Dämonen
Lennox war langweilig.
Ja, er war verletzt und verspürte immernoch bei jeder Bewegung Schmerzen, doch er konnte nicht nichts tun, außer rumzusitzen, während die anderen arbeiteten. Ryan riskierte mal wieder viel zu viel - okay, das konnte Lennox ihm nach seinen eigenen Aktionen nun wirklich nicht verübeln - Mark verstärkte zusammen mit Enya, Luna und Kai ihren Unterschlupf, indem sie lockere Seile festzogen und aufgefangenes Regenwasser von den Planen entfernten. Noah und Luke begleiteten Ryan, damit er sich nicht in Schwierigkeiten brachte. Die drei wollten die Lage checken, ob immernoch solch eine Aufruhr herrschte. Die Sonne hatte beinahe ihren höchsten Punkt erreicht, also war es wahrscheinlich irgendwann am Mittag. Ihre Aktion in der Nacht hatte viel zu viel Aufmerksamkeit erregt, weshalb sie sich in den nächsten Tagen erstmal von der Innenstadt fernhalten sollten, bis alles etwas ruhiger wurde. Solange er nichts tat, quälten Lennox bloß Erinnerungen an seinen Vater, also war das nicht länger eine Option.
Er krabbelte von seinem Deckenlager runter und aus dem Zelt hinaus, wo er sich hochstemmte, einige Schritte taumelte und dann sicher stand. Auch wenn sein ganzer Körper wehtat, ließ er die Schultern kreisen und ging zu den anderen.
„Hey Leute! Wo bleiben Ryan, Noah und Luke?"
Mark wirbelte herum und stapfte wütend zu ihm.
„DU BIST VERLETZT UND SOLLST DICH AUSRUHEN!", rief er leicht verzweifelt und schmiss die Arme hoch.
„Ach und die anderen müssten gleich wiederkommen.", fügte er hinzu.
„Ich hab mich ausgeruht.", stellte Lennox unnötigerweise fest.
„Ja, vier Stunden.", sagte Luna in ironischem Tonfall.
Lennox zuckte die Schultern. Enya kicherte:
„Unseren Superninja könnt ihr nicht zum Rumsitzen verdammen."
Er grinste bei den Worten des Mädchens. Kai verdrehte die Augen, allerdings mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
„Wie kann ich helfen?", fragte Lennox und deutete auf die Planen.
Kai stöhnte übertrieben laut.
„Wir müssen die Plane da strammer ziehen, damit sich das Regenwasser nicht so leicht darauf sammeln kann.", sagte er.
Lennox nickte und packte eines der Seile, mit denen die Plane über das Zelt gespannt worden war. Mit vereinten Kräften erledigten sie die Arbeit, bis sie eine Stimme hinter sich hörten:
„Wieso überrascht mich das jetzt nicht?"
Lennox und die anderen drehten sich um und Lennox, der die Hände auf die Knie gestützt hatte und versuchte, seine Schmerzen zu verbergen, blickte geradewegs in Ryans Gesicht. Er hatte die Arme verschränkt und sah Lennox streng an. Er starrte ihn förmlich nieder, bis Mark sagte:
„Komm schon, hör auf ihn mit deinen Blicken zu durchbohren, du bist kein Stück besser, Ryan!"
Ryans Blick schoss zu Mark und Noah prustete los.
„Ach, ist das so?", fragte Ryan und sprang blitzschnell zu Mark.
Bevor er reagieren konnte, nahm Ryan Mark in den Schwitzkasten und verstrubbelte seine Haare. Mark wehrte sich vergeblich, doch Ryan war der Stärkere und lachte nur über Marks Befreiungsversuche. Als seine Haare ein einziges Wirrwarr waren, gab Ryan ihn frei und Mark ließ sich gespielt beleidigt auf den Boden fallen und murmelte einige nicht grade jugendfreie Beleidigungen in seine Richtung. Dann kam Ryan zu Lennox und zog ihn am Arm von den anderen weg. Lennox meinte noch ein 'Ui, das gibt Ärger' zu hören, dann fing Ryan auch schon an zu sprechen:
„Du bist wirklich genauso ein Sturkopf, wie ich, Ninja! Also muss ich es dir wohl auf die harte Tour erklären. Wenn du nicht sofort wieder rein gehst und dich nicht wenigstens einen Tag ausruhst, dann schwöre ich, dass ich dich persönlich in dieses Zelt da schleppe und so lange festhalte, bis die Prellungen und Schürfwunden geheilt sind und glaube mir, das willst du nicht, ich kann da nämlich auch ziemlich stur sein! Also wenn du nicht den Wunsch verspürst, dass ich dich wie Mark eben in den Schwitzkasten nehme, in das Zelt bringe und dann auf dir sitzen bleibe, dann solltest du jetzt lieber freiwillig gehen!"
