Kapitel 3
Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einem Basilisken in die Augen gesehen. Mein Blick klebte an der Wand der Toilettenkabine und ich spürte nur am Rande, wie mir meine Tasche von der Schulter rutschte und schließlich auf den Boden plumpste. Vorsichtig trat ich einen Schritt nach vorne und fuhr mit meinen Fingern die Buchstaben nach, die jemand unter meiner Kritzelei hinterlassen hatte.
Grew up 10 miles from the town of Ipswich
Das ... das war mit Abstand das Abgefahrenste, was mir bisher an der King James passiert war. Irgendjemand an dieser Schule wusste nicht nur wie ich von dieser Toilette, sondern kannte auch den Song, der mich zu meiner Idiotie bewogen hatte. Und dieser Jemand hatte die nächste Zeile des Liedes an der Wand hinterlassen. Einfach abgefahren.
Unschlüssig starrte ich die zwei Zeilen an. Eigentlich hatte ich ja meine Worte so schnell wie möglich wieder entfernen wollen, aber die fremde Handschrift darunter ließ mich innehalten.
Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte – die Aufregung überwog alles. Ohne meinen Blick länger als ein paar Sekunden von den Zeilen zu nehmen (als würden sie sonst verschwinden), holte ich den Edding aus meiner Tasche und begann zu schreiben.
Den Rest der Woche war ich wie elektrisiert und konnte mich kaum auf den Unterricht konzentrieren, während an der Kabinenwand unbemerkt vom Rest der Schule Zeile für Zeile ein kleines Kunstwerk enstand. Jedes Mal, wenn ich die Toilette betrat und die nächste Zeile las, die der unbekannte Jemand hinterlassen hatte, breitete sich wie von selbst ein kleines Lächeln auf meinem Gesicht aus. Dieses Grafitti (oder wie man es auch immer nennen wollte) war unser eigenes kleines Geheimnis und ich war Teil davon.
Aber fast noch mehr als die kribbelige Aufregung quälte mich die Frage, wer da eigentlich mit mir schrieb. Ich hatte sogar kurz darüber nachgedacht, Zayn zu fragen, ob er irgendjemanden außer mir in der Toilette gesehen hatte – auch wenn ich nicht glaubte, dass er tatsächlich mit mir reden würde. Aber da Zayn seit Mittwoch nicht mehr in der Schule erschien, hatte sich auch diese Option erledigt.
Also verbrachte ich meine Pausen nun komplett allein, mit Kopfhörern in den Ohren, und starrte abwechselnd auf die blaue Tinte, mit der der Unbekannte sich an der Wand verewigt hatte, ergänzte die nächsten Lyrics oder las in alten Posts von sassy-danny.
Ansonsten schien die Woche nur so an mir vorbeizufliegen, ich wurde mehrfach ermahnt, nicht träumend aus dem Fenster zu starren, und selbst Niall arbeitete mehr mit als ich.
Und dass, obwohl mein neuer Sitznachbar die Weisheit nun wirklich nicht mit Löffeln gegessen hatte. Im Englisch-Unterricht füllte sich sein Blatt in jeder Stunde mit irgendwelchem Blödsinn und in Mathe gab er sich nicht mal die Mühe zu verbergen, dass er die Aufgaben nicht selbst löste, sondern nur bei mir abschrieb.
Mir war das egal, Niall musste schließlich selbst wissen, wie er seine A-Levels bestehen wollte.
Am schlimmsten jedoch war Französisch. Mir selbst fiel diese Sprache ja auch nicht leicht, aber Nialls absolute Unkenntnis toppte alles. Es hätte mich sehr gewundert, wenn seine Kenntnis über bonjour, chroissant und baguette hinausgingen. Wie er damit ein gutes halbes Jahr in Frankreich überlebt hatte, war mir absolut schleierhaft.
Außerdem hingen in fast jeder Pause irgendwelche Schüler aus dem Abschlussjahrgang an unserem Tisch ab, was die Mädchen meiner Klasse zwar mehr als freute, mich aber nur umso schneller den Raum verlassen ließ.
