Kapitel 6

Normalerweise konnte ich Dienstage nicht ausstehen. Das letzte bisschen Erholung hatte man meist bereits komplett für den Montag aufgebraucht und bis zum Wochenende war es noch ewig hin. Als wäre das nicht schon genug, begann seit diesem Schuljahr jeder Dienstag mit neunzig Minuten drögstem Geschichtsunterricht bei Mr. Paderby, gefolgt von einem weiteren Block Französisch.

An diesem Dienstag machte mir das jedoch erstaunlich wenig aus. Als ich meinen Blick zum Fenster des U-Bahn-Waggons schweifen ließ, hinter dem dunkle Tunnelwände vorbeizischten, ertappte ich mein Spiegelbild sogar bei einem Lächeln.

Seltsam, wie viel ein paar Worte von jemand eigentlich Wildfremden bewirken konnten. Wenn die meisten Leute nichts mit dir zu tun haben wollen, dann ist das ihr Pech und nicht deine Schuld, hatte sassy-danny in seiner Mail gestern Abend noch geschrieben. Als ich das heute früh gelesen hatte, hatte mein Herz angefangen zu hüpfen wie auf einem Trampolin.

So traurig es auch war: so etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt, nicht mal meine Mum. Und dann war da sassy-danny, ein witziger, vorlauter und vor allem super beliebter Typ – und fand ausgerechnet mich interessant. Abgefahren.

Noch ein letztes Mal überflog ich die Mail, dann hielt die Tube mit einem letzten Ruck endgültig an und ich trat hinaus auf den Bahnsteig. Sollte der Dienstag doch kommen, ich war gewappnet.


Ich hatte auch noch gute Laune, als Mr. Paderby uns nach zwei mehr als überzogenen Stunden voller Zahlen und Fakten über die Rosenkrieg zwischen den Häusern York und Lancaster endlich in den Rest der Pause entließ. Selbst die Tatsache, dass er mich die ganze Zeit Henry genannt hatte, konnte das aufgeregte Kribbeln in meinem Magen nicht ersticken.

Während sich meine Klassenkameraden lärmend durch die Tür des stickigen Klassenzimmers drängelten und plappernd und lachend in den Gang schoben, packte ich in aller Ruhe meine Bücher zusammen. Ich hatte nur wenig Lust darauf, mit mehr als dreißig Sechszehn- bis Siebzehnjährigen so viel Körperkontakt zu haben wie in der U-Bahn von Tokyo.

Ein paar Minuten später war der Gang frei und ich auf dem Weg in den dritten Stock. Mit mehr Schwung als sonst riss ich die mir so bekannte, schon etwas verschrammte Tür auf, von der die dunkelgrüne Farbe bereits abzublättern begann. Überrascht hielt ich inne.

Zayn war wieder da. Anstatt wie immer gegenüber den Waschbecken auf dem Boden zu sitzen, hockte er auf der schmalen Fensterbank und starrte hinunter auf das hektische Gewusel unten auf dem Hof.

Für einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke, dann entschied er wohl, dass ich keine Gefahr für ihn darstellte, und drehte sich wieder zum Fenster um.

Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir. Zayn war zwar älter als ich, aber mit seinen scheuen Rehaugen und der oft zusammengekauerten Haltung hatte ich eher das Gefühl, ein misstrauisches Wildtier vor mir zu haben, das gegen seinen Willen in die Welt der Menschen geschleppt worden war.

Schaudernd ließ ich mich an dem hohen Heizkörper zwischen Fenster und Waschbecken herab gleiten, bis ich auf dem Boden saß und meine Füße unterschlagen konnte. Während Zayn schräg über mir mit gleichmäßigen Strichen seinen Bleistift über das Papier kratzen ließ, rief ich sassy-dannys Blog auf.

Offenbar war der Tag für den Armen bisher eher eine Abfolge von kleinen bis mittelgroßen Katastrophen gewesen. Der Post war erst eine halbe Stunde online, hatte aber trotzdem bereits über hundert Kommentare. sassy-danny war echt populär. Dass er ausgerechnet mit mir schrieb, dem unsichtbaren Jungen, der seine Pausen allein auf dem Klo verbrachte, konnte ich immer noch kaum glauben.