Lennox öffnete den Mund um zu widersprechen, aber Ryan fiel ihm ins Wort:
„Versuch es gar nicht erst!"
In einem echten Kampf konnte er Ryan wahrscheinlich besiegen, auch wenn dieser scheinbar irgendeine Kampfart beherrschte, was Lennox aus den vorherigen Auseinandersetzungen mit Jugendamt und anderen bemerkt hatte, allerdings wollte er seinen Freund nicht verletzen und seine eigenen Schmerzen nicht noch verstärken, weshalb ein Kampf wahrscheinlich keine gute Idee wäre.
Eigentlich war alles war gut, Mark und Enya waren gerettet, die anderen hatten seine Fähigkeiten akzeptiert, hatten ihn akzeptiert. Aber die Dämonen gab es noch immer. Sowohl die von Lennox, als auch jene der anderen. Er wusste, dass Ryan eine harte Vergangenheit hatte und auch, dass es die anderen ebenfalls nicht leicht gehabt hatten. Er selbst wurde auch lange auf die Probe gestellt, gedemütigt, ausgenutzt, angeschrien und geschlagen, aber jetzt hatte er endlich Gleichgesinnte, Freunde, die ihn verstanden.
Er fragte sich immernoch, was Ryan mit der Musik assoziierte. Es gab nur einen Weg es herauszufinden.
„Was hat es mit deiner Beziehungen zur Musik auf sich?", fragte Lennox.
Zuvor hatte Ryan ihm nichts erzählen wollen, aber einen Versuch war es wert. Jetzt schien er zuerst perplex zu sein und nicht zu wissen, was er bei dem plötzlichen Themenumschwung erwidern sollte, dann verdunkelte sich sein Blick etwas und er schüttelte leicht den Kopf, bevor er auf einmal in die Hocke ging und sich die Schnürsenkel neu band. Lennox verstand den Grund nicht, sie waren ja nicht einmal auf gewesen. Doch er sollte es bald erkennen, als er den Kopf kurz in Richtung der anderen drehte und ihn im selben Moment die Beine weggezogen wurden und er noch in der gleichen Sekunde bereits auf dem Boden aufkam. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als sich der Schmerz durch den Aufprall verstärkte. Allerdings ließ ihm Ryan keine Zeit zum Aufstehen, als der Blonde auch schon auf ihn sprang und Lennox ein Keuchen ausstieß, als er sich auf seinen Bauch kniete. Ryan rollte von ihm herunter - immerhin wollte er seinen Freund nicht noch mehr verletzen - und packte Lennox unter den Achseln, um ihn auf die Beine zu hieven. Lennox schaffte es, Ryan ein einziges Mal zu Fall zu bringen, bevor der Anführer ihn wie zuvor Mark in den Schwitzkasten nahm. Während er bei Mark nur eine Hand eingesetzt hatte, benutzte er bei Lennox auch noch die Zweite, um ihn festzuhalten, weil dieser ihn, selbst in verletztem Zustand sonst hätte abschütteln können. Lennox stieß wildes Geschrei und Protestrufe aus, doch er ließ ihn nicht los. Luke, der zur Abwechslung mal vollständig mit Ryan einer Meinung war, musste scheinbar mühevoll ein Lachen unterdrücken. Ryan zog Lennox zum Zelt und ins Innere, wobei er seinen Griff nicht einen winzigen Moment lang lockerte. Drinnen angelangt ließ er Lennox endlich los, allerdings war seine Freude darüber nur von kurzer Dauer, sowie jene, als er Ryan im nächsten Augenblick in den Bauch boxte -nicht fest genug, um ihn zu verletzen, aber so, dass es schon schmerzhaft war - denn kaum dass Lennox wieder auf den Decken und Kissen lag und aufstehen wollte, hielt Ryan ihn fest und legte sich halb auf ihn.