Wenn ich dann kurz vor Beginn der nächsten Stunde in den neuen Raum kam, konnte ich darauf wetten, dass Niall noch nicht da war, sondern erst innerhalb der ersten fünf bis zehn Unterrichtsminuten hereingeschlendert kam. Trotzdem schien er dafür von niemandem außer Miss Jackson Ärger zu bekommen.
Ganz im Gegenteil. Ausgerechnet Mrs Winterbottom, die Französischlehrerin, hatte Niall direkt in seiner ersten Stunde ins Herz geschlossen, als er – natürlich auf Englisch – erzählt hatte, dass er mal in Paris gewesen war, und ließ ihn seitdem in Ruhe.
Es war zum Verrücktwerden. Was genau hatte Niall denn an sich, dass ihn alle mochten, obwohl er absolut nichts dafür getan hatte? Und warum wurde ich, der sich immer bemühte, nett und zuvorkommend zu allen zu sein, keines zweiten Blickes gewürdigt?
Als es am Freitagnachmittag nach Geschichte, meiner letzten Stunde für diese Woche, klingelte, atmete ich mehr als erleichtert auf. Endlich Wochenende! Auch wenn der Gedanke etwas schmerzte, dass diese Songzeilen-Sache erst am Montag weitergehen würde. Wenn überhaupt.
Trotzdem war ich heilfroh, das Schulgebäude für die nächsten zwei Tage hinter mir lassen zu können, verlies den Schulhof durch das große Metalltor und steuerte auf die nächste U-Bahnstation zu.
Während ich die Treppenstufen zum Bahnsteig hinunter- und auf Spotify „Fireflies" von Owl City lief, kam das Durcheinander meiner Gedanken zum ersten Mal in dieser Woche zur Ruhe. Ich summte leise die Melodie des Songs mit und merkte, wie die frische, kalte Luft langsam sämtliche Anspannungen der letzten Tage vertrieb.
Mein Handy gab ein Pling von sich und riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt zog ich mein Smartphone aus meiner Manteltasche und stoppte das aktuell laufende Lied, bevor mein Blick auf die Benachrichtigung fiel, die ich bekommen hatte.
Sassy-danny hat „Herzschmerz und Kunst (oder so)" gepostet.
Grinsend klickte ich auf den Link und deutlich schneller als in der Schule baute sich die Seite auf. Sassy-danny hatte eine Liste von Break-Up-Songs gepostet – und ein Bild.
Ich zuckte zusammen und fast wäre mir mein Handy aus der Hand gerutscht. Das – das war doch absolut unmöglich! Okay, vielleicht nicht komplett unmöglich, aber wie groß war denn bitte die Chance, dass sassy-danny, ein Blogger irgendwo aus dem Vereinigten Königreich, ausgerechnet auf meine Schule ging?
Ich tippte das Bild an, um es zu vergrößern. Nein, Irrtum ausgeschlossen. Das hier war eindeutig die gleiche Wand, die ich innerhalb der letzten Tage über ein Dutzend Mal beschrieben hatte – und das da ganz eindeutig meine Handschrift.
Heiliger Bimbam.
Ich bekam nur nebenbei mit, wie die U-Bahn einfuhr, und irgendwie schaffte ich es, einzusteigen, ohne gegen die Türen zu rennen oder ins Gleisbett zu fallen. Stattdessen starrte ich weiter auf das Bild auf meinem Handy-Display.
So richtig glauben konnte ich das Ganze immer noch nicht, als ich den Post überflog. Und noch mal lesen musste. Denn anscheinend ging sassy-danny nicht nur auf meine Schule und kannte meinen Geheimplatz, nein. Anscheinend war er niemand anderes als der unbekannte Typ, der dieses Graffitti mit mir zusammen erschaffen hatte. Abgefahren.
Was sollte ich denn jetzt machen?
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