sich stumm das Nötigste zu sagen schienen. Der Dunkelhaarige verstand sofort und seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Wie haben sie uns gefunden?«
»Wow wow wow, wartet.« Jimin beugte sich vor und sah schnell zwischen den beiden hin und her. »Reden wir hier von Soo–«
Er sprach es selbst nicht zu Ende, als Yoongi unmerklich den Kopf in der Andeutung eines Nickens senkte. Gleichzeitig lag dabei etwas Seltsames in seinen Augen...und aus irgendeinem Grund schien diese Regung nur für Jimin bestimmt zu sein. Dieser starrte ihm einige Sekunden entgegen, bis sich eine gewisse Art von Realisation in seinem Gesicht widerspiegelte.
Doch Juniper hatte in diesem Moment nicht den Kopf dafür, sich weiter an den Reaktionen und Gedanken der anderen aufzuhängen. Die Neuigkeit hatte sie wie ein Asteroid getroffen – völlig unvorbereitet und ohne, dass sie etwas gegen die Auswirkungen tun konnte. Es reichte wohl nicht aus, dass sie von einem anderen Clan von dieser Brücke gedrängt sowie dadurch fast umgebracht worden waren und sich nun hier in Bangkok mit einem narzisstischen Barbesitzer herumschlagen mussten, nein...nun hing ihnen natürlich auch wieder das größte aller Übel an den Fersen. Wo war man denn bitte vor diesem Haufen namens Sooman-pa sicher??
»Ganz große Klasse«, stöhnte Taehyung erbost und ließ seine schnellen Adleraugen sofort alarmiert umhergleiten. »Jetzt sitzen wir hier also wie auf dem Präsentierteller – mit Hoseok völlig am Arsch und Jeongguk eingesperrt im Hinterzimmer.«
»Um Letzteren kümmere ich mich«, erwiderte Yoongi prompt und schien dabei mit den Gedanken schon weit voraus zu sein. Als er den Blick zurück zu der Runde lenkte, von der sich immer noch keiner gerührt hatte, zog er wütend die Augenbrauen zusammen. »Worauf zur Hölle wartet ihr? Verschwindet aus diesem Laden und haltet euch dabei bedeckt. Und passt verdammt nochmal auf, dass euch niemand folgt! Tae? Ich verlass' mich auf dich!«
Mit diesen Worten war auch schon davongerauscht. Taehyung, der sich wohl jetzt erst seiner neu erlangten Verantwortung bewusstwurde, sprang von seinem Platz auf und machte sich sofort daran, Hoseok mehr oder weniger sanft ebenfalls auf die Beine zu helfen. Juniper wurde unterdessen in der altbekannten Manier von Jimin an ihrem gesunden Arm gepackt und genauso dazu gezwungen, endlich aufzustehen. Er ließ sie auch dann nicht los, als sie sich als Schlusslicht hinter den anderen beiden im Schatten der Wände in Richtung des Ausgangs durchkämpften.
Es war ein kurzer Blick über die Schulter, der Juniper schließlich zum abrupten Stehenbleiben brachte.
»Hey, was soll das?«, zischte Jimin, den sie damit natürlich gezwungenermaßen mitaufgehalten hatte. »Wir müssen hier raus, hast du's nicht verstanden?!«
»Dahinten ist Wonho und er sieht ziemlich wütend aus.«
»Ja, Yoongi sagte bereits, dass er mit irgendwas beschäftigt ist.«
»Aber der ist bei ihm. Fuck, Jimin...Ich glaub, er hat ihn erwischt.«
»Yoongi weiß, was er tut. Und außerdem...hey, verdammt! Wo willst du hin?!«
Juniper schaffte es gerademal, zehn Meter hinter sich zu bringen, da hatte Jimin sie schon wieder eingeholt und erfolgreich zurückgehalten.
»Was soll denn die Scheiße?! Denkst du echt, er braucht Hilfe? Er ist verdammt nochmal –«
Jimin stockte, als sein Blick auf etwas in einer völlig anderen Richtung fiel, das Juniper nicht sehen konnte. Und sein Gesicht wurde innerhalb von einer Sekunde käseweiß.
»Wir müssen hier weg«, hauchte er und begann augenblicklich in einer nie dagewesenen Heftigkeit, sie mit sich zu ziehen.