„Siehst du, Ninja, ich halte mein Wort.", flüsterte er Lennox ins Ohr.
Als er einen weiteren Befreiungsversuch startete, konnte er Ryan etwas von sich runter drücken, allerdings auch nicht mehr. Im nächsten Moment stieß Lennox jedoch einen Fluch aus und starrte Ryan an. Sein T-Shirt war durch das Raufen hochgerutscht und entblößte eine groß wirkende Narbe, wie von einer Verbrennung, auf seinem Rücken, die unter dem Stoff verschwand. Er meinte, etwas abseits noch einige dünnere Linien erkennen zu können, aber bevor er sich sicher sein konnte, sprang Ryan dermaßen ruckartig zurück, dass Lennox beinahe zusammengezuckt wären. Der Blonde blickte zu Boden und sein Blick wurde von Schatten verschleiert, vermischt mit Schmerzen, die der Vergangenheit entsprangen.
„Wovon zur Hölle ist das?!", fragte Lennox aufgebracht.
Ryan ballte die Hände zu Fäusten. Mittlerweile waren auch die anderen ins Zelt gekommen und starrten ihren Anführer an, der einen Schritt zurück trat. Er spähte zum Ausgang, dann zu den anderen, danach auf den Boden und schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, sah er Lennox endlich wieder in die Augen.
„Wir halten heute Nachtwache, Lennox. Ich vertraue dir und...und ich bin bereit, meine Dämonen mit dir zu teilen und du kannst deine mit mir teilen, wenn du willst. Ich weiß nur zu gut, dass sie zusammen leichter zu bekämpfen sind. Die anderen kennen meine Geschichte und ich kenne ihre. Also, ob dein Leben für uns wie Himmel oder Hölle erscheint, heute Nacht...in dieser Nacht wirst du Antworten bekommen, auf all deine Fragen. Auch auf den Scheiß mit der Musik. Aber bis dahin kein Wort, ruh dich aus!", sagte Ryan, drehte sich schlagartig um und verließ das Zelt.
Noah ging ihm nach, Luna ebenfalls, doch sie kam nach kurzer Zeit wieder und zuckte nur die Schultern, als Mark sie fragte, wo die beiden hin wären.
Lennox seufzte. Er hatte Ryans Narben nicht zuordnen können, nicht ganz sehen können und die Narben, die seine Seele mit Sicherheit trug, konnte er ebenfalls nicht identifizieren, wusste nur, dass sie da waren. Man konnte äußerlich noch so gut und stark sein, wenn die Seele verwundet wird, wird alles an einem verwundet. Und die Seele heilt bedauerlicherweise langsamer als eine gewöhnliche Wunde.
Da Lennox nicht länger drüber nachdenken wollte, tat er das Unerwartete und versuchte tatsächlich, etwas zu schlafen, da er in der Nacht ja Wachs halten musste. Und es funktionierte. Zur Dämmerung wachte er wieder auf. Es war schon einigermaßen dunkel, also mussten er und Ryan gleich mit der Nachtwache beginnen. Er würde mehr über die Vergangenheit seiner Freunde zu erfahren, war glücklich, dass diese Menschen, welche er noch war nicht lange kannte, ihm genug vertrauten, um ihm ihre Dämonen anzuvertrauen. Und er glaubte, er wäre auch bereit, zumindest Bruchstücke seiner Bestien mit ihnen zu teilen.
Einige Minuten später gingen die anderen schlafen. Im Zelt hatten sie nicht viel Platz, weshalb es ziemlich eng war, doch in kalten Nächten war das bloß von Vorteil.
Lennox ging nach draußen, wo Ryan schon auf ihn wartete. Die beiden setzten sich auf einer Decke ins Gras und eine kleine Lampe spendete ihnen genug Licht, um die Umgebung zu erkennen. Zuerst schwiegen sie, dann seufzte Ryan.
