Sturz

Hier standen sie nun. Drei von ihnen waren fort, fünf verblieben. Lennox befand sich auf einer Brücke und lauschte den Sirenen der Polizei. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie euer Lager finden. John hatte recht behalten. Ryan, Luna, Luke, Noah und Lennox hatten fliehen und das Lager hinter sich lassen müssen. Kurz nachdem Mark, Enya und Kai zusammen mit John und Christina gegangen waren, hatten sie die ersten Laute der suchenden Polizisten auf dem Pfad vernommen.

Jetzt waren sie hier, ohne Plan, wo sie nun hin sollten. Sie vermissten den Rest ihrer Gruppe. Doch ihnen allen war auch bewusst, dass es so am besten für Kai und die Geschwister war. Sie hatten die Chance, glücklich und sorgenlos bei einer liebenden Familie zu leben. Und keiner ihrer Freunde würde ihnen diese Möglichkeit verwehren, auch wenn es schmerzte.

„Wir müssen die Stadt verlassen, hier suchen zu viele Menschen nach uns.", sagte Ryan.

Es schien, als hätte er seine Gefühle wieder zurückgestellt, um sie in Sicherheit zu bringen. Lennox stimmte ihm zu. Blieben sie hier, würde man sie früher oder später fassen.

„Wie kommen wir hier weg?", fragte Luke, während sie eine enge Gasse entlangschlichen, in der sich zum Glück nur wenige Menschen befanden.

„Wir müssen zum Bahnhof, vielleicht schaffen wir es, uns in einen Zug zu schmuggeln.", antwortete Noah.

„Das ist unsere einzige Möglichkeit.", fügte Lennox ernst hinzu und Luna nickte entschlossen.

„Mir nach!", flüsterte sie und joggte los.

Lennox und die anderen folgten ihr durch die Straßen der Stadt. Sie befanden sich in einem eher kleineren Ortsteil, was ihnen den Vorteil verschaffte, dass es viele kleine Gassen und dunkle Winkel gab, in denen sie sich verstecken konnten.

Ihre Flucht wurde begleiten vom Heulen der Sirenen und den Rufen ihrer Jäger. Höchstwahrscheinlich hatte die Polizei auch das Jugendamt benachrichtigt. Das Jugendamt...ganz anders als in seiner alten Heimat, wollte das Jugendamt hier Kindern nicht uneigennützig helfen, sondern missbrauchte seine Macht um die für die Beamten angenehmste Ordnung in dieser Stadt zu schaffen. Sie wurden durch Hass geleitet, auch wenn er nicht wusste, woher er stammte.

Luna stoppte, als ein Polizist vor ihnen in der Straße auftauchte.

„Hier sind sie!", rief er und kam auf sie zu.

Ryan stellte sich vor ihre Gruppe und hob die Fäuste. Er war zwar noch verletzt, aber der Junge mit den Obsidianaugen würde alles tun, um seine Freunde zu beschützen. Doch es wurden schon zu viele Kämpfe ausgetragen, weshalb Lennox in diesem Fall auf eine Auseinandersetzung verzichten wollte, damit sich seine Freunde nicht noch mehr schwächten.

Allerdings schien ihr Anführer da andere Pläne zu haben, denn er sprang auf den Mann vor ihnen zu, vollführte eine geschickte Drehung und nahm ihm mit einem präzise platzierten Schlag das Bewusstsein.

„Musste das sein?", zischte Luna und funkelte Ryan wütend an.

Der zuckte mit den Schultern, bevor er sich umsah und schließlich weiterlief. Sie kamen an steinernen Gebäuden vorbei, geschmückt mit grünen Ranken und altertümlichen Verzierungen. Die meisten Menschen, die an ihnen vorbeikamen, warfen ihnen zwar merkwürdige Blicke zu, versuchten jedoch nicht, die Gruppe aufzuhalten.

Lennox spürte eine seltsame Leere in sich, seit Kai und die Geschwister gegangen waren. Sein einziger Trost war der Gedanke, dass sie nun ihr Glück finden konnten. Momentan sorgte er sich allerdings mehr um ihre überstürzte Flucht.

Es wurde immer schwieriger, den umherstreifenden Polizisten auszuweichen und die Straßenbande rannte immer schneller. Wie sollten sie bloß aus dieser Stadt kommen?

Beinahe schien es, als sei ihr Schicksal bereits besiegelt. Wie sollten die Fünf entkommen, nachdem sie alle mit den Gedanken bei ihren Freunden waren und ein dunkler Schatten über ihnen lag?