»Hey, warte mal!«, beschwerte sich Juniper und versuchte mit all ihrer Kraft, dagegen anzukämpfen. »Was hast du gesehen? Und was ist mit Jeongguk?! Willst du dich echt darauf verlassen, dass dein über alles heiliger Leader es alleine schafft, an all diesen dressierten Gorillas vorbeizukommen? Hat er bei dem Hauch von Nichts, den er heute trägt, überhaupt etwas, mit dem er sich verteidigen kann?!«
Jimin stoppte sein Gezerre und drehte sich wieder zu ihr um. Sein Gesicht war zerfurcht von so vielen Gefühlen, dass Juniper für einen kurzen Moment Angst bekam, er würde sie nun in Stücke reißen...doch das geschah nicht. Stattdessen fiel sein Blick wieder zu dem nach wie vor diskutierenden Yoongi...und dann wieder in die Richtung, in der er irgendwas gesehen haben musste.
»Du bist...einfach unmöglich«, brachte er zornig hervor und ehe sie sich versah, hatte er einen neuen Weg angestrebt. Einen vorbei an den tanzenden Menschen, direkt auf den hintersten Teil der Bar zu. Genau dorthin, wo die Wachmänner mit Jeongguk verschwunden sein mussten.
»Du bleibst hinter mir, verstanden? Keine Ahnung, wie du überhaupt auf die schwachsinnige Idee gekommen bist, du könntest hier irgendwas ausrichten!«
»Glaub mir, das frag ich mich auch«, grummelte Juniper und dankte innerlich ihrer Denk-nicht-nach-Triebader, die sie mal wieder in diese Scheiße geritten hatte. Eigentlich könnte sie jetzt friedlich mit den anderen auf der Flucht zum Hotel sein. Nun war sie dank ihrer eigenen Unzurechnungsfähigkeit Teil von Jeongguks Rettungsaktion. Der absolute Wahnsinn.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien zu ihrem Glück auch noch kein Wachmann an der einzigen Tür weit und breit zu stehen, an der sich ein Schild mit »Staff only« befand. Jimin schaffte es in einer James-Bond-verdächtigen Aktion, sie beide wie zwei Geister hindurchschlüpfen zu lassen, so dass sie sich gleich darauf in einem mäßig beleuchteten Flur wiederfanden. Die Partygeräusche drangen nur noch sehr dumpf zu ihnen durch, was es aber auch schwieriger machte, unauffällig zu bleiben. Dies verdeutlichte Jimin noch einmal, indem er mit einem mahnenden Blick den Finger auf die Lippen legte, ehe er damit fortfuhr, Juniper mit sich mitzuziehen.
Was folgte, war eine Schleichhetzjagd von Tür zu Tür. Jimin lauschte an jeder von ihnen, ehe er am Ende des Flurs an eine geriet, die ihm wohl zuzusagen schien. Er ließ Junipers Hand los, um sich etwas aus der Innentasche seiner Jacke zu ziehen, was sich als Klappmesser entpuppte. Als er beim Herunterdrücken der Klinke feststellte, dass abgeschlossen war, zögerte er nicht, das Ding dazu zu nutzen, um am Schloss zu hantieren. Es dauerte keine paar Sekunden, da hatte er es auch schon geknackt.
Juniper folgte erst, als Jimin nach ausreichender Begutachtung den Raum betrat und ein erleichtertes Seufzen von drinnen zu hören war. Ihr offenbarte sich eine Art mäßig bestückter Aufenthaltsraum...und Jeongguk, der darin offenbar mit Handschellen an ein Wandrohr gefesselt sein Dasein auf einem Stuhl fristete.
»Was ist los? Wieso der Abbruch?«, fragte der Kkangpae verwirrt, nachdem er aus seiner sitzenden Position ungelenk aufgesprungen war und nun verwirrt zwischen Juniper und Jimin hin und her starrte.
»Oh fuck, ein Glück geht's dir gut«, überging Jimin seine Frage und stürzte förmlich auf den Jüngeren zu. Erst kurz vor ihm schien er sich wieder zu besinnen und beließ es dabei, ihm eine Hand auf den Oberarm zu legen.
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Juniper sich in diesem Moment ein Grinsen nicht verkneifen können. Nach ihrem Gespräch mit Jimin besaß dieses ganze Aufeinandertreffen der beiden eine völlig neue Wirkung auf sie. Doch sie scheiterte an dem Versuch, etwas aus dem Blick des Jüngeren zu lesen. Sowieso war nun nicht der richtige Zeitpunkt, um nach Gefühlsregungen anderer Leute Ausschau zu halten, die auf eventuelle Schwärmereien hindeuten könnten.
»Dass ihr hier seid, kann nichts Gutes bedeuten«, brummte Jeongguk mit misstrauischem und zugleich unruhigem Gesichtsausdruck, während Jimin sich bereits mit geübten Handgriffen an den Handschellen zu schaffen machte.