„Ich vertraue dir, Lennox, aber ich will nicht, dass du verschreckt bist, wenn ich dir von meinen Dämonen berichtet habe."
„Mich kann nichts so leicht verschrecken.", antwortete er.
„Das werden wir noch sehen.", murmelte er, mehr zu sich selbst als an Lennox gerichtet.
„Ich wusste nie, woher ich komme und weiß es auch jetzt nicht. Ich wurde als Baby adoptiert, meine richtigen Eltern kenne ich nicht, aber schlimmer als die Menschen, zu denen ich kam, können Sie nicht sein. Ich wuchs also bei einem jungen Paar auf, den Anführern einer Gang, die illegale Geschäfte trieb. Ich interessierte sie zu Beginn wahrscheinlich sogar, aber mit der Zeit weigerte ich mich, ihnen zu helfen. Sie schadeten anderen Menschen, aber vor allem der Natur, dem Meer. Ich lehnte mich gegen sie auf. Wurde aggressiv und rebellisch. Wir wohnten in einem abgelegenen Haus in einem Wald. Das gesamte Grundstück und die Umgebung gehörten meinem Pflegevater. Seine Geschäfte machten ihn ziemlich reich. Um unser Haus herum, befanden sich weitere, bildeten eine augenscheinlich harmlose und normale Siedlung. Man könnte meinen, es wäre eine Gruppe von Menschen, die den schönen Standort im Wald gewählt hatte, um der Umgebung Willen. Aber so war es nicht. Es war ihr Lager, ihre Basis, von der aus sie agierten. Getarnt und gut vernetzt, mit einem kurzen Weg zur Innenstadt, der dennoch lang genug war, dass ihnen niemand in die Quere kam. Als ich mit fünf Jahren das erste Mal in ihre Geschäfte einbezogen wurde, wusste ich noch nicht, dass es falsch war und wollte sie stolz machen. Also half ich und auch in den folgenden Jahren, bis ich zehn wurde. Sie nahmen mich mit auf's Meer um ihre Abfälle loszuwerden. Und ich konnte es nicht ertragen. Meine Pflegeeltern hatten mich zuvor stetig angeschrien und waren teilweise handgreiflich geworden, aber am meisten Wut ließen sie beim Kampftraining an mir aus. Mein Pflegevater begann bereits als ich Vier war, mich zu trainieren. Natürlich waren es damals nur ganz einfache Sachen, aber mit der Zeit wurde es immer anspruchsvoller, bis er mich soweit erzogen hatte, dass er seine Leute gegen mich antreten ließ. Sie kämpften damals nicht direkt mit voller Härte, um mir nicht zu sehr wehzutun. Aber das änderte sich.
Als ich auf dem Schiff war, griff ich zuerst an, als sie den Müll ins Meer kippen wollten. Für gewöhnlich beschränkten sich ihre Geschäfte auf Drogen und Waffen, aber manchmal war auch sowas dabei. Ich konnte es nicht ertragen. Ich liebte das Wasser, hatte immer eine Verbindung gespürt. Ich bin nie wie du umgekippt und krank geworden, sondern konnte schwimmen und das Gefühl des Regens genießen.