Aber seine letzte Mail bewies es ganz eindeutig. Auf die ich noch gar nicht geantwortet hatte, wie mir mit einem kleinen Schreck auffiel. Nicht, dass ich sassy-danny so einschätzte - aber das Risiko, dass er das Interesse verlor, weil ich zu lange mit meiner Antwort gewartet hatte, wollte nun wirklich nicht eingehen.


Französisch war wie erwartet eine einzige Quälerei. Mrs Winterbottom hatte für mich nur ratlose Blicke übrig, wenn ich mich wieder einmal im Grammatiknetz von Imparfait, Passé composé, Passé simple und Plus-que-Parfait verhedderte.

Niall hingegen war und blieb ihr absoluter Liebling, auch wenn seine einzige Leistung in dieser Stunde darin bestanden hatte, ein alles andere als flüssiges "Je ne sais pas" hinzustottern. Aber auch bei dem Rest meiner Mitschüler hatte er sich auf der Beliebtheitsskala schnell ganz nach oben katapultiert.

"Niall, Alter. Bock, neben mir zu sitzen?", rief Oscar quer durch das Durcheinander, das entstanden war, als Mrs Winterbottom die Stunde beendet hatte. Mit gesenktem Kopf konzentrierte ich mich weiter darauf, meine Mitschriften einzuheften, und versuchte das ungute Grummeln zu ignorieren, das sich in meinem Bauch ausbreitete.

Dann würde Niall mich eben alleine lassen für einen Typen, der in einem Quizduell gegen eine Wüstenrennmaus ernsthaft überfordert gewesen wäre. Na und? Mittlerweile sollte ich mich doch damit abgefunden haben, für die meisten Menschen nur eine Notlösung zu sein, die sie fallen lassen konnten, sobald sich etwas Besseres ergab.

Und der einzige Mensch, der mich interessant fand, war ein komplett Unbekannter aus dem Internet, der mich nicht mal kannte. Super. Ich schluckte meine Enttäuschung herunter und wandte mich gerade zum Gehen, als eine Hand auf meine Schulter schlug.

"Sorry, Kumpel, aber ich bleib lieber neben Harry hier, okay?" Niall warf seinen Arm um meine Schulter und sah Oscar entschuldigend an.

Erstaunt blickte ich hoch. Niall hatte sich für mich entschieden? Gegen Oscar und für mich? Es ging zwar nur um etwas so Banales wie einen Sitzplatz und vermutlich hatte Nialls Entscheidung auch einiges damit zu tun, wie gut er von mir abgucken und so an gute Noten kommen konnte.

Aber trotzdem. Er hatte sich entscheiden können und seine Wahl war auf mich gefallen. Vielleicht war ich ja tatsächlich interessant und sympatisch. Vielleicht hatte sassy-danny ja Recht gehabt.


"Alter, ich hab ja mal so was von Hunger", stöhnte Niall, als wir nebeneinander in der Schlange vor der Essensausgabe standen. Eigentlich hatte ich in der Pause noch kurz in der Bibliothek vorbeischauen wollen, um ein Buch für mein Englisch-Referat auszuleihen. Aber Niall hatte mich einfach überrumpelt und mit in die Cafeteria gezogen.

"Was dauert das denn da vorne so lange?" Frustriert reckte der Blondschopf den Kopf und versuchte zum Anfang der Schlange zu spähen. Als er auch auf Zehenspitzen nicht am Typen vor uns vorbeischauen konnte, begann er doch tatsächlich auf und ab zu hüpfen.

"Nur noch drei Leute", stellte ich fest, ohne mich zu bewegen.

Beleidigt sah Niall mich an. "Es ist echt nicht fair, wie verdammt groß du bist. Hast du vielleicht eine Giraffe im Stammbaum?"

Verlegen zuckte ich mit den Schultern. Was sollte ich dazu schon sagen?

"Hey!" Niall stieß mich an. "Das war ein Witz. Und außerdem, hast du mich mal gesehen? Ich bin zur Hälfte Kobold. Komm schon, wir sind dran."

Nachdem wir unser Essen bekommen hatten, folgte ich Niall unelegant wie eine Kegelrobbe an Land durch den gut gefüllten, nach Frittierfett und Erbsensuppe riechenden Raum. Niall hingegen schlängelte sich wie ein Fisch durch das Meer an Tischen und Stühlen und steuerte auf zwei braunhaarige Typen zu, die sich im hinteren Teil der Mensa gegenüber saßen.

