Selbstlosigkeit
Lennox saß draußen, einige Meter von dem Lager entfernt, seine Gitarre in den Händen. Er hatte so lange nicht gespielt, doch es kam ihm dennoch so vertraut vor, wie ein alter Freund, den er endlich wiedergefunden hatte. Sobald die Nacht begann, würden sie Enya und Mark retten! Erst als sie bereits vor dem Lager standen, hatten sie erkannt, dass es besser wäre, würden sie nachts gehen. Sie müssten so oder so etwas Illegales tun, also konnten sie auch gleich unbefugt ins Gebäude eindringen, ansonsten hätten sie wohl kaum eine Chance, weshalb sie in der Dunkelheit losgehen würden.
Sie hatten die ganze Zeit an ihrem Plan gefeilt und bereiteten sich nun zum Aufbruch vor. Lennox ging es wieder gut, er wusste nicht, wieso er so schnell gesund geworden war, aber es war ihm auch egal, solange er jetzt bei Kräften war, um seine Freunde zu retten. Denn obwohl er immernoch nicht viel über sie wusste, so waren sie ihm mittlerweile doch so wichtig, das er unerbittlich um sie kämpfen würde!
Lennox strich über seine Gitarre, dann spielte er. Es war ein langsamen Lied, welches von Sehnsucht und Verzweiflung, aber auch von Hoffnung sprach. Dann begann er leise zu singen. Er verlor sich im Klang der Musik, war für einen Moment so losgelöst, dass er erst wieder seelisch zurückkehrte, als er ein Geräusch hinter sich wahrnahm. Er wirbelte im Aufstehen herum und stand plötzlich den anderen gegenüber, die ihn anstarrten. Luke öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ryan starrte nur, die Hände zu Fäusten geballt und scheinbar um Beherrschung ringend, während Luna vollkommen verzaubert wirkte. Kai und Noah waren sichtlich begeistert.
Bevor jemand etwas sagen konnte, blickte Lennox zum Himmel. Er war nach draußen gegangen, als es gedämmert hatte, weshalb es jetzt schon halbdunkel war.
„Wir sollten los.", sagte er.
Ryan, dessen Reaktion auf seine Musik Lennox nicht ganz verstand, blinzelte und nickte dann.
Nur eine Frage mussten sie noch klären.
„Wer bleibt hier, um das Lager zu bewachen?", fragte Ryan.
Niemand wollte zurückbleiben, sie alle wollten ihren Freunden helfen, aber es wussten auch alle, dass es wichtig war, dass das Lager unentdeckt blieb und ihre Sachen nicht gestohlen wurden.
Luke seufzte.
„Okay, scheinbar hab ich keine Wahl, ihr gebt ja einfach nicht nach! Ich bleibe mit Kai und Noah hier, Luna, Lennox und du rettet sie! Aber dass ihr ja nichts Dummes anstellt, Schwesterchen, du passt auf die beiden Hitzköpfe auf!"
Luna grinste und nickte ihrem Bruder zu. Dann gingen sie los.
Lennox blickte wachsam umher, während sie durch die dunklen Straßen liefen. Ryan ging voran, dahinter waren Luna und Lennox. Sie begegneten nur wenigen Menschen, bis sie am Gebäude des Jugendamts ankamen. Es war hell beleuchtet, hatte kleine Fenster und war wahrscheinlich mal rot, allerdings war die Farbe schon so verblasst, dass es eher braun wirkte. Jetzt ging es los!
Erstmal mussten sie reinkommen, allerdings würde man sie sofort erkennen, stürmten sie einfach durch die Tür, schließlich waren sie alle am Kampf beteiligt gewesen. Aber auch das hatten sie geplant. Jetzt kam der riskante Teil! Sie konnten es nicht schaffen, ungesehen zu Mark und Enya zu gelangen und wieder hinaus, weshalb einer von ihnen einen Einbruch vortäuschen und sich schnappen lassen würde. Das würde Luna übernehmen. Während sie für Aufruhr sorgte, müssten Lennox und Ryan schnell ins Gebäude folgen und die übrigen Beamten überwältigen. Sie würden Handschellen benutzen, die sie allerdings erst suchen mussten. Zweifelsohne hatte das Jugendamt welche, mit denen sie die Beamten Fesseln konnten. Dann mussten Lennox und Ryan Luna folgen, um zu Mark und Enya zu gelangen. Danach war enorme Schnelligkeit gefragt, um alle zu befreien und natürlich stellten diejenigen, welche Luna abführen würden, auch noch ein Problem dar, aber wenn alle erstmal frei waren, konnten sie es schaffen! Trotzdem würden sie ein enormes Risiko eingehen, aber das war es ihnen wert.