Ich verlor den Kampf, als meine Pflegeeltern eingriffen. Sie zwangen mich, zuzusehen, wie sie alles ins Meer entluden. Sie zeigten keine Gnade, behandelten mich für meinen Ungehorsam wie einen Feind. Als wir zurück zur Siedlung kamen, sperrte mein Vater mich ein. Drei Tage lang gab er mir weder Essen, noch Trinken, bis er mich befreite. Sie dachten, ich hätte meine Lektion gelernt, doch ich hatte grade erst angefangen. Ich weigerte mich zunehmend, ihnen zu helfen. Meine Pflegeeltern trainierten mich weiter im Kampf, hetzten mir die anderen auf den Hals. Nur dass sie kein Mitgefühl mehr zeigten. Ich musste schneller werden, stärker, um nicht ihrem Zorn ausgeliefert zu sein. Mit dem zwölften Lebensjahr wurde ich zu einem herzlosen Jungen. Mich kümmerten die Gefühle anderer nicht mehr, meine Emotionen versteckte ich hinter einer Maske. Mit anderen Worten, mit der Zeit wurde ich zu einem Monster. Aber den Zorn konnte ich dennoch spüren. Ich rebellierte gegen meine Pflegeeltern und wünschte mir in machen Momenten einfach nur, normal zu sein. Immer häufiger wurde ich versucht zu bändigen, immer öfter wurde ich bestraft, wenn ich auch nur ein falsches Wort verlor. Hab jetzt kein Mitleid mit mir! Ich habe nie etwas wie Liebe für die Personen empfunden, die meine Pflegeeltern waren. Ich wusste einiges über sie, mein Pflegevater war schon immer...schwierig und brannte förmlich fürs Kämpfen, während meine Mutter die Musik liebte. Sie hatte mal versucht,mir etwas beizubringen, natürlich mit Schmerzen verbunden, was aber dennoch nicht geklappt hat. Meine Pflegeeltern waren meine Ausbilder, meine Kerkermeister, jenes Höllenfeuer, das aus mir ein unzerstörbares Schwert schmieden wollte. Aber manchmal richtet sich eine Waffe gegen einen selbst und man verbrennt sich an der eigenen Hitze. Was ich im nächsten Jahr miterleben musste, weckte in mir die unaufhaltsame Mission, die Dämonen davon abzuhalten noch mehr Seelen zu rauben. Mir war immer bewusst, dass diese Gang ein gefährliches Spiel spielte und es auch selbst für andere waren. Mein Pflegevater nahm mich mit zu einem Treffen. Wir hatten Waffen bei uns, für die ein Käufer sehr viel zahlen wollte. Nun ja, die Situation eskalierte, als der Käufer eine Pistole nahm und... und damit meine Pflegemutter erschoss.
Aber das Schlimmste war, dass ich nicht eine Träne vergießen konnte. Ich stand bloß da, vollkommen erstarrt und dachte an all die schrecklichen Dinge, die sie mir angetan hatte. Keinerlei Regung fand in meinem Inneren statt, außer eine Woge der Wut, auf alles und jeden. Jedoch keine Trauer, keine Freude. Nichts. Die anderen hingegen brüllten, griffen nach ihren Waffen und töteten den Mörder meiner Pflegemutter. Ich hörte nur das Echo der Schüsse, die Schreie meines Pflegevaters, als er neben ihr auf die Knie sank und ihren sterbenden Körper in den Arm nahm. Sie sagte ihm, dass sie ihn liebte, bevor das Licht in ihren Augen erlosch. Mein Pflegevater erwiderte ihre Worte, Tränen strömten über sein Gesicht. Und als ich sah, dass auch ein Monster etwas fühlte, rollte mir eine einzige kleine Träne über die Wange.
Nach diesem Tag war alles anders. Mein Vater, von Rache getrieben, war stets auf der Suche der Verbündeten des Mörders meiner Pflegemutter. Die illegalen Geschäfte liefen weiter und ich wehrte mich immer stärker. Blinde Wut lenkte meinen Vater, als er seinen ganzen Frust immer wieder an mir ausließ. Und als ich irgendwann so gut kämpfen konnte, dass ich ihn öfters besiegte, wurde es noch schlimmer. Ich wurde eingesperrt, gezwungen bei illegalen Geschäften mitzumachen, aber ich ertrug es nicht länger. Ich wollte sie aufhalten. Also begann ich, Beweise zu sammeln. Ich filmte und machte Audios von allem, was illegal war, vom Waffen- und Drogenhandel, von der Umweltverschmutzung und von Dokumenten über vergangene Käufe, einfach alles, was der Gang schaden könnte. Mein Plan war es, die illegale Organisation endgültig zu vernichten, indem ich sie auffliegen ließ. Und am Anfang lief alles gut. Fast ein Jahr lang sammelte ich Informationen. Dann, eines Tages, erwischte mich mein Pflegevater.