Sie könnten es sich leicht machen. Man würde sie nicht einsperren und für das Stehlen verurteilen, schließlich waren sie noch Kinder, doch die Polizei und das Jugendamt würden sie Trennen und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ihren Familien zurückbringen, vorausgesetzt sie hatten welche. Allerdings gab es gute Gründe, weswegen sie alle auf der Straße lebten. Ryans Familie war eine kriminelle Untergrundorganisation, würde noch einer von ihnen auf freiem Fuß sein und die Polizei würde Ryan zu diesem bringen, würde das einem Freifahrtschein in die Hölle gleichkommen. Lennox würde auf keinen Fall zu seinem Alkoholiker-Vater zurückkehren, wo er doch grade erst entflohen war. Und auch wenn er die Geschichten der anderen noch nicht ganz kannte, so war ihm dennoch klar, dass sie ähnliche Probleme hatten.

Irgendwann erreichten sie den Marktplatz. Sofort schossen Erinnerungen in Lennox hoch und er musterte reflexartig die anderen. Ryan blutete noch immer an den Händen und aus einigen Schürfwunden. Die anderen zeigten teils ebenfalls Rückstände des vergangenen Kampfes. Die Hoffnung schwand immer weiter aus Lennox Körper, je mehr Sirenen und Rufe er hörte, insbesondere da diese viel zu nah klangen.

Diese Stadt bedeutete ihren Untergang. Also gab es keinen anderen Weg, als sie hinter sich zu lassen.

Lennox erinnerte sich, dass er bei seiner Ankunft an einem Bahnhof vorbeigekommen war. Würden sie es bis dahin schaffen, hätten sie vielleicht die Chance auf einen Neuanfang an einem anderen Ort.

„Wenn wir es zum Bahnhof schaffen, können wir uns in einen Zug schmuggeln und entkommen.", sprach er seinen Gedanken aus.

„Wir werden nicht weit kommen, aber alles ist besser, als hierzubleiben", sagte Ryan kritisch.

Lennox, Ryan, Luna, Luke und Noah schlugen eine neue Richtung ein. Scheinbar kannten sie den Weg, denn sie rannten zielsicher zwischen den Häuser entlang. Einige Menschen riefen ihnen wütende Kommentare hinterher, als die Straßenkinder sie auf ihrer Flucht grob beiseite stießen. Aufhalten konnte sie jedoch keiner der Einwohner.

Lennox wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war, als sie an einem großen Gebäude ankamen, das einer Lagerhalle glich, allerdings Bestandteil des Bahnhofs war. Ryan stieß die Glastür auf und stürmte ins Innere. Gemeinsam drangen sie in die Tiefen des Gebäudes ein, bis der Anführer der Bande plötzlich anhielt.

„Hier stimmt irgendetwas nicht!", sagte er und blickte angespannt umher.

„Wartet mal, wieso ist hier niemand?", sprach Noah aus, was auch Lennox stutzen ließ.

„Scheiße!", zischte Ryan und joggte weiter.

Er rüttelte an einigen Türen, die allesamt verschlossen waren, während Lennox die Halle musterte. In der Mitte befanden sich ein Gang, welcher mit diversen Ortsnamen ausgeschildert war und höchstwahrscheinlich zu den Gleisen führte. Flankiert wurde er von zwei halbkreisförmigen Tischen, welche wohl als Informationsschalter dienten. Der Rest der Halle bestand den vielen Türen nach aus verschiedenen Räumen.

Ryan betrachtete jede Ecke des gewaltigen Raumes, allerdings hatten die anderen keine Ahnung, wonach der Blonde suchte. Noah folgte ihm und auch Lennox, Luna und Luke schlossen zu ihrem Prinz der Unterwelt auf.

Der Junge mit den Obsidianaugen fand eine offene Tür und bedeutete den anderen, sich nicht zu bewegen. Mit erhobenen Fäusten betrat Ryan den Raum und gab ihnen mit einem Nicken Entwarnung. Lennox wusste noch immer nicht, wonach sein Freund suchte und was für ihn momentan eine Gefahr darstellte, doch die Polizei und das Jugendamt schienen es nicht zu sein. Lennox konnte sich nicht vorstellen, dass sie einen Bahnhof räumen würden, weil sie vorausgesehen hatten, dass er und seine Freunde hierher fliehen würden. Nein, das glaubte er nicht. Vielleicht handelte es sich bloß um Zufall, allerdings hielt er diesen Gedanken für eine Wunschvorstellung.

