Kapitel 2

Den ganzen Abend hindurch hatte ich ein schlechtes Gewissen. Fremdes Eigentum zu beschmieren war immer etwas gewesen, das andere gemacht hatten. Ich hatte nur den Kopf darüber geschüttelt.

Und jetzt prangte in meiner Handschrift eine Songzeile an der Wand der Schultoilette. Immerhin hätte ich auch etwas deutlich Niveauloseres hinterlassen können, so wie es viele Jungs an dieser Schule schon seit Jahren machten. (Wollte man wissen, welches Mädchen so am besten im Bett war, musste man sich nur mal die Krakeleien in einer Toilettenkabine durchlesen.) Aber trotzdem.

Als ich am nächsten Morgen den dunkelgrauen Altbau der King James School betrat, hatte ich schon solche Gewissensbisse entwickelt, dass ich fest entschlossen war, mein Gekritzel in der Pause unter allen Umständen von dieser Wand zu entfernen. Da ich Idiot natürlich gleich zum Edding gegriffen hatte, befand sich in meiner Schultasche neben so unfassbar wichtigen Dingen wie einem Geschichtsbuch, mehreren Blöcken und meinem Geodreieck auch eine kleine Flasche mit Spiritus.

Mit einem flauen Gefühl im Magen versuchte ich den Fakt zu ignorieren, dass ich der größte Tollpatsch auf Erden war. Hoffentlich würde ich die ersten zwei Stunden überstehen, ohne mich versehentlich selbst anzuzünden oder sonstwie aus Versehen Unheil anzurichten.

Immerhin hatte ich im ersten Block Englisch und kein Chemie, was zumindest die Chance verringerte, in die Flamme eines Bunsenbrenners zu stolpern und meine Locken ein zweites Mal auf drastische Weise zu kürzen. (Meine Mutter meinte damals nur, dass sie mich auch zum Friseur gefahren hätte, wenn ich eine neuen Haarschnitt gewollt hätte.)

Ich lief die Osttreppe hinauf in den ersten Stock, wo sich die Räume für sämtliche Sprachen befanden, die an der King James unterrichtet wurden. Dank einer ausgefallenen Tube war ich nicht mehr so früh dran wie sonst und das Klassenzimmer war bereits zur Hälfte mit Schülern gefüllt, die sich unterhielten, an ihren Handys hingen oder noch schnell die Physik-Hausaufgaben von ihren Nachbarn abschrieben.

Niemand nahm großartig Notiz von mir, als ich mich zwischen den Bankreihen hindurch schlängelte und an meinem Tisch in der letzten Reihe am Fenster Platz nahm. Um nicht unnötig aufzufallen als der Einzige, der allein in der Ecke saß, holte ich ebenfalls mein Handy hervor und rief den Blog von sassy-danny auf.

Er hatte tatsächlich schon wieder etwas gepostet. Ich tippte auf den neuen Artikel, von dem ich nur die Überschrift lesen konnte und wartete ungeduldig darauf, dass der Browser die Seite komplett lud. Das WLAN unserer Schule war vermutlich heillos überfordert von den Horden von Schülern, die vor der ersten Stunde alle noch Gute-Morgen-Wünsche verschicken oder ihre Kontakte über ihre superspannenden Träume informieren mussten oder was auch immer meine Klassenkameraden so fabrizierten.

Meine Finger trommelten auf der Tischplatte neben dem Smartphone-Display herum und ich ließ meinen Blick über den Schulhof unter mir schweifen. Neben dem allmorgendlichen Gewusel von Schülern, die mehr oder weniger motiviert auf den Eingang zuliefen, konnte ich einige Seniors entdecken, die den Minusgraden trotzend zusammenstanden und anscheinend auf etwas warteten.

Oder jemanden. Denn als eine ebenso mit Mantel, Schal und blauer Bommelmütze vermummte Gestalt auf einem Fahrrad um die Ecke bog, brach die gesamte Gruppe in lauten Jubel aus, den ich sogar im ersten Stock hören konnte. Auch einige der vorbeilaufenden Schüler warfen der Ansammlung befremdete Blicke zu. Komisch. Ich wandte den Blick ab.

Mein Handy hatte den Blogbeitrag immer noch nicht geladen, als Miss Jackson, unsere junge und mindestens genauso strenge Englischlehrerin, zur Tür herein kam. Seufzend ließ ich den Bildschirm schwarz werden und schob mein Samrtphone zurück in die Hosentasche. Dann musste sassy-dannys Post eben bis zur Pause warten.