Ich hatte mich ins Lager geschlichen, wo sich Drogen und Waffen befanden und die Ware fotografiert. Ich hatte keine Zeit, um zu verschwinden, als auch schon die Tür aufgestoßen wurde und er mit einigen anderen hereinkam. Ich war wie erstarrt. Dann griffen sie an. Sie waren in der Überzahl, ein Kampf wäre aussichtslos und ich musste meinen Plan sofort in die Tat umsetzen. Während des Rennens hängte ich meine Beweise, welche ich extra schon sortiert hatte, an eine E-Mail an, welche an die Polizei adressiert war. Den Text musste ich auch nur kurz einfügen, da ich glücklicherweise auf so eine Situation vorbereitet war, auch wenn ich gehofft hatte, es würde nicht so kommen. Während ich mit einer Hand die E-Mail-Adresse eintippte, musste ich mit der anderen den ersten Angreifer abwehren. Sie hatten mich eingekesselt, die Situation war aussichtslos. Aber noch gab ich die Hoffnung nicht auf. Während die Gang mich schlug und trat und meine Kampfkünste nicht gegen so viele auf einmal ankommen konnten, tippte ich den letzten Buchstaben der Adresse. Dann, als mein Vater mich zu Boden riss, schaffte ich es noch, auf Senden zu drücken, bevor mir jemand das Handy - welches übrigens irgendwann mal gestohlen war und deshalb keine Daten über mich besaß - wegnahm und es zerbrach. Ich wusste nicht, ob die Nachricht angekommen war, aber ich hatte auch keine Möglichkeit, es in dem Moment herauszufinden, als ich verprügelt wurde. Ich wurde festgehalten und als mein Pflegevater auf mich zu kam, hatte ich einfach nur noch Angst. Mein ganzer Körper begann zu zittern und ich wurde nur noch von Instinkten gesteuert. Ich gelangte in einen Rausch, als ich die Männer und Frauen, die mich festhielten, abschüttelte und bewusstlos schlug. Mein Pflegevater hatte mich gelehrt, dass ein Kampf erst dann vorbei war, wenn der Gegner regungslos am Boden lag. Ich fand diese Ansicht einfach nur falsch, aber in jenem Moment war alles verschwommen und ich hatte keinerlei Kontrolle über das, was ich tat. Ich schrie, kämpfte, musste meinem Pflegevater ausweichen, doch als ich mit ihm und einigen anderen erneut zu Boden ging, holte er aus und schlug mir seine Faust ins Gesicht. Ich schrie und hatte verletzt keine Chance mehr, zu entkommen. Als ein weiterer Schlag folgte, packte mich die Dunkelheit.
Ich erwachte im Keller und merkte sofort dass meine Hände und Füße mit Kabelbinder gefesselt waren. Ich war nicht so naiv, noch Hoffnung zu haben, zu glauben, sie würden mir den Verrat an ihnen vergeben.
Nach einigen Stunden hörte ich Geschrei und nahm einen seltsamen Geruch wahr. Ich konnte keine Wörter verstehen oder Stimmen erkennen. Erst als mein Pflegevater den Raum betrat, blutend und mit zornigem Blick, etwas von Polizei und Verhaftung brüllte, mich schließlich als Verräter schimpfte und schlug, wurde mir klar, dass meine Nachricht die Polizei erreicht hatte. Mein Vater legte etwas neben mich in den Raum und ich wollte weg, aber er schloss die Tür und verließ mein Gefängnis. Mit aller Kraft zerrte ich an den Fesseln, doch ich konnte sie nicht lösen. Wer mit Waffen handelte, hatte so wie es aussieht auch häufig irgendwo Sprengstoff gelagert. Mein Pflegevater war psychisch gestört, wollte mich auslöschen. Aber ich wollte ihn nicht gewinnen lassen. Wie er immer sagte, 'Ein Kampf ist aussichtslos, wenn man die Hoffnung verliert, nur wer nicht aufgibt, ist würdig, sich Krieger zu nennen'.