Lennox und die anderen betraten den Raum und stellten fest, dass es sich um den Eingang eines Treppenhauses handelte.

Ein Blickaustausch reichte und sie stiegen die Treppen hinauf. Natürlich hätten sie auch zu den Gleisen gehen können, doch wenn sich niemand im Gebäude befand, welches ansonsten immer ziemlich voll war, war auch anzunehmen, dass keine Züge von der Stadt aus fuhren.

Oben angelangt, fanden sie sich in einer Art Bürogebäude wieder.

„Passt auf! Das hier ist bestimmt kein Zufall. Wer auch immer hierfür verantwortlich ist, die Polizei ist es meiner Meinung nach nicht.", ermahnte Lennox seine Freunde und ging wie Ryan in Kampfstellung.

Es war vollkommen ruhig bis auf ihre Schritte. Auch wenn sie versuchten, sich möglichst lautlos zu bewegen, waren Lennox und Ryan die einzigen, denen es wirklich gelang.

Zumindest bis ein schriller Schrei die Stille durchbrach.

Lennox fuhr herum. Was er sah ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Luna war diejenige, die geschrien hatte. Sie war genauso geschockt wie Lennox, über die Szenerie, die sich vor ihnen eröffnete. Jemand schnitt ihnen den Weg an. Und diese Person hielt eine Pistole an Lukes Kopf.

„Wer bist du? Lass ihn sofort los!", knurrte Lennox bedrohlich, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

„Das wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, du lässt mich ewig hier warten, du dreckiger Verräter!", sagte der Mann vor ihnen bedrohlich.

Er hatte schwarze Haare, einen kurzen Bart und besaß viel Muskelmasse.

Lennox drehte den Kopf, zu der Person, an die die Worte gerichtet waren. Ryan stand da wie ein brennender Phönix. Seine Augen sprühten Funken, seine Miene sprach von tiefem Hass und sein Körper bebte vor Anspannung.

„Das ist unmöglich!", stieß er hervor und starrte den Mann ungläubig an.

„Ryan, wer ist das?", fragte Lennox leise.

„Mein Name ist Dorchadas. Und ihr tut jetzt besser genau das, was ich verlange, wenn euch etwas am Leben eures Freundes liegt!", sagte der Mann kalt und entsicherte die Waffe demonstrativ.

„Lass die Finger von ihm, du mieser Dreckskerl!", knurrte Ryan düster und machte einen Schritt auf Dorchadas zu.

Seine Finger zuckten, als würde er darüber nachdenken, den Mann trotz der auf Luke gerichteten Waffe anzugreifen.

„Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet. Die Zeit vergeht im Gefängnis nicht grade schnell. Aber du kennst mich ja, ich lasse mich nicht einfach besiegen. Deren Fehler, wenn sie mich unterschätzen.", berichtete der Mann und seufzte gespielt auf.

Ryan trat noch näher an ihn heran, sodass er bloß noch einen Meter von ihm und Luke entfernt war. Im nächsten Moment richtete der Fremde die Waffe auf ihn, so schnell, dass Ryan keine Chance hatte, zu reagieren. Luke sprang daraufhin schnell von ihm weg und taumelte rückwärts zu seiner Schwester.

„Umdrehen und Hände hoch, Ryan! Und ich werde mich nicht wiederholen!", befahl Dorchadas und bleckte die Zähne.

Jeder von ihnen verstand den Ernst der Situation. Es ging nicht mehr länger nur um ihre Freiheit, sondern um Leben oder Tod.

„Ryan!", zischte Noah, als der Anführer der Straßenbande keine Anstalten machte, sich zu bewegen.

Erst nach einem Blick zu Noah, der vollkommen verzweifelt aussah, drehte er dem Mann seinen Rücken zu und hob die Hände.

„Sehr schön. Du da! Leg ihm die hier an! Und schön fest! Ich bin nicht so dumm, mich dir zu nähern, mein Sohn!", sagte Dorchadas und richtete den ersten Teil an Lennox.

Da fiel es allen wie Schuppen von den Augen. Vor ihnen stand Ryans Adoptivvater, der Anführer einer gewaltigen Gruppe Krimineller. Ein Mann, der eigentlich hinter Gittern sitzen sollte.

„Ich bin nicht dein Sohn, du scheiß Bastard!", fauchte Ryan erzürnt.