„Bereit?", fragte Ryan und blickte Lennox und Luna an, die nickten.
Ihr Wille war unerschütterlich und die Entschlossenheit stärkte sie. Lennox und Ryan pressten sich an die Seitenwand des Gebäudes, um nicht durch die Fenster gesehen werden zu können. Luna schaute noch einmal in ihre Richtung, dann drückte sie ganz sanft die Türklinke nach unten. Um ihrem Auftritt Glaubwürdigkeit zu verleihen, trat sie die bereits offene Tür, welche glücklicherweise nach innen öffnete, sodass diese gegen die Wand krachte. Mehr sah Lennox von ihrer Position aus nicht, doch die lauten Rufe und das Geräusch eines Kampfes genügten, um ihnen zu zeigen, dass ihr Plan aufging. Als sie ein Kreischen hörten, liefen sie los. Denn das war ihr Zeichen, welches sie zuvor vereinbart hatten. Als sie an der offenen Tür ankamen und ins Gebäude blickten, konnten sie nur noch fünf Beamte ausmachen. Der Raum war als eine Art Empfang gedacht, ein brauner Tresen stand rechts von der Tür und links befanden sich Schreibtische, wie in einem Büro. Lennox suchte den Raum nach einem möglichen Lagerplatz für Handschellen ab. Er entdeckte eine halb geöffnete Schublade an einem großen Schreibtisch, in der er etwas Silbernes glänzen sah. Er deutete mit dem Kopf darauf und Ryan nickte. Sie mussten den Kampf leise und schnell beenden, damit niemand aus den anderen Stockwerken sie hören konnte. Und das taten sie. Beide stürmten hinein, Lennox geradewegs zu der Schublade, während Ryan sofort den ersten Mann angriff und zu Boden warf. Lennox warf ihm die Fesseln zu und Ryan kettete ihn an einem Schreibtisch fest. Dann stopfte er ihm einen Lappen in den Mund, der auf dem Tisch gelegen hatte, sodass der Typ nicht schreien konnte. Erst jetzt fiel Lennox auf, dass der Mann der einzige war, der auch beim Kampf im Regen da gewesen war. Die anderen Beamten starrten erschrocken und wehrten sich kaum, als auch sie gefesselt und geknebelt wurden, und bei einem Mann und einer Frau, bei denen Lennox das Gefühl hatte, dass sie wirklich Leuten helfen wollten, tat es ihm sogar leid. Aber es war keine Zeit für Mitleid, sie mussten sich an den Plan halten!
Sie stürmten durch die Türen, fanden jedoch niemanden. Dann gelangten sie an ein Treppenhaus mit einem Aufzug daneben und stiegen die Treppen hinab, um in den Keller zu gelangen.
Die Wände waren weiß und auch hier unten befand sich scheinbar wieder eine Art Büro, allerdings war es eine andere Abteilung, wie die Schilder an den Wänden beschrieben. Die beiden schlichen an den Wänden entlang, um eine Ecke, in einen etwas größeren Raum.
Im hinteren Teil befand sich eine Zelle.
Ryan sog zischend die Luft ein und kurz darauf wusste Lennox, weshalb.
Drei Beamte zerrten Luna zu der Zelle.
Mark hielt Enya im Arm, schlafend und an die Gitterstäbe gelehnt. Er sah erschöpft aus, an seinen Handgelenken klebte getrocknetes Blut und seine Lippe war aufgeplatzt. Enya klammerte sich an ihn, das Gesicht immernoch feucht von Tränen und verängstigt. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, war sie wach.
Lennox zählte acht weitere Beamte. Wenn sie den Schlüssel für die Zelle fanden, konnten sie es schaffen!
„Ich lenke sie ab, du befreist die anderen!", sagte er.
Ryan zögerte kurz, scheinbar wollte er nicht, dass Lennox gegen so viele Gegner auf einmal kämpfte, doch sie hatten keine Wahl, was er einzusehen schien, da er nickte.