Ich rollte zur Tür und trat dagegen, so fest ich konnte. Die Bombe war kurz davor, hochzugehen. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag rasen, atmete einmal tief durch und trat erneut, mit aller Kraft, die ich besaß, gegen die Tür. Sie brach auf und ich kroch hinaus. Die Bombe began schneller und schneller zu piepen, ein Zeichen dafür, dass sie jeden Moment hochgehen würde. Panik machte sich in mir breit, ich robbte weiter, um die Ecke, als ich einen ohrenbetäubenden Knall hörte. Ich spürte sengende Hitze im Rücken und zog den Kopf ein, rollte mich zu einer Kugel zusammen und flog auf einmal einige Meter durch die Luft. Meine Kleidung fing Feuer und ich brüllte vor Schmerzen. Da nahm ich Stimmen wahr und Kälte legte sich über mich, als jemand das Feuer löschte. Mein seitlicher Rücken tat an einer Stelle unglaublich weh, wo das Feuer die Haut berührt hatte. Ich blickte auf und sah verschwommen das Gesicht eines Polizisten, bevor ich wieder bewusstlos wurde, ein einziger Gedanke im Kopf: Ich hatte es geschafft!
Ich erwachte im Krankenhaus. Als ich realisierte, wo ich war, schoss ich blitzartig aus dem Bett. Zwei Polizisten und ein Arzt waren anwesend, die sofort ihre Köpfe zu mir drehten. Ich bemerkte den Verband, der um meine Hüfte gewickelt war. Die Polizisten wollten mit mir reden, doch zuerst offenbarte der Arzt, dass ich eine Verbrennung hatte, nichts Bedrohliches, was aber trotzdem eine Narbe hinterlassen würde. Diese Narbe hast du vorhin gesehen. Ich machte mir nichts vor, auch wenn ich die Gang letztendlich hatte auffliegen lassen, war ich doch an vielen illegalen Machenschaften beteiligt gewesen. Und noch besser wusste ich, dass sie mich in irgendeine andere Pflegefamilie oder ein Heim stecken würden, wenn ich mich ergab und das wollte ich nicht. Ich hatte kein Vertrauen mehr in dieses System. Und einmal mehr hasste ich meine ehemalige Pflegefamilie dafür, dass sie meine Ansichten von solchen Dingen verdorben hatten. Aber immerhin konnte mich niemand verletzt, wenn ich keine starken Gefühle zeigen konnte, dachte ich zu dem Zeitpunkt. Mittlerweile weiß ich es zum Glück besser. Ich zog meine alten Sachen wieder an, die mir scheinbar ausgezogen wurden, um die Wunden zu versorgen, auch wenn mir das seltsame Blicke von den Leuten im Raum einbrachte. Als die Polizisten mir erzählten, dass sie alle verhaftete hatten, könnte ich es fast nicht glauben. Allerdings war das auch alles, was ich wissen musste. Sie erzählten irgendetwas von weiteren Durchsuchung der Siedlung, was mich dazu veranlasste zu fragen, ob diese auch Nachts stattfanden. Die Polizisten waren zwar etwas verwirrt und einer misstrauisch, dennoch beantworteten sie mir meine Frage. Dann aber wollten sie mich wegbringen, versprachen, dass mein Leben nun besser werden würde. Aber das würde ich nicht zulassen, jetzt wo ich endlich mein Leben selbst in die Hand nehmen konnte! Sie mussten es erkannt haben, denn sie kamen auf mich zu. Es kam zu einem Kampf, als sie mich gewaltsam zum Mitkommen bewegen wollten, stets mit der Ausrede, dass es das Beste für mich wäre. Ich gewann mit Leichtigkeit, das Training meiner Pflegeeltern hatte mit zu einem grausamen Kämpfer gemacht. Dann rannte ich.