„Hüte deine Zunge! Du wirst für deinen Verrat bezahlen!"

Damit warf er Lennox ein Paar Handschellen zu, der sie gekonnt mit einer Hand auffing. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er wusste nicht, wie sie aus dieser Situation entkommen konnten.

„Wird's bald?", grölte der Mann und feuerte einen Warnschuss ab, der zwischen Ryans Füßen in den Holzboden eindrang.

„Lennox, er wird mich nicht erschießen.", sagte Ryan, der nichtmal mit der Wimper gezuckt hatte.

Das ließ Lennox seinem inneren Drang zum Kampf nachgeben und er sprang den Mann an. Er packte die Hand mit der Waffe und drückte sie nach unten. Die anderen griffen ebenfalls an. Ryan, der wieder in den Modus der Höllenbestie gewechselt hatte, rammte Dorchadas seine Faust ins Gesicht. Zu fünft konnten sie den Mann entwaffnen, doch als sie ihn auf den Boden drückten und Ryan ihn von hinten würgte, stürmten ein Dutzend weitere Männer in den Raum, die allesamt maskiert waren und Waffen bei sich trugen.

Nie zuvor hatte Lennox sich in einer so gefährlichen Situation befunden. Deshalb überraschte ihn seine eiserne Entschlossenheit selbst. Allerdings bröckelte sie, als die Angreifer ihre Pistolen auf sie richteten.

„Lasst von Boss ab, oder es gibt ein Blutbad!", befahl einer der Männer laut und die Straßenkinder zogen sich von Dorchadas zurück.

Ryan ließ seinen Vater langsam los und wich zurück. Die Gegner hatten sie umzingelt und niemand war im Gebäude, der ihnen helfen konnte. Die Situation schien aussichtslos zu sein. Die Handschellen hatte Lennox während des Kampfes fallengelassen, hob sie jedoch wieder auf, als Dorchadas mit dem Kopf darauf wies. Ryan knurrte. Dann trat er einem der Angreifer die Beine weg und nahm ihm mit einem Schlag auf den Hinterkopf das Bewusstsein. Die Reaktion folgte sofort. Noah wurde von zwei Männern gepackt und Luke und Luna wurden ebenfalls festgehalten. Noah brüllte wütend und Luna schrie, als ihnen Waffen an den Kopf gehalten wurde.

„Wenn du nicht willst, dass sie sterben, solltest du davon absehen, meine Leute anzugreifen! Junge, wird's bald?", fauchte Dorchadas, der mittlerweile ebenfalls wieder mit einer Pistole ausgerüstet war und Lennox mit einer Handbewegung zu verstehen gab, was er tun sollte.

Alles in ihm sperrte sich bei dem Gedanken, seinen Freund fesseln zu müssen und den Fremden zu überlassen. Ihn seiner Familie zu überlassen, die er verraten hatte und die ihn dafür hassten. Wer weiß, was sie danach mit ihm anstellen würden?

Dorchadas schritt zu Noah und boxte ihm in den Magen, sodass der Schwarzhaarige würgte. Er holte erneut aus und verpasste ihm einen weiteren Schlag, der diesmal seine Wange traf.

„Ninja. Schon okay, tu es!", flüsterte Ryan mit einem flehenden Unterton.

Nichts missfiel dem Jungen mehr, als seine Freunde leiden zu sehen. Lennox schluckte und suchte nach einem anderen Ausweg, doch als er keinen fand, trat er zu Ryan, der die Hände auf dem Rücken verschränkte.

„So darf es nicht enden!", wisperte Lennox und schloss den ersten Metallring.

„Fester!", mahnte Dorchadas, als er Lennox letzten Versuch durchschaute, doch noch eine Lösung zu finden.

Hätte Ryan sich irgendwie befreien können, hätten sie noch eine Chance gehabt. Aber als Lennox den Ring fester schloss, und den zweiten ebenfalls zuschnappen ließ, waren die Fesseln so eng, dass sie bereits bei dem kleinsten Ruck ins Fleisch schnitten. Daraus würde selbst der Anführer der Straßenbande sich nicht befreien können.

„Schon gut, Lennox. Es ist nicht deine Schuld.", flüsterte Ryan so leise, dass nur er es hören konnte.

Tränen liefen Lennox über die Wangen. Ryan war der einzige von ihnen, der die Fassung wahren konnte.