"Wie ich gehört habe, kennst du Liam und Louis schon?", fragte Niall und ließ sich neben den Jungen mit den blauen Augen fallen.

Ich nickte und setzte mich ebenfalls.

"Hey, Harry, wie gehts so?" Liam sah mich aufmerksam und ernsthaft interessiert an, während Louis nur kurz hochblickte und mir zunickte, um dann gleich wieder wild auf seinem Handy herumzutippen.

Ich zuckte mit den Schultern. "Mrs. Winterbottom hält mich für einen hoffnungslosen Fall und Mr. Paderby denkt, ich heiße Henry, aber sonst ist alles okay. Und bei dir so?"

Liam verzog mitfühlend das Gesicht. "Mach dir nichts draus, Mr. Paderby kann sich einfach keine Namen merken."

"Oder er hat einfach kein Bock drauf", warf Louis ein, ohne seine Finger für mehr als eine Sekunde vom Handydisplay zu lösen.

"Du hast leicht reden, dich nennt er ja auch nicht Lima, als wärst du eine Stadt in Ohio." Liam verdrehte die Augen. "Wie auch immer. Wie ist es so mit unserem Chaoten hier als Sitznachbar? Schreibt er eigentlich immer noch in Mathe ab?"

"Hey", protestierte Niall beleidigt und mit vollem Mund, "ich schreib überhaupt nicht ab."

Louis drehte sich zu Niall und zog nur wortlos die Augenbrauen hoch.

"Okay okay", gab Niall nach ein paar Sekunden nach und hob kapitulierend seine Hände. "Vielleicht lass ich mich ein bisschen inspirieren von anderen Lösungen. Zufrieden?"

Ich musste grinsen. "Ich glaube, die Lehrer sehen das ein bisschen anders, meinst du nicht?"

"Verräter", schmollte Niall. "Immer sind alle gegen mich. Ihr seid so unfair, wisst ihr das eigentlich?"

Für eine Sekunde flackerte Louis' Blick hoch und ich konnte die Belustigung in seinen Augen funkeln sehen. Wie ein warmes Blubbern stieg ein Lachen in mir auf und ich konnte spüren, wie meine Mundwinkel anfingen zu zucken.

Louis grinste mich an und ich fing an zu kichern.

"Macht euch ruhig über mich lustig, ihr Blödis", schnaufe Niall empört und schob sich noch eine voll mit Nudeln beladene Gabel in den Mund. "Manchmal kann ich echt nicht glauben, dass ich mit euch befreundet bin."

"Weil wir die Einzigen sind, die es zulassen, dass du ihnen so auf die Nerven gehst", konterte Louis seelenruhig und begann erneut zu tippen. Was schrieb er da eigentlich die ganze Zeit? Einen Roman oder was?

Gespielt schockiert riss Niall die Augen auf und sah Liam hilfesuchend an. "Liam, Louis ist gemein zu mir. Mach was!"

Ein weiteres sehr tiefes Seufzen, dann schnippste Liam dem Wuschelkopf gegen die Nase.

"Liam!" Louis sah völlig schockiert aus. "Wofür war das denn jetzt?"

"Du weißt, dass du nicht immer so fies sein sollst. Nicht jeder hat so einen dicken Panzer aus Sarkasmus um sich herum." Die Enttäuschung in Liams Stimme machte sogar mir ein schlechtes Gewissen. "Und kannst du mal dein Handy weglegen? Ich hab dir nicht mein Ladekabel geliehen, nur um jetzt von dir ignoriert zu werden."

"Manchmal klingst du echt wie meine Mum", seufzte Louis, schob aber folgsam sein Smartphone zurück in seine Hosentasche.

"Na, na, junger Mann", Liam hob den Zeigefinger, "nicht so frech, ja?"

Niall prustete los und verteilte kleine Nudelstückchen auf dem Tisch.

"Das ist so widerlich, Niall", kicherte Louis und damit hatte er definitiv recht. Und trotzdem fühlte ich mich an diesem Tisch so wohl wie seit langem nicht mehr.

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