Lennox erkannte die Leute wieder und Wut ergriff von ihm Besitz. Sie hatten nicht aufgehört, hatten keine Rücksicht genommen, selbst als Enya bereits geweint und gekreischt hatte. Ihretwegen hatte Ryan sich selbst die Schuld gegeben und der Regen hatte Lennox getroffen!
Er lief los, an einigen Schreibtischen aus dunklem Holz vorbei, auf denen sich vereinzelte Dokumente befanden, dann stürzte er sich mit einem zornigen Brüllen auf den ersten Arbeiter vom Jugendamt. Der große Mann ging fluchend zu Boden und versuchte vergebens Lennox' Schläge abzuwehren. Wie erwartet, kamen ihm die anderen zu Hilfe und kurz darauf kämpfte Lennox gegen acht Gegner auf einmal, alle bereits Bekannte vom Kampf im Regen. Drei fegte er von den Füßen, einem weiteren trat er in den Bauch. Eine Frau fluchte und rief:
„Schnappt sie! Und ruft die Polizei!"
Lennox blickte panisch umher und sah Ryan, der Luna befreite und dann versuchte, einem Mann den Schlüssel für die Zelle abzunehmen. Allerdings musste Lennox bereits im nächsten Moment den Blick abwenden, als ein sehr schwerer Mann ihn von den Füßen riss und auf ihm landete, als Lennox auf dem Boden aufschlug. Er stöhnte beim Aufprall schmerzerfüllt auf und trat wie wild um sich. Lennox' Tritte fanden sein Ziel und der Mann rollte sich fluchend von ihm runter, doch da kam bereits die nächste Person, diesmal eine Frau, die ihm ihren Ellbogen in die Seite rammte. Lennox sprang auf einen der Schreibtische und warf eine Topfpflanze nach ihr, welche ihre Schulter traf. Allerdings hatte er keine Zeit, sich darüber zu freuen, denn plötzlich zog ihm jemand die Beine Weg und er krachte vom Schreibtisch runter, auf den harten Boden. Schnell stand er wieder auf und musterte seine Gegner. Ein etwas kleinerer, braunhaariger Mann hatte ihn vom Tisch gerissen und die Frau, welche einen kurzen blonden Pferdeschwanz hatte, hielt sich die Schulter. Der große Mann grinste ihn hämisch an und die anderen Fünf umzingelten ihn. Lennox konnte nicht einmal über die Schulter blicken, um nach seinen Freunden zu sehen, als sie sich auf ihn stürzten. Er musste an seinen Vater denken, als er nach ihnen schlug und trat, ihn selbst aber immer mehr Angriffe trafen. Er schwankte zwischen Realität und Erinnerung, sah abwechselnd die Gesichter der Beamten und das seines Vaters. Er verpasste irgendwem einen Kinnhaken einem anderen schlug er gegen die Rippen und einem weiteren in den Unterleib.
Jemand kam von hinten, trat Lennox in die Kniekehle, sodass er fluchend zu Boden ging. Sie versuchten, ihn festzuhalten, aber irgendwie schaffte er es, sich zu befreien. Mittlerweile musste er viele Schläge einstecken. Auf einmal schaffte der große Mann es, einen seiner Arme zu packen, die Frau zog einen Elektroschocker, eine weitere, diesmal schwarzhaarig, holte Handschellen aus einer Schublade. Lennox trat nach einem Mann mit rotem Haar und riss sich vom Großen los, doch es waren einfach zu viele.