Wir waren gerade mitten in den Vergleich von „Was ihr wollt" und „Viel Lärm um nichts" vertieft (Miss Jackson vergötterte Shakespeare geradezu), als es an der Tür klopfte. Unser stellvertretender Rektor kam in Begleitung eines blonden Jungen herein, tuschelte kurz mit Miss Jackson und war dann genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.

Miss Jackson räusperte sich, sichtlich unerfreut über die Störung und deutete auf den Jungen, den ich als Bommelmützenträger vom Schulhof wieder erkannte. „Das ist Niall Horan, er kommt gerade aus einem halbjährigen Auslandsaufenthalt in Frankreich zurück und wird den Rest dieses Schuljahres mit Ihnen wiederholen."

Niall lächelte fröhlich in die Runde, meine Klasse grinste zurück und vermutlich hatte er schon jetzt mehr Sympathiepunkte gesammelt als ich in den letzten fünf Monaten. Ich seufzte.

Mit einer knappen Handbewegung bedeutete Miss Jackson Niall, sich zu setzen, und wandte sich wieder der Tabelle an der Tafel zu, während der Blonde auf den einzigen freien Platz zusteuerte, der – wie sollte es auch anders sein – an meinem Tisch war.

Er ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen, zog einen Block aus seiner Tasche und nickte mir zu. „Hey."

Ich blickte kurz hoch und murmelte „Hi", bevor ich weiter Miss Jacksons Tabelle von der Tafel abschrieb.

„Wie heißt du?"

Perplex ließ ich meinen Stift sinken und sah ich Niall an. Wollte er sich gerade tatsächlich mit mir unterhalten?

„Harry", erwiderte ich schließlich leise, unsicher was ich von diesem Gespräch halten sollte. Dann wandte ich mich wieder der Tafel zu.

„Freut mich, Harry." Niall grinste weiterhin und schien sich vom Unterricht nicht im Geringsten stören zu lassen. Sein Block lag immer noch geschlossen vor ihm und er hatte noch nicht mal einen Stift, geschweige denn das Lehrbuch ausgepackt. Wie er so mitarbeiten wollte, war mir komplett unklar, aber das war Nialls Problem und nicht meins.

Niall beugte sich zu mir. „Sag mal, Harry", begann er, doch Miss Jackson unterbrach ihn unwirsch.

„Mister Horan, wenn Sie sich vielleicht am Untericht beteiligen möchten? Ich weiß, dass Sie diese Klasse wiederholen, aber wenn Sie sich nicht ein bisschen ins Zeug legen, wird Ihre französische Gastschule nicht die einzige sein, die Sie frühzeitig verlassen müssen."

Damit war unser Gespräch beendet.

Als die Doppelstunde Englisch zuende war, hatte Niall zumindest eine halbe Seite Notizen vorzuweisen, auch wenn einiges davon kompletter Unsinn war, wie ich hatte lesen können. Zumindest wüsste ich nicht, was lalalalalalalalala oder eine Reihe Smileys mit Shakespeare zu tun haben könnten.

Niall hatte noch nicht mal seinen Block eingepackt, da stürmten bereits mehrere Senior-Schüler (vermutlich Nialls ehemalige Klassenkameraden) in den Raum und sammelten sich um unseren Tisch. Ein Junge mit braunen Haaren schwang ohne mich zu fragen seinen Hintern auf meine Seite des Tisches und hätte beinahe mein Buch zu Boden gefegt, hätte ich es nicht rechtzeitig weggezogen.

„Und wie ist es so mit den ganzen nervigen kleinen Kiddies, Niall?", fragte er mit einem frechen Funkeln in den blauen Augen und beinahe hätte ich über Nialls verzweifelten Gesichtsausdruck gelacht. Wenn ich nicht eins von besagten „kleinen nervigen Kiddies" gewesen wäre.

Also zog ich nur meine Tasche unter dem Tisch hervor und schob mich mit gesenktem Kopf durch die kleine Gruppe. Draußen auf dem Gang atmete ich leise auf und lief dann wie jeden Tag ins oberste Stockwerk.

Wie jeden Tag saß Zayn bereits auf dem Boden des Waschraums und kritzelte in seinem Heft herum, heute mit dem Rücken an die Heizung unter dem Fenster gelehnt. Als ich hereinkam, blickte er kurz erschrocken hoch. Als er mich erkannte, entspannte er sich wieder und wandte er sich wieder seiner Zeichnung zu.

Ich bog in „meine" Kabine ab, fest entschlossen, meine Krakelei für immer von sonst unbeschmierten Wänden zu entfernen. Und erstarrte.

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