Ich schaffte es aus dem Krankenhaus zu kommen und die Polizisten abzuhängen. Ich wollte Osnabrück, wo ich mich zur Zeit befand, schnellstens verlassen. Aber vorher hatte ich noch etwa zu tun, durch meine Wut getrieben. Ich machte mich auf zu meinem alten 'Zuhause', wusste, dass ich dort alles finden würde, was ich brauchte, auch wenn die Polizei den Ort durchsucht und viele Sachen gesichert hatte. Deshalb hatte ich die Polizisten zuvor gefragt, ob ihre Kollegen auch Nachts dort agierten, da ich niemanden verletzen wollte. Als ich ankam und an den Absperrungen vorbei war, fand ich im Lager schnell, was ich suchte. Die Polizei konnte es noch nicht vollständig ausräumen, was ich zu meinem Vorteil nutzte. Denn wir hatten nicht nur Drogen, Waffen, Schießpulver und sowas gelagert, sondern auch Benzin, damit wir nicht immer zum Tanken in die Stadt fahren mussten. Ich nahm mir den ersten Kanister und verteilte den Inhalt im Lager, danach schüttete ich eine Spur zu den Häusern, was ziemlich dauerte, doch der Zorn, die Erinnerung, die in jeder einzelnen Sekunde durch meinen Kopf schossen, verliehen mir die Kraft. Als ich alle Vorräte verbraucht hatte, zog ich mein Feuerzeug aus der Tasche. Ich fühlte eiserne Entschlossenheit, wollte ein Zeichen setzen, dass meine dunkle Vergangenheit endgültig hinter mir lag und jeder Ort, der so voller schmerzhafter Erinnerungen war, in Schutt und Asche lag. Dann entzündete ich es und warf es auf die Benzinspur, die ich erschaffen hatte. Innerhalb von Sekunden fing alles Feuer. Ich blickte auf das Versteck der Gang, die so vielen Menschen - unter anderem auch mir - solch ein Leid zugefügt hatte. Und ich sah es brennen, schaute dabei zu, wie die Flammen die Heimat des Bösen gierig verschlangen. Und in dem Moment fühlte ich mich frei. Ich blieb so lange, bis ich Sirenen hörte, dann rannte ich, weg von der Stadt, weg von meinem alten Leben, mit der Gewissheit, endlich nicht mehr eingesperrt zu sein.
Doch ich war innerlich gebrochen, meine Gefühle noch immer unterdrückt und ohne den Hauch einer Ahnung, was ich machen sollte.
Ich fuhr mit vielen Zügen, bis ich das Gefühl hatte, weit genug von der Stadt entfernt zu sein. Natürlich war die Osnabrück an sich nicht das Problem, im Gegenteil, ich fand die Stadt immer schön. Aber ich brauchte trotzdem einen Ortswechsel. So bin ich nach Bremen gelangt. Ich lebte nun auf der Straße und musste lernen, zurechtzukommen. Und ich schaffte es. Mich gegen andere Straßenkinder zu verteidigen, war aufgrund meiner Kampfkünste eigentlich kein Problem, doch als sie teilweise in der Überzahl waren, bekam auch ich so meine Schwierigkeiten. Dennoch war ich meistens der Sieger.
Nach einem halben Jahr traf ich auf Noah. Ich spürte, dass er anders war und wir merkten, welche Vorteile wir hatten, wenn wir uns verbündeten. Er erzählte mir seine Geschichte und wir wurden zu Brüdern. Dann trafen wir eines Tages auf Enya, Mark und Kai, die wir erst bekämpften. Aber sie wollten einfach nicht aufgeben, besonders die kleine Enya und irgendwie wurden sie schließlich ein Teil von uns. Als letztes stießen Luke und Luna zu uns. Wie genau wir uns alle kennenlernten, ist eine andere Geschichte, aber die Sechs haben irgendwann etwas geschafft, was bereits unmöglich erschien. Sie befreiten meine Gefühle und sie vergaben mir. Denn ich bereute so viel, Situation, in denen ich gern anders gehandelt hätte. Und womit auch immer ich mir das verdient hatte, machten sie mich zu ihrem Anführer und ich lernte zum ersten Mal, was es wirklich hieß, eine Familie und ein Zuhause zu haben."
Er beendete seine Geschichte. Lennox bemerkte, dass Ryan Tränen über die Wangen liefen und auch seine eigenen fühlten sich feucht an. Der Junge sah ihn zögern an und in seinem Blick lagen so viele Gefühle, so viel Zweifel, dass es ihm beinahe das Herz brach. Und dann Tat Lennox etwas, was er ewig nicht mehr getan hatte: Er zog Ryan zu sich heran und nahm ihn in den Arm. Ryan presste sich an ihn und kurze Zeit später kamen auch die anderen, von denen er gedacht hatte, dass sie schliefen, aus dem Zelt und schlossen sich der Umarmung an, drängten sich an Ryan und Lennox. So saßen sie gemeinsam unter dem Sternenhimmel, waren Eins, eine Familie, die nichts und niemand jemals auseinanderreißen konnte.
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