„Sehr schön, jetzt weg von ihm!", ordnete Dorchadas an und richtete seine Waffe wieder auf Ryan, der - obwohl er gefesselt war - stolz und kriegerisch vor dem Mann stand.

Ein lauter Knall ertönte. Erst als Ryan mit schmerzerfüllem Gesicht auf die Knie sank, begriff Lennox, dass es ein Schuss war.

„Der nächste wird kein Streifschuss! Also denk besser daran, wo dein Platz ist!", rief Dorchadas und blickte gehässig auf seinen Adoptivsohn herab.

Steh auf! Wehr dich! Kämpfe! Lennox' Herz wollte Ryan anschreien, aber sein Verstand erkannte, dass der Prinz der Unterwelt wegen seinen Freunden ruhig blieb. Ryan würde seine Kameraden niemals im Stich lassen.

„Wir nehmen meinen Sohn mit. Das Mädchen und den anderen könnt ihr gehen lassen, die beiden Schwarzhaarigen sperrt ihr hier ein. Dann brennt ihr das gesamte Gebäude nieder!", sagte Dorchadas zu seinen Leuten und Lennox schrie wütend auf, während Ryan zeitgleich zornig brüllte.

Der Gefesselte wollte aufspringen, doch Dorchadas schlug Ryan die Pistole gegen die Schläfe, woraufhin dieser benommen wieder zu Boden sackte. Allerdings hatte er sein Bewusstsein dabei nicht verloren.

„Das wagst du nicht!", stieß er hervor, doch der Mann widersprach ihm:

„Oh doch. Ich weiß, dass sie dir alle viel bedeuten. Du solltest dankbar sein, dass nur diejenigen, die für dich am meisten wie Brüder sind, qualvoll verbrennen müssen und die Geschwister oder was auch immer die anderen sind gehen dürfen. Und denk schön daran, dass du allein die Schuld daran trägst, dass es soweit kommen musste, mein verräterischer Sohn!"

Das sollte also ihr Schicksal sein? Nein! Das würde Lennox nicht akzeptieren. In diesem Moment verfluchte er, dass seine Freunde ihm immer wieder verzweifelte Blicke zuwarfen. Jetzt wäre es vorteilhaft, übersehen zu werden. Alle von ihnen vergessen zu lassen, würde ebenfalls nicht funktionieren, dafür waren es zu viele. Außerdem hielten ihn mittlerweile drei Männer fest, die ihm gerade die Hände vor seinem Körper mit Kabelbinder zusammenbanden. Egal wie sehr er sich auch wehrte, er konnte es nicht verhindern. Noah ging es genauso.

„Nein! Bitte! Ich flehe dich an, lass sie in Ruhe!", schrie Ryan, der sich inzwischen wieder auf die Knie gekämpft hatte.

Aber Dorchadas lachte bloß und trat nach seinem Sohn.

Jetzt konnte auch dieser seine Verzweiflung nicht mehr verbergen. Lennox spürte förmlich, wie Ryan seine Kraft sammelte. Was hatte er vor, wenn er jemanden angreifen würde, würden sofort Schüsse fallen?

Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, vollführte Ryan eine Rückwärtsrolle und stand wieder auf seinen Füßen. Dann ging er auf die Männer los, die Lennox festhielten. Es war nahezu absurd, grade diese Leute anzugreifen. Hatte Ryan etwa einen Plan?

Der Blonde wurde brutal von den Männern weggerissen, doch vorher ließ er irgendetwas in Lennox' Hosentasche fallen.

Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als Ryan wieder auf dem harten Holzboden landete.

Luna und Luke wurden aus dem Raum geführt und Lennox hoffte, dass man sie wirklich laufen ließ.

„Lennox! Noah!", begann Ryan leise zu sprechen. „Ihr müsst mir versprechen, dass ihr nicht nach mir suchen werdet. Irgendwann kehre ich zu euch zurück, bis dahin müsst ihr einen Sinn finden, etwas anderes als die Straße. Findet euren Weg, euer Schicksal! Und eines Tages, wenn ich diese Arschlöcher hier besiegt habe, werden wir alle wiedervereint und werden für eine große Sache kämpfen, das spüre ich!"

Gänsehaut breitete sich bei den Worten seines Freundes auf Lennox' Körper aus. Aus irgendeinem Grund glaubte er, was dieser sagte.

„Red dir das ruhig ein! Wenn du wirklich so naiv bist, dass du glaubst, dass die zwei die Sache hier überleben, nur zu, mach ihnen Mut vor ihrem Ende!", spottete Ryans Adoptivvater.