»Yoongi hat den Abbruch gefordert, wegen...unseren liebsten Freunden, die uns wohl hier aufgespürt haben. Er wollte dich selbst holen, aber...« Jimin schluckte, ehe die Fesseln mit einem kleinen Klirren von Jeongguks Handgelenken fielen. »...wir haben gesehen, dass er von Wonho aufgehalten wurde.«
»Und da hast du es für eine gute Idee gehalten, sie mitzuschleppen?«, grummelte Jeongguk mit einem missbilligenden Blick zu Juniper. »Alle paar Minuten schaut irgendeiner dieser Vollidioten vorbei. Wenn die uns erwischen, haben wir ein Problem. Die haben mir meine Beretta abgenommen.«
Jimin schnaubte. „Prahlst du nicht immer mit deinen ach so viel besseren Nahkampffähigkeiten, Tokki?"
Jeongguk musterte ihn abschätzig von oben bis unten. »Damit muss ich nicht prahlen, es handelt sich hierbei um einfache Tatsachen.«
»Ehm, Leute?«, meldete sich Juniper vorsichtig zu Wort. »Ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber dieses Gezanke hat uns schon mal fast umgebracht. Ich wäre euch sehr verbunden, wenn wir hier schnellstmöglich –«
Weiter kam sie nicht, denn eine große Hand legte sich mit einem Mal auf ihren Mund. Keine halbe Sekunde später befand sich ihr ganzer Oberkörper innerhalb eines schraubstockartigen Griffs, der ihr sofort die Luft abschnürte und ihr Herz einige Schläge aussetzen ließ. Und sie sah an Jimins und Jeongguks überrumpelten Blicken, dass es sich hierbei ganz sicher nicht um eine ihnen freundlich gesinnte Person handelte. Du bist am Arsch, schrie es laut in ihrem Kopf. Du bist sowas von am Arsch!
»Was für eine nette Überraschung«, säuselte ihr eine tiefe, leicht kratzige Stimme auf Koreanisch ins Ohr. »Da musste man ja gar nicht so lange suchen und am Ende versammelt sich die Hälfte der Mannschaft auch noch in einer Sackgasse für uns. Wie überaus zuvorkommend.«
Juniper konnte nicht sehen, wer der Kerl war, der sie festhielt. Auch nicht jene, die sich durch ihre Schritte im Hintergrund und durch das Klicken von entsichernden Waffen bemerkbar machten. Doch was sie sehen konnte, war Jimins Gesicht...und der Ausdruck, der dieses schmückte, zeugte von etwas so viel Tieferem. Gefühlen, die schon lange nichts mehr mit purem Schock über den plötzlichen Angriff zu tun hatten.
»Was ist los, Jimin?«, sprach der Fremde weiter, während er seine Hand immer noch auf Junipers Mund presste. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
Jeongguks Blick schnellte zu dem rothaarigen Kkangpae neben sich. Die Tatsache, dass sein Name den Männern bekannt war, schien ihn zu verunsichern. Jimin erwiderte ihn nicht, sondern starrte weiter dahin, wo Juniper das Gesicht des Kerls hinter sich vermutete. Und dann, ganz langsam, begann er zu sprechen. Mit geschürzten Lippen und einer neugewonnenen Kälte in den Augen, die ihr das Blut in den Adern gefrieren und einen furchtbaren Verdacht in ihr aufkeimen ließ.
»Denkbar schlechtester Zeitpunkt, Jackson.«
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𝖆𝖚𝖙𝖍𝖔𝖗'𝖘 𝖓𝖔𝖙𝖊
Eigentlich hatte ich echt nicht vor, dieses Kapitel hochzuladen, bevor nicht zumindest Kapitel 9 beendet ist, aber ja. Here I am, lol. Ich hab mich dafür entschieden, um der lieben Blumenladen eine Freude zu machen. Wish you all the best ♡
Ich möchte mich hier trotzdem nochmal entschuldigen, dass RENEGADES so langsam vorangeht. Ich möchte mir hierbei einfach wirklich Zeit lassen, dass es gut durchdacht und detailreich wird und deswegen ist es einfach nun eher ein Langzeitprojekt mit sehr langsamen Updates. Dazu kommt, dass fires in november mich gerade etwas vereinnahmt hat und ich schreibe natürlich eher das, was ich in dem Moment am meisten fühle. Habt aber keine Angst. Das Korrekturlesen von diesem Kapitel hat mich positiv getriggert XD
Ich hoffe, euch allen geht's gut und euch hat das Update gefallen ♡ Was glaubt ihr hat Jacksons Auftritt zu bedeuten? Wer glaubt ihr, ist er?
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