Er spürte einen harten Schlag gegen seine Rippen, hörte sein eigenes Stöhnen, als weitere Schläge sein Gesicht und Bauch trafen, schmeckte Blut, spürte, dass es aus seiner Nase lief und von seiner aufgeplatzten Lippe. Er erinnerte sich, dass die Braunhaarige erst die Polizei rufen wollte, doch ihm war bewusst, dass sie es nicht getan hatte. Das Jugendamt war keineswegs immer böse, ihres in Lübeck hatte vielen Kindern geholfen, die zuhause misshandelt wurden oder keines hatten. Auch im Erdgeschoss dieses Gebäudes hatte er gute Menschen gesehen, aber diese hier wollten nicht helfen, sie wollten Macht. Sie verstießen gegen das Gesetz, begingen Körperverletzung und Freiheitsberaubung, weshalb sie nicht die Polizei rufen konnten, ohne selbst verhaftet zu werden. Ein Tritt gegen sein Schienbein riss Lennox gleichzeitig aus seinem Gedanken und von den Füßen. Dann spürte er einen stechenden Schmerz und sein ganzer Körper krampfte sich zusammen. Der Elektroschock schoss wie tausend glühender Nadeln durch ihn hindurch und Lennox stieß einen leisen Schrei aus. Er hörte ein Lachen, dann presste jemand seine Hände neben seinem Kopf, auf den Boden, sodass Lennox sich nicht mehr wehren konnte. Seine Beine wurden ebenfalls festgehalten und einer seiner Gegner rammte ihm immer wieder den Ellenbogen in die Rippen. Lennox zischte, schrie Beleidigungen und Flüche, stöhnte, keuchte, wehrte sich wie besessen, aber immer wenn er einen abschüttelte, kam ein Anderer an seine Stelle. Er konnte sich kaum mehr bewegen, alles tat weh und sein Körper zitterte noch immer vom Elektroschock. Ihm wurden die Hände auf dem Rücken verdreht und jemand legte ihm Handschellen an. Er hörte Rauschen und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. In der Ferne nahm er Rufe wahr und erst da fiel ihm auf, dass ihn zuletzt nur noch sechs angegriffen hatten. Er atmete tief ein und sein Blick klärte sich. Er hörte ein Flüstern an seinem Ohr, eine Stimme voller Genugtuung und Hass:
„Du entkommst mir nicht! Du und deine Bande Straßenköter verpestet diese Stadt, aber das ist jetzt vorbei. Denkt wohl, ihr könntet euch einfach nehmen, was ihr wollt, unschuldige Bürger bestehlen und ohne Konsequenzen davonkommen, aber das lasse ich nicht zu. Ihr seid genauso wenig wert, wie der Dreck, in dem ihr lebt!"
Lennox Augen weiteten sich. Dieser Mann war so voller unbegründetem Hass, dass ihm kalt wurde. Zwei Personen packten seine Arme und zwangen ihn in eine sitzende Position. Der Mann, der ihm ins Ohr geflüstert hatte, ragte hoch vor ihm auf, einen Elektroschocker in der linken Hand. Mit der Rechten schlug er auf Lennox ein, der sich wegdrehen wollte, jedoch festgehalten wurde.
Auf einmal ertönte ein Freudenschrei und lautes Fluchen.
Der Mann holte erneut aus, diesmal mit dem Elektroschocker und Lennox kniff die Augen zusammen. Doch plötzlich hörte er ein lautes Geräusch, was ihn dazu veranlasste, sie wieder zu öffnen und er sah... Mark!
Der Mann lag bewusstlos am Boden, Mark stand über ihm und blickte Lennox keuchend an. Dann löste sich auch der Griff von seinen Armen und die Handschellen verschwanden. Lennox kippte zur Seite, aber Ryan fing ihn auf und zog ihn auf die Beine.
„Raus hier, schnell!"
Mark stützte Lennox auf der anderen Seite und gemeinsam stürmten sie in Richtung Treppenhaus, dann ins Erdgeschoss und schließlich nach draußen. Sie liefen weiter, bis sie hinter einer Mauer zum Stehen kamen. Lennox sank zu Boden und Ryan und Mark lehnten ihn sanft gegen die Wand, wobei er dennoch ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
„Es tut mit so leid, ich hätte dich das nicht machen lassen dürfen, du..."
Lennox unterbrach Ryan:
„Nein", sagte er, „wir haben es geschafft! Wir haben sie befreit! Aber wir müssen diese Abteilung vom Jugendamt stoppen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten."
„Danke. Ohne dich wären wir jetzt immernoch dort. Aber bevor wir hier irgendwen aufhalten, wirst du dich erstmal ausruhen, dasselbe gilt für dich, Ryan! Lennox, wir müssen dringend deine Verletzungen versorgen, ich hole Eis aus irgendeinem Laden!", sagte Mark.
Niemand widersprach und gemeinsam schleppten sie sich zurück zum Lager, Lennox durch Mark und Ryan gestützt. Ihr Plan hatte Erfolg, doch das war erst der Anfang!
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