„Schwört es!", überging Ryan seinen Vater einfach und sah seine Freunde flehend an.

Noah schluchzte.

„Ich kann dich doch nicht im Stich lassen! Du...du bist doch mein...Bruder!", stieß er weinend hervor und krümmte sich, als hätte ihm jemand einen Dolch in die Brust gerammt.

„Bitte!", flüsterte Ryan und blickte zu Lennox.

„Ryan, vergib uns, aber wir können dir keinen solchen Schwur leisten, wenn das bedeutet, dass wir dich aufgeben müssen. Wir...werden...uns wiedersehen!", mischte sich jetzt auch Lennox ein.

Ihr Angreifer stöhnte genervt, dann schlug er seinen Sohn nochmals mit der Pistole, woraufhin dieser bewusstlos vor Dorchadas zusammenbrach. Der Mann warf ihn sich über die Schulter. Dann verließ er den Raum. Zwei weitere Männer verteilten Benzin und andere warfen Lennox und Noah zu Boden und gingen dann ebenfalls durch eine Tür aus dem Raum, sodass die beiden Straßenjungen alleine zurückblieben. Man hörte ein Geräusch, als würde jemand etwas Schweres verschieben. So schnell es ging, stand Lennox auf und warf sich gegen die geschlossene Tür.

Dann ging alles grauenerregend voran.

Rauch zog durch den Türspalt und im nächsten Moment begann das Benzin zu brennen. Kurze Zeit später stand der ganze Raum in Flammen und Lennox und Noah lagen mittendrin.

„Was machen wir jetzt?", schrie Noah mit tränenüberströmtem Gesicht.

„Ryan hat mir vorhin irgendetwas gegeben, als er die Männer angegriffen hat!"

Mit diesen Worten griff Lennox in seine Hosentasche, was sich mit gefesselten Händen als sehr schwierig herausstellte. Er ergriff den Gegenstand und zog ihn heraus. Es war das Messer, welches Ryan bei ihrer ersten Begegnung bei sich getragen hatte.

Noah hustete und auch bei Lennox machte sich der Rauch bemerkbar. Das Feuer verbreitete eine schreckliche Hitze und kam immer näher. Beinahe kesselte es die beiden Freunde bereits ein. Wenn sie sich nicht beeilten, was das wirklich ihr Ende! Lennox klappte das Taschenmesser auf und schnitt den Kabelbinder durch. Dann robbte er zu Noah und befreite auch diesen von seinen Fesseln.

„Wir müssen aus dem Fenster nach draußen!", gab Lennox hustend bekannt.

„Aber wir sind im ersten Stock!", warf Noah ein, dessen Haare ihm verschwitzt in die Stirn hingen.

Er sah furchtbar aus. Lennox hatte ihn nie zuvor dermaßen am Boden erlebt. Verübeln konnte es ihm niemand. Noah hatte seinen besten Freund, seinen Bruder, verloren. Auch wenn Lennox die Geschichte des Schwarzhaarigen noch nicht kannte, war er ein Teil seiner Familie. Deshalb machte es ihn auch so wütend, seinen Freund zerstört und niedergeschlagen zu sehen. Hoffnungslos.

„Wir haben keine andere Wahl. Das ist unsere einzige Chance!", entgegnete Lennox, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Stimme brach.

Auf allen Vieren krabbelt er zwischen den Flammen her, zu den Fenstern am anderen Ende des Raumes. Noah folgte ihm.

„Wieso haben sie uns eigentlich nicht direkt erschossen?", fragte Lennox.

„Sie wollen, dass es so aussieht, als wäre alles ein Unfall gewesen. So kann ihnen niemand etwas nachweisen.", antwortete Noah verbittert und krabbelte weiter.

Irgendwie schafften sie es bis zum Fenster und Lennox öffnete es. Sie hatten heute zu viel verloren. Aber Dorchadas und seine Männer hatten sie eindeutig unterschätzt! Sie würden sich wiedersehen und dann würden sie triumphieren! Aber zuerst einmal mussten sie dem Feuer entkommen. Allerdings bestand das Problem, dass der Boden bestimmt fünf Meter unter ihnen lag. Etwa zwei Meter vom Fenster entfernt, stand ein großer Baum. Er blickte Noah an, der entschlossen nickte. Zusammen stiegen sie auf die Fensterbank.

Dann sprangen sie.

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